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Donnerstag, 16. Juli 2009
Söder
”Es gibt kaum eine andere Stadt mit einer so tiefreichenden und lebendigen Schilderung von Plätzen und Milieus, Nahaufnahmen von Ansichten und Alltagsleben, Mentalitäten und Denkweisen, Gepflogenheiten und Ungezogenheiten vergangener Zeiten wie Bellmans Stockholm.” (Göran Hassler)
Ein, zwei Generationen nach dem katastrophalen Zusammenbruch der schwedischen Großmacht im Nordischen Krieg war auch die zuvor so prachtvoll aufgebaute Hauptstadt samt ihren Bewohnern auf den Hund gekommen. Der Professor für Medizin Cederskjöld schrieb in einem Bericht, “die Luft ist mit ungesunden Dünsten sumpfiger Wasserläufe, riesiger Misthaufen und abfallverseuchter Rinnsteine geschwängert. Das Wasser ist verschmutzt und zur Essensbereitung unbrauchbar. Man wäscht unmittelbar neben den Latrinen.” Infektionen, Epidemien waren an der Tagesordnung, von zehn Neugeborenen starben sechs im ersten Lebensjahr. Die überlebenden imprägnierte man früh mit Alkohol. Für die rund 70.000 Einwohner damals gab es mehr als 700 Branntweinkneipen in der Stadt. Ein polnischer Geistlicher, der Stockholm besuchte, hielt entsetzt fest: “Selbst Kinder lassen selten einen Tag verstreichen, ohne sich einen Schluck zu genehmigen.” Armut zwang zur Prostitution in einem heute kaum mehr vorstellbaren Ausmaß. Auf der südlich der Altstadt gelegenen Insel Södermalm entstanden die ersten Arbeiterslums. Unternehmer errichteten dort in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehr als dreißig Seidenwebereien und Spinnereien, in denen schon Fünfjährige beschäftigt wurden. In diesen Barackenslums lebte auch Bellman einige Jahre mit seiner Familie in einem kleinen Steinhaus, das heute sein Museum beherbergt. Movitz

Epistel No. 23 oder ein Soliloquium, da Fredman vor der Kneipe Kriechherein gegenüber dem Bankhaus im Rinnstein lag, in einer Sommernacht des Jahres 1768 (übersetzt von H.C. Artmann)

Ach, liebe Mutter! sag, wer dich sandte
auf meines Vaters Stroh?
Wo mir zuerst mein Lebensfunke entbrannte
Unter dem Plumeau.
Wegen dir trage
Ich Müh und Plage,
Müde wankt mein Schritt.
Du lagst auf dem Rücken,
Heiß vor Entzücken,
Da ich in dich glitt.
Also ward hingerafft
Deine Jungfernschaft.

Pfui all deinen Jungfernschwüren,
Alles Weibertrug!
Pfui jener Stunde
Im Liebesbunde,
Der du dich erfreut!
Pfui deinen Brüsten,
Die du in Lüsten
Schwellend ihm gebeut!
Oder wars an der Wand,
Wo mein Bild entstand?

Hier liege ich im Rinnstein und betrachte
Meine alten Schuh.
Recht zum Entsetzen
Hose in Fetzen,
Hemd schwarz wie Ruß,
Ohne Perücke,
Mit einer Krücke
Für den lahmen Fuß.
Mir läuft die Kleiderlaus,
ist es nicht ein Graus?...

Ich bin ein Heide, Herz, Mund und Kräfte
Preisen nur den Wein.
Arm und versoffen,
Gurgel stets offen,
Das ist meine Welt.
Selbst vor dem Tode:
Zechen was es hält.
Noch in der letzten Stund
Bleibt mein Glas am Mund.


“Söder” hat inzwischen den vielerorts üblichen Weg beschritten: vom Arbeiterstadtteil mit billigen Mietskasernen, in denen auch mittellose Künstler bezahlbaren Wohnraum fanden, über die Bildung von Künstlerzirkeln zur Entstehung eines Milieus, das dann von den Parasiten der Künstler “entdeckt” und zur “Szene” ausgebaut wurde, was den Stadtteil attraktiv machte mit den ebenfalls üblichen Folgen von steigender Nachfrage, zunehmend aufwendiger Renovierung, Bau von neuen Luxusappartments, Ansiedlung gehobener Restaurants, von “in”-Cafés und coolen Lounges, kleinen, schicken Boutiquen, teuren Galerien und Ateliers und aus all dem resultierender allgemeiner Verteuerung von Wohnraum und Lebenshaltungskosten, kurz, Söder ist seit Jahren “in”, wer von dort kommt, trägt den Sticker dezent bohèmeverruchten Stockholmer Stadtadels am Jackenaufschlag.
Natürlich pflegt man an den Rändern einen gewissen Multikulturalismus, der jedoch vor allem das Ziel hat, die kulinarische Palette um exotische Spezialitätenrestaurants zu bereichern und aus der alten Markthalle einen Delikatessentempel zu machen. Aber in Wahrheit ist es wahrscheinlich ganz toll, in Söder zu leben, wenn man nicht so von einer zunehmend misometropolitanen Abwehrhaltung mit anschließendem Fluchtreflex geschädigt ist wie ich.

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