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Mittwoch, 29. Juli 2009
Wellen
Herrliche Sandstrände zieren die Ostküste Gotlands, und sie sind selbst im Hochsommer nicht überlaufen. Schweden haben eine andere Fluchtdistanz als Mittel- und Südeuropäer. 50 Meter von Handtuch zu Handtuch sind hier der Mindestabstand, 100 Meter sieht man lieber zwischen sich und dem nächsten Sonnenbader. Man kann ja auch ein Stück weiterlaufen. Da ist dann fast niemand mehr. Oder man läßt sich irgendwo in den rückwärtigen Dünen nieder, wo man nicht mehr gesehen und gehört wird. Vom Dünenkamm geht der Blick weit auf die Ostsee hinaus, die nächste Küste ist die des Bernsteins und des Baltikums; Kurland. Da paßt die mitgebrachte Urlaubslektüre ganz gut, und der Fahrtenbuchschreiber streckt sich behaglich im sonnenwarmen Sand aus.


“Eleganz des Dialogs” hat man dem Autor bescheinigt, und, ja, es gibt hinreißende Konversationen in seinem Roman eines kurzen Sommers, Wellen, von 1911. Da betrachten zum Beispiel zwei alternde Damen das bunte Treiben der Jugend am Strand, und die eine bemerkt zur anderen: “Ach ja, daß das, was wir in unserer Jugend Hüften nannten, immer mehr abhanden kommt!”
Überhaupt diese alte Generalin und ihre desillusioniert zupackende Lebensweisheit. Als sich ihre Tochter einmal mehr in eifersüchtigem Gejammer ergeht, schneidet sie ihr das Wort ab: “Es ist immer dieselbe Geschichte, wenn ihr heiratet, wollt ihr hübsche Männer haben, aber ein hübscher Mann konserviert sich länger als unsereins, der bringt keine Kinder zur Welt, er schont sich mehr und da dauert die Lust am Kokettieren länger als bei uns. - Die Ehe, meine Liebe, versetzte die Generalin, ist vielleicht sehr heilig, aber unsere Männer sind es nicht.”

So weit ruht alles in seiner “natürlichen Ordnung”; nun wird aber das Sommeridyll der von Butlaers in Eduard von Keyserlings Wellen dadurch gestört, daß in dem kleinen Fischerort auf der Kurischen Nehrung neuerdings eine attraktive Frau lebt, die sich auch einmal nicht heilig verhalten hat, und dieser Faux pas reicht, um eine ganze Romanhandlung in Gang zu halten.
Wenn ich Romane aus “Kaisers Zeiten” lese, beschleicht mich nach einer Weile häufig das Gefühl, den Figuren oder dem Erzähler zurufen zu wollen: Nun kommt mal langsam zum Wesentlichen! Permanent haltet ihr euch beim decorum auf, den gesellschaftlichen Äußerlichkeiten, den Konventionen. Fontanes Gesellschaftsromane führen einem dann vor Augen, wie sehr damals das Äußerliche das Eigentliche, wie hohl die Gesellschaft der Kaiserzeit war. Keyserling wird oft als “baltischer Fontane” etikettiert, und dieses zweifelhafte Lob (ich empfinde es eher als Herabsetzung, wenn man einen Autor dadurch zu loben meint, daß man ihm den Namen eines anderen aufdrückt) hat zumindest insofern seine Berechtigung, als auch Keyserling stark die strenge Etikette der damaligen Kastengesellschaft thematisiert. In Wellen löst schon allein die Frage, wie man denn nun mit jener Frau umgehen soll, falls man ihr womöglich einmal beim Strandspaziergang begegnen sollte, turbulente Hektik aus. Wieder bringt die Generalswitwe die aufgeregte Debatte auf den Punkt. “Die Generalin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: Natürlich, das mußte ja so kommen, du bist jetzt schon auf diese Madame Grill eifersüchtig. Aber, liebe Bella, so ist dein Mann denn doch nicht. Na ja, immer die eine alte Geschichte mit der Gouvernante; die könntest du auch allmählich vergessen. Ab und zu mal im Frühjahr regt sich in ihm noch der Kürassieroffizier, das ist eine Art Heuschnupfen. Aber ihr Frauen bringt durch eure Eifersucht die Männer erst auf unnütze Gedanken. Nein, liebe Bella, wozu ist man, was man ist, wozu hat man seine gesellschaftliche Stellung und seinen alten Namen, wenn man sich vor jeder fortgelaufenen kleinen Frau fürchten sollte. Du bist die Freifrau von Butlaer, nicht wahr, und ich bin die Generalin von Palikow, nun also, das heißt, wir beide sind zwei Festungen, zu denen Leute, die nicht zu uns gehören, keinen Zutritt haben. So, nun wollen wir ruhig schlafen gehen, als gäbe es keine Madame Grill. Wir dekretieren einfach, es gibt keine Madame Grill.”

Es ist ja hinlänglich bekannt, und doch wird mir durch solche Romane immer wieder aufs Neue nachvollziehbar, was für einen Kulturbruch der Erste Weltkrieg und die revolutionären Ansätze des Jahres 1918 bedeuteten. Das davor war Die Welt von Gestern, aber vielleicht doch auch in einem anderen Sinn als dem, den Stefan Zweig darin sah.

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