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Sonntag, 23. Mai 2010
and dynamite it was
Man beachte die Zeile ganz unten auf dem Umschlag der Originalausgabe:
“Not to be imported into Great Britain or the U.S.A.”
Zusammen mit der Banderole: ”Ne doit pas étre exposé en étalage ou en vitrine” hatte der Verleger selbst, Jack Kahane, Besitzer des in Paris ansässigen englischsprachigen Verlags Obelisk Press, die Warnung gleich vorweg ohne jede behördliche Auflage anbringen lassen. Tatsächlich verbot der US-Zoll die Einfuhr des Buchs. Der amerikanische Dichter Karl Shapiro erzählte in seiner Einleitung zur ersten amerikanischen Ausgabe, daß Miller kurz nach seinem Erscheinen von Frankreich nach England reisen wollte, aber von den Hafenbehörden dort festgesetzt und mit dem nächsten Schiff zurückgeschickt wurde. Vier Jahre später, nachdem die ersten Exemplare des zunächst schwer verkäuflichen Buchs als Schmuggelware doch in den USA aufgetaucht waren, wurde Tropic of Cancer in den Vereinigten Staaten als obszön gerichtlich verboten.
Na klar, Miller hatte es drauf angelegt, er wollte ein radikales Buch schreiben, und er wollte nichts auslassen und verschweigen. Am 25. August 1932 schrieb er seinem New Yorker Freund Emil Schnellock: "I start tomorrow on the Paris book: first person, uncensored, formless – fuck everything!"
And so he did, nicht bloß alles, sondern auch (fast) jede, und dabei beobachtete und beschrieb er jede Einzelheit.

“The eternal preoccupation: cunt... what do you think the crazy bitch had done to herself? She had shaved it clean... not a speck of hair on it. Did you ever have a woman who shaved her twat?
It‘s repulsive, ain‘t it?
And the more I looked at it the less interesting it became. It only goes to show you there‘s nothing to it after all, especially when it‘s shaved. It‘s the hair that makes it mysterious. That‘s why a statue leaves you cold. Only once I saw a real cunt on a statue - that was by Rodin.”

(Dies auch als kleiner Kommentar eines großen Connaisseurs zu einer in den letzten Jahren um sich greifenden Modeerscheinung. -
It‘s the hair that makes it mysterious.)


Daß eine so explizite Sprache in der damaligen Zeit natürlich Anstoß erregen mußte, war Miller von Anfang an klar.
“ I think it will cause a riot, and, at the same time, prove a seller -- just because it is sensational in character”, schrieb er dem Freund im Juli ‘32. Aber sensationell und ultimativ sollte es nicht bloß in Hinsicht auf sexuelle Freizügigkeit sein. Ursprünglich hatte Miller den Titel The Last Book vorgesehen. Mit ihm sollte alles gesagt, kein weiteres Buch mehr nötig und möglich sein. Denn das Ende stand sowieso bevor. So dachte er damals wohl tatsächlich, denn um diese Zeit war Spenglers Untergang des Abendlands seine Bibel. Und das letzte Buch der Bibel ist die Apokalypse. Das Buch, an dem er schrieb, “is to be a new Bible - The Last Book... We will exhaust the age. After us not another book”, heißt es im Wendekreis des Krebses zu Beginn. Endzeitstimmung also; damals nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs natürlich nicht unüblich und weit verbreitet. Bei Miller aber äußert sie sich nicht resignativ, sondern aggressiv:

“The age demands violence, but we are getting only abortive explosions. Revolutions are nipped in the bud, or else succeed too quickly. Passion is quickly exhausted. Men fall back on ideas, comme d‘habitude. Nothing is proposed that can last more than twenty-four hours... For a hundred years or more the world, our world, has been dying. And not one man, in these last hundred years or so, has been crazy enough to put a bomb up the asshole of creation and set it off. The world is rotting away, dying piecemeal. But it needs the coup de grâce, it needs to be blown to smitherens.”

Die Änderung des Titels streicht das Kranke der Zeit und der Welt noch heraus. Allein klimatisch indiziert er Schwüle, den Beginn der feucht und morbid dampfenden Tropen. Seiner damaligen Geliebten, Freundin und Mäzenin Anais Nin schrieb er: “Cancer also means for me the disease of civilization, the extreme point of realization along the wrong path — hence the necessity to change one’s course and begin all over again.” Letzteres wird aus der Bedeutung des Krebses als Sternzeichen verständlich: “CANCER = House of Birth + Death”, steht über einem damals in Paris entworfenen, aber nie vollendeten anderen Manuskript Millers. “There was always the astrological implication too”, erklärte er 1956 in einem Radiointerview “a symbolic title I had chosen for a number of reasons, primarily because the cancer is the crab, and the crab has the power, or the ability to walk backwards, forwards, sideways, any direction do you see. I liked that symbol, you know? […] Able to go any direction at will, do you see.”
Sich ganz nach Belieben in jede erdenkliche Richtung zu bewegen, ist natürlich genau das, was der Erzähler in seinem inneren Monolog oder stream of consciousness unaufhörlich tut. Aber das Bild vom Krebs als Krankheit taucht ebenso immer wieder auf, gleich zu Beginn als “cancer of time”, die uns auffrißt, oder später in gleicher Weise auf die Stadt gemünzt:
Paris “grows inside you like a cancer, and grows and grows until you are eaten away.”


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