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Freitag, 29. Juli 2011
Nachlese und ein Nachgedanke zu den Anschlägen in Norwegen
Eine Woche nach den Anschlägen in Norwegen ist die internationale Öffentlichkeit noch immer mit der Spuren- und Motivsuche beschäftigt. Wie betriebsblind und schablonenhaft sie dabei vorgegangen ist, bringt heute ein Beitrag von Christian Schlüter in der Frankfurter Rundschau bündig auf den Punkt:

“Wie sehr das „Feindbild Islam“ zum Lückenbüßer für die allgemeine Ahnungslosigkeit geworden ist, führte das öffentlich-rechtliche Fernsehen am Freitag vor [...] ARD und ZDF, aber nicht nur ihnen, kommt das fragwürdige journalistische Verdienst zu, ihre Zuschauer anstatt aufzuklären, regelrecht dümmer gemacht zu haben. Das Bedürfnis nach Sinnstiftung zu befriedigen ist verlockend, es verspricht Quote und Auflage.
Dabei ist das Muster dieser Sinnstiftung immer wieder dasselbe, es geht um die Konstruktion eines Feindbildes, einer Gefahr, die von Außen kommt und mit „uns“ möglichst nichts zu tun hat. Es geht also um Ausgrenzung, und die sah im Falle des norwegischen Attentäters so aus: Erst galt er als Islamist; dann als Rechtsradikaler, wobei er allerdings einer entsprechenden Gruppierung nicht richtig zuzuordnen war; auch ein christlicher Fundamentalist sollte er gewesen sein, aber das „christlich“ schien offenbar zu unheimlich, da zu nahe, und verschwand also wieder; und am Schluss blieb ein irgendwie wahnsinniger Einzeltäter, ein Sonderling, möglicherweise mit einer erheblichen Persönlichkeitsstörung, ein Psychopath. Weiter ließ sich Anders Behring Breivik wohl nicht aus unserer Mitte wegdefinieren.”

Zu wiederholtem Mal wird hier darauf hingewiesen, daß der Täter nicht von irgendeinem abgedrehten Rand, sondern aus unserer Mitte kommt. Die Täter sind mitten unter uns. Man hält sie nur für unauffällig, weil unsere Behörden und viele von uns weggucken. Das gilt von dem neonazistischen Wehrsportler, der 1980 auf dem Münchener Oktoberfest 13 Menschen in die Luft sprengte, über den Bombenleger von Oklahoma 1995, die schwedischen Rechstradikalen, die 1999 einen Gewerkschaftler auf offener Straße hinrichteten, und die Amokläufer von Erfurt und Winnenden bis zu Anders Breivik. Ihn jetzt zum Psychopathen zu erklären, machte nicht nur ihn schuldunfähig, sondern auch uns. Diese gewaltbereiten Attentäter allesamt zu Außenseitern zu erklären, ist falsch und irreführend. Es ist keine Erklärung, sondern eine Entlastung, um uns selbst nicht für zuständig und verantwortlich erklären zu müssen. Der Grund, aus dem diese Gewalttäter erwachsen, liegt nicht außerhalb, sondern in unserer Gesellschaft.

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Montag, 25. Juli 2011
Zum Massaker in Norwegen



Akte der Barbarei ereigneten sich vor dem Wochenende auch in Norwegen:

• Gegen 15.30h explodierte in der Grubbegata im Stadt- und Regierungszentrum von Oslo eine gewaltige Autobombe. Sie ließ im Umkreis von einem Kilometer Scheiben aus den Häusern fliegen und beschädigte vor allem das Regierungsgebäude, in dem sich das Büro des norwegischen Ministerpräsidenten befindet. Mindestens 8 Menschen wurden durch die Wucht der Detonation in dem Gebäude getötet. Dutzende andere wurden z.T. lebensgefährlich verletzt.
Angebliche Sachverständige äußerten sehr schnell den Verdacht, der Anschlag sei von einer “islamistischen Terrorgruppe” verübt worden. Damit taten sie genau das, worauf es der Attentäter angelegt und womit er kalkuliert hatte.

• Während sich die Rauch- und Staubwolke über der Innenstadt noch legte, flimmerte eine neue Meldung über die Livebilder des norwegischen Fernsehens: Auf einer 40km von Oslo entfernten kleinen Insel in einem See habe es in einem Sommerlager der norwegischen Jungsozialisten eine Schießerei gegeben. Dann hieß es, ein als Polizist uniformierter Mann sei auf die Insel gekommen, habe gesagt, Erklärungen zum Anschlag in Oslo geben zu wollen und dann aus einem Schnellfeuergewehr auf die versammelten Kinder das Feuer eröffnet. Erst sollte es dabei 2-3 Tote gegeben haben, dann 10. Bis heute zählt die Polizei 68 Getötete! 66 weitere liegen mit Schußverletzungen in Krankenhäusern. Ein Massaker an Kindern und Jugendlichen im anscheinend so friedlichen Norwegen. Die größte Katastrophe, die das Land seit dem Zweiten Weltkrieg getroffen hat.
Drei Stunden nach Beginn der Anschläge ergab sich der mutmaßliche Täter in schußsicherer Weste der Polizei. Wie die norwegischen Medien immer wieder betonten, war der Mann groß, blond, blauäugig.

Ein Norweger mit Namen Anders Behring Breivik, 32 Jahre alt, seit kurzem angeblich Betreiber eines Gemüseanbaus bei Oslo. Unter dieser Tarnung hatte er unauffällig sechs Tonnen (!) Kunstdünger gekauft. Kunstdünger enthält Ammoniumnitrat. Versetzt mit Dieselöl bildet es hochexplosiven Sprengstoff. Seit der Auswertung der Aufnahmen von Überwachungskameras in der Grubbegata geht die Polizei davon aus, daß der Attentäter dort und der Massenmörder auf der Ferieninsel Utøya ein und derselbe sind: Anders B. Breivik.

Viel ist über ihn bislang noch nicht bekannt. In den beiden letzten Jahren schrieb er mehrfach Beiträge in Internetforen, in denen er sich u.a. über einen “Völkermord” der Schwarzen an Weißen im südlichen Afrika äußerte und immer wieder gegen Multikulturalismus als “kulturellen Marxismus” und “anti-europäische Haßideologie” polemisierte. Vor wenigen Wochen eröffnete er eine eigene Facebookseite, auf der er sich unter anderem als Freimaurer präsentierte (Johannes-Loge “Søilene”), seine Einstellung als “christlich” und “konservativ” bezeichnete.
Eine Stunde, bevor die Bombe im Regierungsviertel explodierte, verschickte Breivik per Email unter der anglisierten Form seines Namens, Andrew Berwick, an ausgewählte Adressaten der rechten Szene in Finnland ein 1500 Seiten umfassendes Manifest. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß Teile davon bis in die Fußnoten hinein nichts anderes als eine Abschrift des Manifests des berüchtigten Una-Bombers Kaczinsky aus den USA sind. Lediglich dessen Feindbegriff “Leftist” hat Breivik durch “Cultural Marxist” ersetzt. Die Instant-Video-Version davon (ebenfalls im Internet, habe sie mir angesehen) enthält krudeste Propaganda im Stil von “die UNO wird bereits heute von Moslems kontrolliert” und die Staaten Westeuropas sind “kulturmarxistische Diktaturen”. Im übrigen geht daraus hervor, dass er sich auf seine Attentate seit neun Jahren minutiös vorbereitet hat. Er machte Sprengstoffversuche, versteckte vor einem Jahr schon die Polizeiuniform, trainierte Gewehr- und Pistolenschießen und fraß seit einem halben Jahr Anabolika, um mehr Muskelmasse aufzubauen.
Was der nationalkonservative Christ Breivik dann am Freitag auf der Jugendinsel Utøya verübte, beschreibt die 18-jährige Prableen Kaur in ihrem Blog:


“Als die Panik ausbrach, stand ich im Hauptgang. Ich hörte Schüsse. Ich sah ihn schießen. Mein erster Gedanke war: ‘Wieso schießt die Polizei auf uns? Scheiße!” Ich rannte in den kleinen Saal. Auch andere rannten. Schreie. Ich hatte Angst. Ich schaffte es in einen der hinteren Räume. Wir waren viele da drin. Alle lagen wir auf dem Boden. Wir hörten weitere Schüsse. Bekamen noch mehr Angst. Ich weinte. Ich begriff gar nichts... Wir hörten immer mehr Schüsse und beschlossen, aus dem Fenster zu springen. Panik brach aus. Alle drängten ans Fenster und wollten rausspringen... Wir liefen in den Wald. Ich blickte mich um. Ist er hier? Schießt er auf mich? Sieht er mich...? Ich suchte Deckung hinter einer Art Mauer. Wir waren viele. Ich betete. Ich rief meine Mutter an und sagte, wir würden uns vielleicht nie wiedersehen, aber ich würde alles versuchen, um durchzukommen. Ich hörte die Angst in ihrer Stimme. Sie weinte. Das tat weh. Papa schickte ich eine SMS... Wir hörten wieder Schüsse. Kauerten uns zusammen. Taten alles, um uns warm zu halten... Papa rief an... Auch die anderen riefen ihre Eltern an, aber dann schickten wir nur noch SMS, weil wir Angst hatten, der Mörder könnte uns hören... Manche sprangen ins Wasser und schwammen weg. Ich blieb liegen. Ich beschloß, mich totzustellen, wenn er kommen sollte. Ich wollte nicht weglaufen oder schwimmen. Ich kann die Angst, die ich fühlte, nicht beschreiben.
Ein Mann kam. ‘Ich bin von der Polizei.’ Ich blieb liegen. Jemand schrie, er solle sich ausweisen. Ich weiß nicht mehr, was er geantwortet hat, aber er begann zu schießen. Dann lud er nach. Schoß weiter. Ich dachte: Das war’s. Er ist hier. Er knallt mich ab. Jetzt sterbe ich. Menschen schrieen. Ich hörte, wie andere erschossen wurden. Andere sprangen ins Wasser. Ich lag da. Das Handy in der Hand. Ich lag auf den Beinen eines Mädchens. Zwei andere lagen auf meinen Beinen. SMS gingen ein. Das Handy klingelte mehrmals. Ich blieb liegen. Ich stellte mich tot. So lag ich wenigstens eine Stunde lang. Es war ganz still. Ich drehte vorsichtig den Kopf, um zu sehen, ob es noch Überlebende gab. Ich sah Leichen. Ich sah Blut. Angst. Ich beschloß, aufzustehen. Ich hatte auf Leichen gelegen. Zwei Tote lagen auf mir.”


Anderthalb Stunden lang schoß Breivik auf der Insel systematisch auf alles, was sich bewegte, und “erlegte” dabei mit kaltblütiger Präzision mindestens 68 junge Menschen, die 8 Bombenopfer in Oslo nicht mitgezählt. (Noch sucht die Polizei in den Gebäuden und im Wasser nach Vermißten.) Um mit jedem Schuß möglichst großen Schaden anzurichten, verwendete er nach Aussage eines die Opfer operierenden Arztes sogar Dumdum-Geschosse.
Zur Stunde ist noch unklar, ob Breivik beide Anschläge allein verübte. Einige der Überlebenden von Utøya sprachen in ihren Aussagen von zwei Männern.

Natürlich setzt jetzt, nachdem die erste Schockstarre nachläßt, das Fragen nach den Motiven des grausamen Schlächters ein. Daß “der Einschnitt, den Nordeuropa am Freitag Nachmittag erlebte, ein besonders krasser” ist, so Matthias Hannemann heute in der FAZ, “liegt nicht zuletzt am Selbstverständnis der nordischen Wohlfahrtsstaaten, am Selbstbild eines Landes wie Norwegen zumal, das sich dem politischen, dem finanziellen und dem gesellschaftlichen Glück so nah fühlt wie kaum ein anderes Land in der Welt. Utopia, das ist Norwegen - ein Raum, in dem das Böse nichts mehr zu suchen hat, seitdem die Besatzer 1945 gingen. Die perfekte, von Mutter Staat liebevoll beschützte Gesellschaft. Das war Norwegen, vielleicht.
‘Es ist typisch Norwegisch, gut zu sein’. – Umso irritierender dürfte die Vorstellung sein, dass das „Böse“ am Freitag nicht von außen in die Idylle einbrach, sondern im Norden selbst entstehen konnte. [...] Jeder Versuch, Breivik als faschistoiden Rechtsextremen oder christlichen Fundamentalisten zu beschreiben, ist nicht mehr als ein hilfloser Reflex [...] Womöglich kam dieser Mann einfach aus der Mitte.”

Hannemann stützt sich für diese nicht undelikate Vermutung auf ein Gespräch mit dem Philosophen Lars Gule an der Høgskolen i Oslo, das die konservative Tageszeitung Aftenposten am Samstag abdruckte. Gule beobachtet das rechte Spektrum in Norwegen seit Jahren und hat selbst mit Breivik auf einer norwegischen Internetplattform debattiert. Er charakterisiert ihn in Schlagworten als “belesenen, theoretisch interessierten, vor allem aber islamophoben Nationalchauvinisten”.
“Er ist nationalkonservativ, aber kein Nazi [...] Er hat sich in seinen Beiträgen im Netz selbst von den Nazis distanziert und erklärt, Nationalsozialisten seien genauso wie Moslems und Marxisten Anhänger einer Haßideologie.”
Dass man Breivik jetzt rasch in ein “rechtsextremes Milieu” einsortiert, hält Gule für ein voreiliges Abschieben.

“Wenn man mit ‘Milieu’ meint, daß Breivik in Internetforen diskutiert und geschrieben hat, in denen er Gleichgesinnte fand, dann muß man feststellen, daß es in Norwegen ein bedeutendes – und ich unterstreiche bedeutendes – rechtsextremes Milieu gibt.”

Allein die Plattform document.no, in der Breivik schrieb und die vornehmlich dem rechten Spektrum zugeordnet wird, habe wöchentlich bis zu 40.000 Besucher, und Gule gibt zu bedenken, daß der Ton in solchen Foren durchaus zur “Entmenschlichung” des vermeintlichen Gegners, des Anderen beitrage.

Der norwegische Journalist Øyvind Strømmen, der diese Szene nach eigenen Aussagen seit Jahren beobachtet und ein Buch über “Eurofaschismus. Die Renaissance des Hasses” veröffentlicht hat, äußert sich in einem ebenfalls in Aftenposten gedruckten Artikel in ähnlicher Richtung. Auch er weist die voreilige Abstempelung Breiviks zum Neonazi zurück. Ihm erscheint der Werdegang des Attentäters “eher als ein klassischer Fall von Radikalisierung durch das Internet, wie man sie auch bei anderen jungen euroäischen Dschihadisten beobachtet hat.”
“Breivik war von einem Internetmilieu inspiriert, das sich ‘counterjihadist’ nennt und eine Ideologie verficht, die man sehr wohl als rechtsextrem bezeichnen kann, und das Verbindungen zum europäischen Neofaschismus unterhält.”
Dass er sich in diesem Milieu bedient hat, schrieb Breivik selbst in seinen Forumsbeiträgen und nennt als seine Anreger untereinander vernetzte Blogs wie Gates of Vienna (das als Fanal die Verteidigung des Abendlands vor den Türken 1683 vor den Toren Wiens hochhält), The Brussels Journals (“The Voice of Conservatism in Europe”), den auch darin schreibenden anonymen norwegischen Blogger “Fjordman”, den amerikanischen Gründer von Jihad Watch, Robert Spencer, und Schriften der ägyptischen Jüdin Gisèle Littman, die 2005 unter dem Pseudonym Bat Ye'or das Buch Eurabia: The Euro-Arab Axis veröffentlichte, in dem sie eifrig Belege für eine internationale Verschwörung zugunsten einer Unterwerfung Europas unter den Islam versammelt. (In seinem Manifest verwendet Breivik für das seiner Meinung nach längst islamisch unterwanderte Europa immer wieder den Begriff “Eurabia”.)
In einem Beitrag für die bekannteste norwegische Kulturzeitschrift, Samtiden, schrieb Strømmen 2007:

“In den Medien und bei den Politikern ist der Fokus auf islamistischen Terrorismus immer einäugiger geworden [... Doch] Erklärungsmodelle, die muslimische Terroristen zu etwas grundlegend anderem machen als ‘unsere eigenen Terroristen’, erschweren es, ihn zu bekämpfen: die Übereinstimmungen zwischen rechtsextremen und islamistischen Terroristen sind viel größer als die Unterschiede.”

Heute setzt er hinzu: “Das nächste Mal, wenn ich wieder einmal jemanden das alte Mantra leiern höre ‘Nicht alle Moslems sind Terroristen, aber alle Terroristen sind Moslems’, rege ich mich richtig auf.”

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Samstag, 20. Juni 2009
Schönheitsfehler
auf dem Dach der Oper

Imponierend ist die Architektur dieses Opernhauses, ja. Auch imposant, wenn nicht gar einschüchternd. Jedenfalls werden Menschen vor diesem Bauwerk zu Zwergpinguinen auf einem künstlichen Eisberg. (Wenn es auf den Bildern nach schnödem Beton aussehen sollte, liegt das an den Unzulänglichkeiten meiner digitalen Fotoausrüstung, Herr Schmerles. Daß es sich beim Baumaterial des Osloer Opernhauses tatsächlich um Carraramarmor handelt, ist mittlerweile sogar wikipediakundig.) Sollte es womöglich ein Ausdruck neuer Großkotzigkeit der neureichen Ölscheichs am Oslofjord sein? “Nachholende Kulturnationenbildung” hat es ein Feuilletonist der FAZ wohlwollend und zugleich ein kleines Bißchen herablassend genannt.

Die Verwendung des Marmors war übrigens von Anfang an umstritten. Nationalbewußte Norweger wollten lieber einheimischen Granit verbaut sehen. Doch die Architekten von Snøhetta, die zuvor bereits die norwegische Botschaft in Berlin und die neue Bibliothek von Alexandria gebaut hatten, ließen sich auch von Geologeneinwänden nicht beirren. Die Quittung folgt jetzt auf dem Fuß: Schon vor der Eröffnung des Prachtbaus traten an einigen der zuvor blendend weißen Marmorplatten bereits zahnbelaggelbe Verfärbungen auf. Angeblich unerklärlich, bekundeten die Erbauer ihre Unwissenheit. "Marmor ist ein weiches Material", klärte sie der norwegische Geologe Finn Erik Skaar in der Zeitung Aftenposten auf. "In seine Poren dringt Wasser ein, und Frost setzt dann einen Verwitterungsprozeß in Gang. Die Oper steht an einem Verkehrsknotenpunkt mit hohem CO2-Ausstoß. Verbindet sich das Kohlendioxyd mit Wasser entsteht Kohlensäure, die den Marmor angreift."
"Die Architekten hatten die Vision eines leuchtend weißen Bauwerks", resümiert Stadtantiquar Truls Aslaksby, "aber der Marmor wird durch unser Klima und die Großstadtluft zerstört, und später wird das einmal gräßlich aussehen."

Noch aber strahlt die Fassade wie frisches Gletschereis. Hier noch Aufnahmen aus dem makellosen Inneren. Die Wände zur Garderobe, gestaltet von dem isländischen Künstler Ólafur Elíasson.

Oslo, Oper, Interieur

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Donnerstag, 18. Juni 2009
Mit großer Geste hingeworfen: Oslos Oper
Kommt man von einem Gang durch die Stille hamsunscher Wälder zurück, ist es ohrenbetäubend, welchen Lärm eine Versammlung von nur zehn Dutzend Menschen im Gespräch entwickelt. In 31 Sprachen.
Später dann Oslo, Café Bacchus an der Domkirche. Flieder duftet noch in voller Blüte, es schneit weißrosa Kastanienblüten. Unter den Mittagsgästen auf dem Domhof mindestens vier sichtlich Schwangere und etliche junge Mütter. Reiches Norwegen!


Sein neuer Reichtum ist natürlich auch an den Preisen abzulesen: laut Economist hat es endlich den zweifelhaften Spitzenplatz errungen, jetzt die teuerste Stadt der Welt zu sein. Die Spitze des Eisbergs, sozusagen, wird sichtbar an seinem neuen, im letzten Jahr eröffneten Opernhaus. Dessen große weiße Flächen, schräge Rampen und spitze Winkel scheinen mir einiges mit der Ästhetik der Luxusjachten eines Roman Abramowitsch gemein zu haben. Oder mit Caspar David Friedrich. Jawohl. Mit seinem Eismeer-Bild. Der 500-Millionen-Euro Bau (geringfügig teurer als das Kanzleramt in Berlin) steigt nämlich wie ein pyramidenhaft sich türmendes Gebirge aus (carrara-)marmornen Eisplatten aus dem im Kontrast dazu sehr dunkel wirkenden Oslofjord. Jeder einzelne der insgesamt verbauten 36.000 Marmorblöcke soll vorher im Architektenbüro Snøhetta (Schneekäppchen) am Computer entworfen, berechnet und dann in Carrara maßgenau aus dem Steinbruch geschnitten worden sein.

Oper

Oper

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Dienstag, 18. November 2008
Gulating Fortsetzung

Die Gründe liegen so nah, wie es nur geht. Zunächst einmal war das Thing von Gulen dasjenige, das Island damals tatsächlich am nächsten lag. Der Bezirk Gulen, südlich der Mündung des Sognefjords, ist so ziemlich die westlichste Gegend Norwegens, und die meisten frühen Auswanderer nach Island kamen aus dem Westen Norwegens. Zweitens scheint das Recht in diesem Thingbezirk umfassender, besser oder weitgehender als in anderen Thingversammlungen formuliert gewesen zu sein, denn als die norwegischen Könige später ein landeseinheitliches Gesetzbuch zusammenstellen ließen, bildete wiederum das Gulathingsrecht die Grundlage. Außerdem gab es für Úlfljótur einen ganz persönlichen Grund. Da er von Ari als austrænn (“aus dem Osten”) bezeichnet wird, kam er selbst aus Norwegen (und nicht etwa von den britischen Inseln, dem zweiten Herkunftsgebiet von Einwanderern nach Island). Schlägt man in der zweiten wichtigen Quelle zur Besiedlung Islands, der Landnámabók, nach, dann erfährt man dort, daß Úlfljótur mit dem weisen Þorleifur, der maßgeblich an den Gulathingsgesetzen beteiligt war, verwandt, genauer gesagt sein Neffe war. Weiter erfährt man, daß Úlfljótur einem anderen Siedler im südöstlichsten Teil der Insel sein Land abkaufte. Vielleicht gehörte er gar nicht zu den “Landnehmern” der ersten Generation. Aber vermögend, klug, aus guter Familie und dementsprechend angesehen muß er gewesen sein, denn sonst hätten die Siedler, die sich Recht und Gesetz geben wollten, kaum ausgerechnet ihn zu diesem Zweck in die alte Heimat zurückgesandt.
Wann? Als Island “weithin besiedelt war”. Ein Kapitel später schreibt Ari, die Insel sei sechzig Winter nach ihrer Entdeckung (um 870) albyggt, vollständig besiedelt gewesen. Ein paar Jahre vorher muß die Reise Úlfljóturs also stattgefunden haben. Vielleicht um 925. Denn nachdem er wieder zurück war, schreibt Ari der Gelehrte (inn fróði) weiter, habe Úlfljótur seinen Ziehbruder Grímr auf eine Erkundungsreise rund um die Insel geschickt. Vielleicht als Meinungsforscher, der in einer Umfrage die Zustimmung zu Úlfljóturs Gesetzesinitiative erkunden sollte. Vielleicht aber auch aus einem weiteren Grund. Anschließend schlug Úlfljótur nämlich vor, man solle zusätzlich zu den regionalen Thingversammlungen ein für alle Isländer gemeinsames Thing einrichten, und er schlug auch gleich einen dazu geeigneten Ort vor. Im Jahr 930 gründeten die Isländer “auf Rat Úlfljóts und aller Landsleute” das Althing in Þingvellir. Dort wählten sie Úlfljótur zu ihrem Gesetzessprecher. Es wurde das einzige staatliche Amt, das die unabhängige Bauernrepublik Island während ihrer Freistaatzeit erlaubte.
Und heute stehe ich da, wo sich Úlfljótur seinerzeit juristischen Rat holte, am Gulathing in Eyvindsvik. Den möglichen Versammlungsort hat ein Gegenwartskünstler mit Segmenten einer hohen Mauer verstellt, aber sonst ist es ein schöner Ort an einer Bucht des Gulafjord. Authentisch sind die beiden hohen angelsächsischen Steinkreuze, die vermutlich bald nach der Christianisierung aufgestellt wurden. Das eine so über der sicher vordem heidnisch verehrten, dann dem hl. Olav geweihten Heilquelle aufgepflanzt, daß es genau auf der Schattengrenze am Tag der Wintersonnenwende steht.

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Gulating

So heißt es gewohnt knapp im ältesten erhaltenen Prosawerk Nordeuropas, der kurz nach 1120 verfaßten Íslendingabók von Ari fróði Þorgilsson, einer ziemlich verläßlichen und teils durch Zeugenbefragung gut informierten Quelle. “Als Island weithin besiedelt war, brachte ein Mann aus dem Osten mit Namen Úlfljótur die ersten Gesetze aus Norwegen hierher (nach Island). Man nannte sie Úlfljótsgesetze, und sie waren überwiegend denen nachgestaltet, die man damals Gulathingsgesetze nannte... und die waren auf Rat Þorleifs des Weisen, eines Sohns von Hörða-Kári, beschlossen worden.” - Warum wurden ausgerechnet Gesetze des norwegischen Gulathing zur rechtlichen Grundlage des entstehenden Freistaats in Island und keine anderen?

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Montag, 17. November 2008
Granit
Oben auf dem Bergrücken ist die Bodenschicht kaum mehr als eine Handbreit dick, meist noch dünner. Da ist sie vielerorts weggeplatzt und abgeschabt von Wind und Frost wie der Bast, den sich die Rentiere vom Geweih fegen, und blanker Fels tritt in Rippen bleich hervor wie Knochen.


Granit: Knochen der Erde. Die Menschen hier leben auf Granit. Steinhart. Stifters "Sanftes Gesetz" scheint auf den ersten Blick gar nicht zu passen, obwohl er es in Granit und Bunte Steine formuliert hat. Doch sah er im Granit vor allem das Dauerhafte, Beständige, das er so gern um sich gehabt hätte. Hier sieht man, daß nicht nur weicher Sandstein "mit tiefen Löchern von den herabfallenden Tropfen versehen" wird. Wasser höhlt auch Granit, und als Gletschereis schrammt und hobelt es tiefe Rillen und lange Riefen hinein und trägt in Sekunden der Ewigkeit ganze Berge und Gebirge ab. Die Spuren der Eiszeit sind auch hier oben auf dem Gipfel zu erkennen. Der Blick reicht weit, bis in den hier sehr breiten Sognefjord hinab. Wolkenfetzen treiben tief herabhängend vom Meer herein. Es beginnt zu regnen. Wir machen uns an den Abstieg.
Eine Stunde vor Untergang blitzt die Sonne durch erste Lücken in den Regenwolken. Schnell reißen sie weiter auf. Wundervolles Abendlicht.

"Wenn nicht so die Abendsonne gegen uns schiene", sagte der Großvater, "und alles in einem feurigen Rauch schwebte, würde ich dir die Stelle zeigen können".


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Dienstag, 11. November 2008
Tuchfühlung mit Bäumen
Ein erster Erkundungsspaziergang führte auf den Bergrücken gleich hinter der Hütte. Oberhalb des Waldes stand hohes Heidegestrüpp, von den ersten Nachtfrösten rot gefärbte Beerensträucher, Wacholder, Birken und viele rotstämmige Föhren, wie ich sie gern mag, und mir fiel wieder ein, was ich einmal nach einem Waldspaziergang in der Heide notiert hatte:

Beim Aufwachen winkte er schon, der Baum vor meinem Fenster: Wind!
Endlich Luft und hoher Himmel!
Atlantikgraue Galeonen mit Goldrand segelten hart am Wind über watteaublauen Grund. Draußen führten nur wenige Hunde ihre Herrchen spazieren.
"Kalt & stürmisch heute. Sauwetter!"
"Ja. Herrlich!"
Im Wald nickten Kiefern auf hohen Stelzfüßen einander über meinen Kopf hinweg rauschende Neuigkeiten zu. Ein Buntspecht übersetzte mir's morsend im Stakkato. Ranke Birkinnen nestelten lüstern vielfingrige Zweige ineinander. "Ich sei, gewährt mir die Bitte..." Doch als einige muskulöse Buchenprotze murrend mit den Ästen knackten, wollten sie mit mir Menschenkerl nicht mehr handgemein werden. "Wartet, bis sie euch zu Stuhlholz dämpfen!" murmelte ich und schlenderte, um sie eifersüchtig zu machen, zu einer Schulklasse junger Tannen hinüber. Kichernd lupften die Koketten die grünen Röcke.
Später trat ich hinaus auf einen Windbruch. Zwischen erdverklumpten Wurzelballen wogte savannengelb gefiedertes Gräservolk. Oben in der Bläue waren Bussarde zum Trocknen aufgespannt und riefen klagend: "tué".

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Sonntag, 9. November 2008
Zur hytte
Für Bergen blieb diesmal nicht viel Zeit. Ein kurzer Spaziergang um Vågen, Tyske Bryggen und dann hinaus zu Håkons Halle in der Festung Bergenhus. Schließlich lagen noch weitere gut zwei Stunden Fahrt nach Norden vor uns.

Bei Instefjord erreichten wir das Südufer des Sognefjords und bogen nach Westen ab, wo sich die Mündung des großen Fjords zum Atlantik weitet. Die Straße wurde im Gegenzug immer schmaler und wand sich bald einspurig mit wenigen Ausweichbuchten für Gegenverkehr am Ufer entlang. Vom Meer zogen erste Wolkenfelder heran. Erst im letzten Dämmerlicht fanden wir die Hütte. Dunkel und verschlossen abseits der Straße. Der Schlüssel nicht am verabredeten Ort. Wir fuhren weiter, bis irgendwo ein erleuchtetes Fenster auftauchte. Eine alte Frau öffnete auf mein Klopfen. Ja, sie war informiert und hatte auch einen Schlüssel zur Hütte, erklärte sie in einem Nynorskdialekt, der mich staunend den Mund aufklappen ließ. Die freundliche Åse griff ihren Stock und wollte unbedingt mit zur Hütte, um uns zu zeigen, wo wir drunterkriechen mußten, um den Hauptschalter für Licht, Heizung und Wasserpumpe umzulegen. Nicht unwichtig. Bald wurde es dann warm in der seit langem leer stehenden Hütte.
Am nächsten Morgen trat nach und nach etwas von der Umgebung aus dem Wald hervor.

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Dienstag, 4. November 2008
Bergensbanen


Der undurchdringliche Nebel verschluckt noch immer alles ab zehn Meter hinter der Fensterscheibe. Die Gedanken sind also nach innen oder zurück verwiesen, und ich erinnere mich, daß wir vor gut zwei Monaten in ebenso dichtem Nebel wie heute in Drammen einen Zug der Bergensbane bestiegen.
Es ist die höchstgelegene Haupttrasse in Nordeuropa mit über 180 Tunneln auf fast 500 Kilometern Gesamtstrecke. Die ersten 120 davon rollten wir in Watte gepackt, dann kamen wir hinter dem Leknesfjell aus einem Tunnel, und der Nebel war wie ein nasses Tuch von der Landschaft gezogen.
Kein Wölkchen, knallblauer Himmel. Sonne in Gol, Sonne in Ål, Sonne in Geilo. An jeder Station ein Aufenthalt, lang genug, um sich kurz die warme Septembersonne auf den Pelz knallen zu lassen. Dann kamen wir aufs Fjell. Die Höhenzüge flachten ab, die Bäume wurden niedriger, krummer, dafür gab es immer mehr rot flammendes Beeren- und Heidegesträuch. Dazwischen Wasserläufe, Pfützen, Tümpel, kleine Seen. Über denen irgendwann bloß noch dunkler Fels und dann Weiß, Gletscherweiß: der Hardangerjøkul.

Zum höchstgelegenen Punkt der Bahn, Finse, 1222 m, schickt er einen Talgletscher vor, während er sich selbst noch über 600 Meter höher wölbt. - Wie kann man hier überhaupt reisen, ohne zu einem Naturschwärmer in der Nachfolge der Düsseldorfer Malerschule zu werden?

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