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Dienstag, 9. November 2010
Anschwellender Bocksgesang
Ja, ich benutze die gleiche Überschrift, wie sie einmal ein grotesk mißratener Essay von Botho Strauß im Spiegel (6/1993) trug. Anfänglich beschwor er darin unter schrecklichem Wortgedröhne von “Sippengesetz”, “Volkszugehörigen” und “Blutopfer” einen kommenden Krieg herauf, an dem er besonders Toleranz und Fremdenfreundlichkeit einer, natürlich, der Aufklärung anhängenden, zugleich aber auch “anarchofidelen” 68er-Linken, die angeblich Staat und tonangebende Kultur und öffentliche Moral erobert hätte, die Schuld gab. Dagegen propagierte er dann “Rechts sein” als Auflehnung und zugleich vornehmes Abseitsgehen in ein bewußt angestrebtes Außenseitertum, bevor er schließlich schlapp in vielfach vorgeübter Medienschelte an Telekratie und ihren Moderatoren ausebbte und die Wiedereinführung eines nur dem elitär Abgesonderten vorbehaltenen Begriffs von Kultur propagierte.
Nein, damit hat das folgende nichts zu tun und nichts gemein, es schnürt lediglich noch einmal um die Burg von Mykene, hinaus ins Freie und in die griechischen Wälder der Frühzeit, auf der Suche nach diesem seltsamen, vorübergehend sterblichen Gott der Trunkenheit, des Rauschs und der Ekstase.

Kein Botho-Strauß-Gesang also hier, aber doch ein Titel, den er zwar in Deutschland wohl erstmalig verwendet, auf den er aber keinen Alleinanspruch hat, denn letztlich ist er nichts weiter als die Übersetzung eines altbekannten griechischen Worts: Tragödie (< tragos, Bock + ode, Gesang). Dazu, um lieber die von Strauß gescholtene Seite zu zitieren, Mikis Theodorakis:

Schauen Sie sich das Wort „tragoudi“ an, das griechische Wort für „Lied“. Dieses Wort ist eine direkte Ableitung des Begriffs „tragodia“, der Tragödie also. Was heißt „tragodia“? Ursprünglich bezeichnete das die Oden an den „Bock“, den „tragos“ – womit Dionysos gemeint war, der Gott des Rausches, der Trunkenheit. Eine solche Art von Lied kommt mitten aus dem Volk, und dort bleibt es – heilig, berauschend, immer wiedergeboren. Man kann das Wort „tragoudi“ daher nicht übersetzen... Damit ein Fremder begreift, was das wirklich bedeutet, müsste er sich vorstellen, dass man in Deutschland jeden Tag Goethe, in England vielleicht T.S. Eliot und in Frankreich Paul Eluard singen würde – zu Hause, in der Taverne, bei der Arbeit, in der Schule oder während einer Demonstration.
(Mikis Theodorakis im Gespräch mit Hansgeorg Hermann, 2006. Biografie Mikis Theodorakis – Der Rhythmus der Freiheit, Verlag Neues Leben, Berlin)


Tragödie also, Bocksgesang. Und anschwellend, weil ich möglichst nah zu seinen Quellen zurück möchte, aus denen er sich speiste, und deren anfangs schmale Rinnsale dann immer mächtiger anschwollen. Weit, weit müssen wir dafür zurück, mindestens bis in die Lebenszeit Homers, also ins 8. oder 9. vorchristliche Jahrhundert. Denn es scheint die Zeit zu sein, in der sich die Verehrung des Dionysos überall in Griechenland ausbreitete. Homer hat die mythischen Geschichten um Dionysos jedenfalls gut gekannt, wie Walter F. Otto in seiner Monographie über den Gott nachwies.

Das ganze Altertum hat Dionysos als den Spender des Weines gepriesen. Aber man kannte ihn auch als den Rasenden, dessen Gegenwart die Menschen besessen macht und zur Wildheit, ja zur Blutgier hinreißt. Er war der Vertraute und Genosse der Totengeister. Geheimnisvolle Weihen nannten ihn ihren Meister. Und zu seinem Gottesdienst gehörte das dramatische Spiel, das die Welt um ein Wunder des Geistes bereichert hat.
(Walter F. Otto: Dionysos, 1933)


Ich komme darauf zurück, gehe aber erst einmal weiter zurück in der Zeit. 1939 kam der amerikanische Archäologe Carl Blegen nach Messenien, der südwestlichsten Landschaft der Peloponnes, um nach dem antiken Pylos zu suchen, der Burg des greisen messenischen Königs Nestor aus Ilias und Odyssee. Wie Schliemann in Troja wurde auch Blegen in Pylos fündig. Auf einer strategisch beherrschenden Anhöhe in Sichtweite der Bucht von Navarino stieß er auf Mauerreste einer alten Palastanlage aus dem 13. Jahrhundert v.u.Z., also aus dem Zeitalter des Trojanischen Kriegs. In den Ruinen fand Blegen u.a. rund 600 Tontafeln, die durch einen Palastbrand haltbar geworden waren. Sie waren mit Schriftzeichen beschrieben, und zwar in der gleichen sogenannten Linear-B Silbenschrift, die Arthur Evans in den minoischen Palästen auf Kreta gefunden hatte.



Durch den Krieg wurde eine intensivere Beschäftigung mit diesen Tontafeln verhindert, dann bissen sich die Forscher an der Identifizierung der Sprache, in der die Tafeln beschrieben waren, die Zähne aus bzw. stand ihnen ein Dogma der Fachwissenschaft im Weg, das Dogma der “dunklen Jahrhunderte” eines vermeintlichen Kulturabbruchs zwischen minoisch-mykenischer Blütezeit und den Anfängen der griechischen Kultur erst nach der dorischen Wanderung. Noch 1950 schrieb Helen L. Lorimer, die führende amerikanische Autorität für das homerische Griechenland, in ihrer Abhandlung Homer and the Monuments: “The result is wholly unfavorable to any hope entertained that the language of the inscriptions might be Greek.”
– But they were.
Am 1. Juli 1952 meldete die BBC die Entzifferung der Linear-B-Schrift. Ihr Entschlüssler war kein Mann vom Fach, sondern ein dreißigjähriger englischer Architekt mit Namen Michael Ventris, der während des Krieges in einer Dechiffrierungseinheit gearbeitet und in seiner Jugend einmal einen Vortrag von Knossos-Ausgräber Evans über Linear-B gehört hatte. Was Ventris entschlüsselte, bewies, daß die Menschen, die in Linear-B schrieben, ein frühes Griechisch sprachen, ein halbes Jahrtausend früher als die Wissenschaft postuliert hatte. Nun ließ sich eine Schrifttafel nach der anderen entziffern. Auf einer der Tafeln aus Nestors Palast in Pylos (PY Xa06) fand sich die Silbenfolge:
di-wo-nu-so-jo
die Genitivform von Dionysos.

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