“Es gibt eine Stadt, die Argos heißt, eine staubige, unscheinbare Stadt... Woran soll einer denken, der das Wort Argos hört: an das Haus der Atriden. – An einer gottverlassenen zugigen Straßenkreuzung, auf der aber ein Schild mit der Aufschrift MYKENAE gen Osten weist. An dieser Stelle muß weiland der Zug der argivischen Greise vorbeigekommen sein, der nach der Vorstellung des Aischylos, durch Feuersignale alarmiert, die das Ende des Krieges in Troia verkünden, von Argos aufbrach, um zur Herrscherburg Mykenae zu ziehen.”
(Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra)
Halten wir noch einmal fest: Alle Kunst kommt ursprünglich (wie schön, wie treffend hier dieses Wort der deutschen Sprache) aus dem Kultus, aus dem Dienst an und der Feier von Göttern. Im Fall der Tragödie ist dieser Ursprung noch im Wort lesbar aufbewahrt: griech. tragos ist der Bock, und zwar der Bock des Opfers, das man den Göttern schlachtete, Dionysos vor allem. Kann man sich einen zerrisseneren Gott als Dionysos vorstellen? Eins nur ist an ihm klar: er ist ein Sohn des Zeus. Doch schon wer seine Mutter war, soll ungewiß sein. Damit verkehrten die mythologischen Erzählungen der Griechen die einzige Gewißheit bei einer Geburt in ihr Gegenteil: Nicht pater semper incertus, wie später ein Grundsatz des römischen Rechts lautete, sondern im Fall des Dionysos soll nicht der Vater, vielmehr die Mutter ungewiß sein. Einige antike Quellen nennen Demeter als seine Mutter, andere nennen Dione, Io, Lethe oder Persephone als mögliche Mütter, vor allem aber wird Semele genannt, Tochter des phönizischen Prinzen Kadmos. (Da sie ebenso unter dem Namen Thyone auftaucht, hat man auch ihren Namen Semele auf eine indogermanische Wurzel zurückgeführt: *tuemelah „die Anschwellende“.) Als sie sich, bereits schwanger, Zeus Geilheit versagte, erschlug er sie mit seinem Blitz. Hermes rettete das ungeborene Halbmenschlein, nähte es in Zeus’ Schenkel ein, und der trug es aus. Darum erhielt das Söhnchen den Namen Dionysos, “der zweimal Geborene”. Wenn man so will, ist er auch die Frucht der Entmachtung vorgriechischer Muttergottheiten durch das Patriarchat des olympischen Pantheons.
Kein Wunder, daß der Knabe eine zerrissene Kindheit hatte. Zunächst einmal wurde er gleich nach der Geburt auf Befehl der wieder einmal gekränkten Hera von den Titanen in Stücke gerissen und in einem Kessel gekocht. (Ach so, ich habe zwar manchmal eine rege Phantasie, aber die ganzen Schauergeschichten hier entnehme ich von Ranke-Graves und dem Ausführlichen Lexikon der griechischen und römischen Mythologie.) Seine Großmutter Rhea, Zeus’ Mutter, die Große Göttin des Matriarchats, setzte den Enkel wieder zusammen und ließ ihn aus Gründen der Tarnung von Königin Ino in Orchomenos in Mädchenkleidern aufziehen. (Spätere Identitätskonflikte mit Geschlechterrollen, Transgenderproblematik u. dgl. kamen also auch noch mit in den Kessel seiner Persönlichkeit.)
Nachdem Hera dahintergekommen war und Inos Gemahl mit einem Anfall von Wahnsinn gestraft hatte, in dem er seinen eigenen Sohn mit einem Bock verwechselt und geschlachtet hatte, verwandelte Hermes auf Zeus’ Befehl Dionysos selbst in einen Bock und ließ ihn von Nymphen auf dem Berg Nysa irgendwo im Osten, womöglich sogar in Indien versorgen und (mit Honig) verwöhnen. Dort entdeckte er den Wein, seine bedeutendste Kulturleistung. Dazu von Ranke-Graves:
“Der wichtigste Schlüssel zu den Mysterien des Dionysos ist die Ausbreitung der Weinkultur... Trauben wuchsen wild an der südlichen Küste des Schwarzen Meeres. Von dort breitete sich ihr Anbau zum Berge Nysa in Libyen und über Palästina bis Kreta aus. Über Persien kam er nach Indien... Das kanaanitische Fest des Tabernakels war ursprünglich eine bacchantische Orgie.”
Laut Vergils Georgica opferte man Dionysos einen Ziegenbock (tragos), weil die Ziege durch ihr Knabbern den Weinstock schädigt.Als Dionysos erwachsen wurde, brach das ganze Kuddelmuddel in seinem Innern nach außen – Hera schlug ihn mit Wahnsinn. In seinem Wahn machte er, stets begleitet von einer wilden Horde von Satyrn und Mänaden, die ganze Welt unsicher, aber er verbreitete eben auch sein Rauschgetränk, den Wein, nach Ägypten (Pharos im Nildelta, der größte Hafen der Bronzezeit, spielte wahrscheinlich die Rolle des Verteilers bei der Verbreitung des Weins), nach Indien und nach Thrakien, wo Dionysos allerdings vom König der Edoner vernichtend geschlagen wurde. Wieder griff Oma Rhea rettend zugunsten des Enkels ein, schlug ihrerseits den König Lykurgos mit Wahnsinn, so daß der die Axt an einen vermeintlichen Weinstock legte, der allerdings sein eigener Sohn Dryas (“Eiche”) war. Darauf konnte der Weingott Dionysos Thrakien und Böotien erobern, wo der Überlieferung nach die ersten geheimen Feiern ihm zu Ehren, die Dionysien, gestiftet wurden, die trotz ihres wüst orgiastischen Charakters bereits eine zivilisiertere Nachfolgeform noch älterer Orgien mit Kiefernbier gewesen sein sollen (weshalb das Insignium des Gottes und seiner Mänaden, der Thyrsosstab, auch noch von einem Kiefernzapfen bekrönt wurde).
Pentheus, der Herrscher von Theben, war ein entschiedener Gegner von “Weibergeschrei und weinbetrunkener Tobsucht” (Ovid) und stieg selbst auf den Kithäron, wo die Mänaden ihre Party feierten. Als sie ihn, wohl schon ziemlich duhn, entdeckten, rissen ihn seine Tanten in Stücke und die eigene Mutter riss ihm den Kopf ab. Über den armen, vom Gott übelst gefoppten Pentheus (unter anderem ließ er ihn sein eigenes Kindheitstrauma wiederholen, nämlich in Mädchenkleidern herumzulaufen) hat Euripides kurz vor seinem Tod im makedonischen Pella die letzte und sehr resignative Tragödie seines Lebens geschrieben.
Als Pentheus gegen die jegliches Gesetz mißachtenden Ausschweifungen der von Dionysos berauschten Mänaden vorgehen will, läßt Euripides den gleich ihm hochbetagten Großvater Kadmos sagen:
Mein Sohn, der Seher hat dich gut belehrt:
O bleibe bei uns, bleibe im Gesetz!
Wenn dieser auch kein Gott ist, wie du sagst,
Verkünd ihn dennoch, lüge, daß er’s ist!
Komm, leibhaftige Rache...
durchschneide die Kehle
dem Mann ohne Gott,
dem Mann ohne Brauch,
dem Mann ohne Recht...
der mit frevelndem Mute...
aufsteht in trotzigem Wahnsinn,
unüberwindliche Macht befehdet...
Was ist größer,
als fromm sein Leben verbringen,
Tage und Nächte
in schuldlosem Frieden,
Rechtloses meiden,
Götter verehren?
Damit stehen wir nach einem langen Umweg schon wieder hier, vor dem Eingangstor von Mykene. Perseus nämlich soll die Stadt gegründet haben, nachdem er, durstig von einer Wanderung, an diesem Ort Wasser im Hut eines Pilzes fand.
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