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Dienstag, 2. Juni 2009
Solche, die es nicht tun. Zum Ursprung der Save
“Der einzige Grund für das Unglück des Menschen ist, dass er nicht still in seinem Zimmer sitzenbleiben kann.” Diesen abwegigen Gedanken hielt bekanntlich Blaise Pascal in seinen Pensées fest, ehe er, sein Leben lang blaß und schwächlich, schon mit 39 Jahren seinen streng frommen Geist aushauchte. Ein wenig Bewegung hätte ihm vielleicht gut getan.
“Unsere Natur ist in der Bewegung, völlige Ruhe ist der Tod”, schrieb der gleiche Pascal in der gleichen Gedankensammlung. Die beiden einander völlig entgegengesetzten Zitate desselben Aphoristikers zeigen, daß diese Sorte von Textproduzenten zu jedem gewünschten Zweck einprägsame Sprüche wie auf Bestellung abzufassen vermag. Kipling zog im Hinblick auf das Reisen auf seine bärbeißige Art daraus den Schluß: “Alles in allem gibt es nur zwei Arten von Menschen auf der Welt. Solche, die zu Hause bleiben, und solche, die es nicht tun.”

Halten wir uns von der vehementen Apodiktik solcher Sprüche also vorerst besser unbeeindruckt und beschäftigen uns, während wir dem Lauf der bohinischen Save aufwärts folgen, lieber mit der Frage, warum das Gehen wieder und wieder zu etwas Heilsamem erklärt worden ist. Von einem so tiefen Denker wie Søren Kierkegaard zum Beispiel: “Verlieren Sie vor allem nicht die Lust, zu gehen. Ich laufe mir jeden Tag das tägliche Wohlbefinden an und entlaufe so jeder Krankheit. Ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen, und ich kenne keinen, der so schwer wäre, daß man ihn nicht beim Gehen loswürde”, schrieb er seiner Jette.
Pascals Zeitgenosse Robert Burton verordnete das Gehen als Heilmittel gegen Melancholie und Depressionen. Selbst der Wind erinnere uns noch daran, “daß wir immer in Bewegung sein sollten.” Chatwin entwickelte dazu seine in den Traumpfaden in Umrissen sichtbar werdende eigene Theorie, “daß die natürliche Auslese uns - von der Struktur unserer Hirnzellen bis zur Struktur unseres großen Zehs - zu einem Leben periodischer Fußreisen durch brennend heißes Dornen- und Wüstenland bestimmt habe. Wenn das der Fall war... dann ist es leichter zu verstehen, warum grüne Wiesen uns langweilen, warum Besitz uns ermüdet und warum Pascals imaginärer Mensch seine angenehme Wohnstätte als Gefängnis empfand.”
“Psychiater, Politiker und Tyrannen versichern uns ohne Unterlaß, daß ein Wanderleben eine anomale Verhaltensweise sei, eine Neurose, eine Form unbefriedigten sexuellen Verlangens, eine Krankheit, die im Interesse der Zivilisation ausgerottet werden müsse. Die Propagandisten der Nazis behaupteten, daß Zigeuner und Juden - Völker mit dem Wandertrieb in den Genen - keinen Platz in einem stabilen Reich hätten. Und doch hat der Ferne Osten die einst in der ganzen Welt gültige Vorstellung beibehalten, daß Wandern die ursprüngliche Harmonie wiederherstelle, die einst zwischen Mensch und Universum bestanden hat.”




Wir folgen dem Lauf der Sava Bohinjka zwischen bewaldeten Höhenzügen hindurch in ein weites Talbecken mit üppig grünen Wiesen, über denen ein gelber und weißer Flor von blühenden Wiesenblumen liegt. An der Engstelle ihres Durchbruchs modellieren Licht und Schatten tatsächlich ein Gesicht mit groß aufgerissenen, runden Augen in die Felswand über der “Höhle unter dem Zahn der Großmutter”. Das Wasser der Save hat zunächst das klare, aber weißliche Grün vieler Alpenflüsse. Zügig, aber noch ruhig strömt sie in zahlreichen Windungen dahin, perlt klar über breite Kiesbänke in ihrem Bett. Die Berge rundum werden höher, übersteigen die 2000er-Marke, oben noch im durchbrochenen Häkelumhang bläulich weißer Schneefelder. (Die Luft ist sehr diesig in der Wärme.) Das dreispitzige Massiv des Triglav, das Sloweniens Fahne im Wappenschild führt, kommt in Sicht, überragt mit seinen 2864 Metern alles. Dann füllt der grüne See von Bohinj den Talgrund, traumhaft schön gelegen. Ein altes Kirchdorf an seinem Ausfluß, die Kirche des hl. Janez aus dem 15. Jahrhundert. Die mehrbogige Steinbrücke über den Fluß vielleicht ebenso alt. Wenige Hotels, ein paar Pensionen, Fremdenzimmer. Der Tourismus hat das Aussehen der Landschaft noch nicht völlig verwandelt und seinem Zugriff unterworfen.
“Der Vorgang des Wanderns trägt zu einem Gefühl physischen und geistigen Wohlbehagens bei, während die Monotonie anhaltender Seßhaftigkeit oder regelmäßiger Arbeit im Gehirn Muster webt, die Überdruß und das Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit hervorrufen. - Aggression... ist nichts anderes als eine zornige Antwort auf frustrierende Einengung.”
(B.C.: Nomadeninvasionen, 1972)
Zornig scheint auch der Fluß auf seine Einengung oberhalb des Sees zu reagieren. Aus dem weißlichen Grün wird schäumendes Weiß, mit dem er durch seine enge, felsverblockte Kluft schießt. Aus den steilen und tief zerschnittenen Seitenhängen fallen ihm Gießbäche in Kaskaden und Wasserfällen zu. Der Weg ist am hinteren Ende des Tals angekommen und führt jetzt im lichten Schatten hochstämmiger Mischwälder aufwärts. Ahorn, Eschen, Buchen und verschiedene Nadelbaumarten besiedeln den dünnen Boden zwischen erratischen Felsblöcken. Dann der alte Steinbogen einer Brücke, von einem Kassenhäuschen davor bewacht. Wir entrichten unseren Obulus und dürfen hinüber. Teils auf Stufen steigt der Weg am jenseitigen Ufer die Wand einer Schlucht hinan. Über dem Wald türmt sich der kahle Fels hellgrau, zerklüftet und von Rissen und Spalten durchzogen. Unter uns schäumt die Save. Die Kluft wird immer enger, bis ihre Wände in einer engen Spalte zusammentreffen. Daraus schießt das Wasser hervor, das oben im Karstgebirge zusammengesickert ist, und fällt über eine hohe natürliche Rutsche und eine im 19. Jahrhundert künstlich angelegte zweite Stufe insgesamt siebzig Meter in die Tiefe.

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