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Dienstag, 16. März 2010
Theopornie oder Ansichten vom Niederrhein II
Meine Güte, was waren das für Zeiten - und was für Zeitgenossen!!
Noch kein Verbrennungsmotor im Einsatz, d.h. kein Dampfschiff, keine Eisenbahn, kein Auto, kein Flugzeug, aber der Sohn eines Dorfpfarrers aus der polnischen Kaschubei bereist mit 10 Jahren Rußland, übersetzt mit 13 Lomonossovs Russische Geschichte ins Englische, von einer Fremdsprache in eine andere also, zieht mal eben von Ostpreußen nach London um und geht mit 17 auf seine erste Weltumsegelung unter keinem Geringeren als Captain Cook.
Als er sich danach in Mainz verständlicherweise mopst, besteigt er wie unsereins ein Schiff der Köln-Düsseldorfer für einen Ausflug rheinabwärts und hat mal eben einen Alexander von Humboldt als Reisegenossen dabei.
Hätte man bei Kaffee & Kuchen auf dem Sonnendeck neben ihnen gesessen und wäre durch den schönen Rheingau getrieben, hätte man hören können, wie sie sich über die ästhetischen Auswirkungen des Weinbaus auf die Landschaft unterhielten:
“Der Weinbau giebt wegen der krüppelhaften Figur der Reben einer jeden Landschaft etwas Kleinliches; die dürren Stöcke, die jetzt von Laub entblößt, und immer steif in Reih' und Glied geordnet sind, bilden eine stachlichte Oberfläche, deren nüchterne Regelmäßigkeit dem Auge nicht wohl thut... ihre Einförmigkeit ermüdet endlich, und wenn gleich die Spuren von künstlichem Anbau an ihrem jähen Gehänge zuweilen einen verwegenen Fleiß verrathen, so erwecken sie doch immer auch die Vorstellung von kindischer Kleinfügigkeit... selbst die Lage der Städtchen, die eingeengt sind zwischen den senkrechten Wänden des Schiefergebirges und dem Bette des furchtbaren Flusses, – furchtbar wird er, wenn er von geschmolzenem Alpenschnee oder von anhaltenden Regengüssen anschwillt – ist melancholisch und schauderhaft.”
Der romantische Blick auf das Rheintal entwickelte sich eben erst einige Jahre später.
Bei einem kurzen Landgang hätten einem neben den beiden ganz schön die Ohren geklungen:
“In Bacharach und Kaub, wo wir ausstiegen und auf einer bedeckten Galerie längs der ganzen Stadtmauer hin an einer Reihe ärmlicher, verfallener Wohnungen fortwanderten, vermehrten die Unthätigkeit und die Armuth der Einwohner das Widrige jenes Eindrucks... Aber auch in ergiebigeren Gegenden bleibt der Weinbauer ein ärgerliches Beispiel von Indolenz und dar aus entspringender Verderbtheit des moralischen Charakters. Der Weinbau beschäftigt ihn nur wenige Tage im Jahr auf eine anstrengende Art; bei dem Jäten, dem Beschneiden der Reben u.s.w. gewöhnt er sich an den Müßiggang, und innerhalb seiner Wände treibt er selten ein Gewerbe, welches ihm ein sicheres Brodt gewähren könnte.”
13 Stunden brauchte das Schiff übrigens damals von Mainz bis Boppard, dessen Gasthäuser im “Forster” auch nicht gerade mit vielen Sternen ausgezeichnet wurden.
Am nächsten Tag wäre uns im Angesicht der Gefängnisfestung Ehrenbreitstein bei Koblenz ein Vortrag über die (gerade erst formulierten) unveräußerlichen Menschenrechte zuteil geworden, und beim Besuch der Herrnhuter in Neuwied stellte Forster einige gerade wieder hochaktuelle moralphilosophische Betrachtungen zum Verhältnis von Körper und Geist und geschlechtlichem Umgang an.

Ich glaube in meiner Erfahrung hinlänglichen Grund zu der Überzeugung zu finden, daß man in der Welt nie stärker gegen das Böse und seine Anfechtungen ist, als wenn man ihm mit offener Stirne und edlem Trotz entgegengeht: wer vor ihm flieht, ist überwunden. Wer steht uns auch dafür, daß, wo der gebundene Wille mit der erkannten Pflicht im Kampfe liegt, die Sünden der Einbildungskraft nicht unheilbarer und zerrüttender seyn können, als die etwanigen Folgen eines gemischten und durch freiwillige Sittsamkeit gezügelten Umgangs! Giebt es nicht wollüstige Ausschweifungen der Seele, welche strafbarer als physische Wollüste sind, da sie den Menschen im wesentlichsten Theile seines Daseyns entnerven? [...] Die Täuschung, womit man sich über den Gegenstand dieser Entzückungen hintergeht, ist so vollkommen, daß die tiefste Tiefe, wohin der menschliche Geist sinken kann, dem Verblendeten die höchste Stufe der Tugend, der Läuterung und der Entwicklung zum seligen Genusse scheint. Genau wie die Entartung des physischen Triebes die Gesetze der Natur beleidigt, eben so muß in einem noch ungleich höheren Grade der Seelenraub strafbar seyn, den man durch jene unnatürliche Vereinigung mit einer Idee, am ganzen Menschengeschlechte begeht. Geistesarmuth ist der gewöhnliche, jedoch von allen gewiß der unzulässigste Vorwand zu dieser Theopornie*, die erst in der Einsamkeit und Heimlichkeit angefangen, und dann ohne Scheu öffentlich fortgesetzt wird. Zuerst ist es Trägheit, hernach Egoismus, was den Einfältigen über die natürlichsten Mittel, seinem Mangel abzuhelfen, irre führt.

Theopornie. Man lernt doch noch immer tolle Wörter dazu. Das Neue Rheinische Conversations-Lexicon oder encyclopädische Handwörterbuch für gebildete Stände von 1834 führt es unter dem Stichwort Mystizismus auf als Ausdruck für "Vergröberungen des reinen Geistesgenusses". Dr. Joh. Christ. Aug. Heyse's Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch oder Handbuch zum Verstehen und Vermeiden der in unserer Sprache gebräuchlichen fremden Ausdrücke (Berlin 1902) erklärt es schon deutlicher als "Hurerei der Gottesdiener".

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