Und dann bleibt auf einmal
nur noch Zeit für einen Abschiedsspaziergang zu den Salinen im Nordosten und im Südosten der Stadt.
Am Meer entlang führt der Weg durch eine fast versteckte Bucht, dann bewaldete Anhöhen hinauf und als schmaler Saumpfad im Hang durch lichten Niederwald bis unten eine weitere, flache Bucht mit Schwemmland sich öffnet, durch Holzbohlen und Schotts in ein geometrisches Muster von gefluteten oder trockenen Salzpfannen und Kanälen unterteilt. In seiner Rechtwinkligkeit gemahnt es an die von Kanälen eingehegten flachen Weiden und jetzt abgeräumten Blumenplantagen Hollands.
Die vom Salz gebleichten Bohlen und rostig angefressenen Schotts und der braune Schlamm in den trockenen Pfannen wirken schon unter Sommersonne melancholisch; viel mehr noch tun sie es unter einer schleierumwölkten Herbstsonne. Vielleicht reicht ihre Kraft nicht mehr aus, um das Meerwasser schnell genug verdunsten zu lassen, jedenfalls scheinen die Salinen zur Zeit kaum oder nur auf wenigen Feldern bewirtschaftet zu werden. Kein Mensch ist zu sehen, verlassenes Gerät liegt herum, von Hingang lebende Dinge. Seidenreiher und Möwen haben das Gelände okkupiert und stehen reglos im flachen Wasser. Die Zeichen sind eindeutig: es heißt Abschied nehmen auch von diesem Sommer. Aber Hiersein war schon viel, und ich sage gern: Meer, Salz, Sonne, Vögel, Wind.
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Wieder ein Sonntagmorgen, wieder hat sich das Wetter beruhigt, der Sturm ist abgeflaut, die Wogen haben sich geglättet. Die ersten Wassersportler trauen sich bereits wieder in wackligen Fahrzeugen aufs Meer und sind froh, den Sturm los zu sein. Aber die Bora ist nicht nur ein lästiges Ärgernis und bringt in heftigen Böen von den Alpen herabstürzende Kaltluft und ebenso schnell fallende Temperaturen mit sich, sondern sie fördert auch Poesie und sogar hohe Gedankenlyrik.
Je mehr die Wolken sich heben und verziehen, desto klarer zeichnet sich in der frisch gewaschenen Luft das jenseitige Ufer des Golfs ab. Triest ist gut zu sehen, und in der Vergrößerung durch das Teleobjektiv treten sogar die Duineser Schlösser hervor.
Angeblich im Brausen der Bora will Rilke dort drüben im Winter 1911/12 die ersten Verse seiner Duineser Elegien gehört haben: "Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?" – Ja, schreien muß man schon, wenn man die Bora übertönen will.
Bestimmt vornehm im Ton, aber vernehmlich in der Dringlichkeit hatte der einsame Rilke in der Pariser Wüste auch vorher schon gerufen. Er wartete wieder einmal auf eine Einladung von seiten seiner reichen Gönnerinnen. Im September 1911 wurde er endlich erhört: "Welcher Segen, dass Sie mich in Duino verbergen wollen: als ein Flüchtling, wie unter fremdem Namen, will ich mich dort aufhalten, nur Sie sollen wissen, dass ichs bin", schrieb er an Marie von Thurn und Taxis, die ihn seit der Veröffentlichung des Malte Laurids Brigge sponserte und 1910 schon einmal auf ihr Schloß in Duino nahe beim damals noch k.u.k.-österreichischen Triest eingeladen hatte. Jetzt bot sie ihm das Schloß neuerlich als Wintersitz an.
Im Oktober vor 101 Jahren traf Rilke im Wagen der Fürstin von Thurn und Taxis in Duino ein. Mitte Dezember reiste sie wieder ab, um nicht in Wien die rauschenden Opernbälle zu verpassen. Rilke: "Nun ist wieder Einsamkeit. Für mich ist's der Urstoff." Er steckte sein kleines Notizbuch ein und ging spazieren. Auch bei Sturm. Die zehn Duineser Elegien sind 1912 “ja nicht erarbeitet worden, da hat er ja nicht am Schreibtisch gesessen. Sondern die sind ihm im Toben der Bora visionär eingegeben worden”, erzählte ein begeisterter Rilke-Kenner dem Deutschlandfunk. “Das sind ja Offenbarungen. Das erinnert an Mohamed, der den Koran empfangen hat. – So sind religiöse Mythen entstanden.”
Na ja. Aber Rilkes Neunte, in jenem Winter drüben in Duino zumindest begonnen, ist wirklich großartig. Ich stehe auf der Piraner Terrasse und schaue über das von “eines Windes Lächeln” noch grau aufgewühlte Meer hinüber, während ich lese, Auszüge:
Warum, wenn es angeht, also die Frist des Daseins
hinzubringen, als Lorbeer, ein wenig dunkler als alles
andere Grün, mit kleinen Wellen an jedem
Blattrand (wie eines Windes Lächeln) –: warum dann
Menschliches müssen...?
... weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar
alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das
seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten. Ein Mal
jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nichtmehr. Und wir auch
ein Mal. Nie wieder. Aber dieses
ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal:
irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.
Und so drängen wir uns und wollen es leisten,
wollens enthalten in unsern einfachen Händen,
im überfüllteren Blick und im sprachlosen Herzen.
Wollen es werden. – Wem es geben? Am liebsten
alles behalten für immer . . . Ach, in den andern Bezug,
wehe, was nimmt man hinüber?
Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands
nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern
ein erworbenes Wort...
Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus,
Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, –
Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat.
Sprich und bekenn.
Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm
kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem...
Drum zeig ihm das Einfache, das von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet,
als ein Unsriges lebt...
Zeig ihm, wie glücklich ein Ding sein kann, wie schuldlos und unser..
... Und diese, von Hingang
lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich,
traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.
Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln
in – o unendlich – in uns! Wer wir am Ende auch seien.
Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen.
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Jetzt hat sie uns also doch erwischt - auf den letzten BIldern war's ja in Ansätzen schon zu sehen - die Bora, hier in Slowenien Burja genannt, ein verdammt ungemütlich kräftiger Wind, der, insofern das Gegenstück zum Föhn, die derzeitige Kaltluft aus Osteuropa als kalten Fallwind von den Alpen herabpfeifen läßt und hier kräftig das Meer aufquirlt, als wollte er es zu Eischnee schlagen.
- "Die Bora (griechisch μπόρα, „kalter Windstoß“, „kalter Regenguss“, von Boreas, wörtlich „der Nördliche“; kroatisch Bura; slowenisch Burja) ist ein trockener, kalter und böiger Fallwind zwischen Triest, der kroatischen und der montenegrinischen Adriaküste", heißt es im Wikipedia-Artikel zur Bora.
- "Bora-Winde gehen von einem aus dem Polargebiet wandernden, starken Kaltluftausbruch, die am Boden als nördliche oder nordöstliche Windströmungen zum adriatischen Küstengebiet in Erscheinung treten, hervor."
- "Winde vom Bora-Typ gehören mit ihrer Häufigkeit und ihren hohen Durchschnittsgeschwindigkeiten, vor allem zwischen Triest und der Nordwest-Küste Kroatiens sowie in Teilen Süddalmatiens und Montenegros, zu den stärksten der Welt."
Ich mag Wind.
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Ich bin der schwache Halm, der Wurm, der schreibt,
Ich bin die Kraft, die beide aus dem Boden treibt.
Ich bin der Regen und der Schirm
Ich habe Ängste und Gehirn.
Ich bin der Hirte und das Schaf
Ich bin das Wachen und der tiefe Schlaf.
Ich bin das Kind, das lacht, und auch der Greis,
der weinend um das Ende weiß.
Ich bin der Sitzenbleiber und der Lehrer
Ich bin Verächter und Verehrer.
Ich bin das Glas, die Rebe und der Wein
Ich bin ganz Gaumen und bin eitler Schein.
Ich bin das Blatt am Baum
Und auch der Wind, der es bewegt.
Ich bin der Kork und auch der Fluß.
Ich will nie sterben, doch ich muß.
Ich bin der Block und auch das Beil
ich bin gespalten und auch heil.
Ich bin das Schweigen und Gesang
Ich bin der Worte Überschwang.
Ich bin das Feuer, die Asche und das All
Ich bin die Falle und der Große Knall.
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"Venezianisch-Rot: aus Eisenoxid bestehendes rotes Farbpigment." (enzyklo.de)
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Ist es nicht genau das, war wir uns alle, nun ja, was sich viele angesichts des nächsten bevorstehenden Schmuddelwinters in mittleren Breiten wünschen: eine kleine, helle Wohnung am Mittelmeer, wo der Sommer, gereift, vorerst noch andauert. Wo die Ölbäume unter der Last reifer Oliven die Äste neigen, der Wein süß und schwer an den Rebstöcken hängt. Mit einem milderen, frühherbstlichen Sonnenschein, in dem das Meer schon tief blaugrün sich eindunkelt und die Berge am Horizont im klaren Frühlicht auf den Gipfeln den ersten Schnee des kommenden Winters erglitzern lassen, aber weit genug weg sind. Darüber ein heiterer Himmel, weit gespannt und wolkenlos, von den Bergen über das Meer bis über das Haus mit der Terrasse, auf der man dieses Panorama genießt, die Sonnenstrahlen wärmend zwischen den Schulterblättern spürt, von wo sie ins Rückenmark dringen und durch die Nervenbahnen wohlige Wärme im ganzen Körper verbreiten.
Was tun wir eigentlich, wenn uns unverdient wie alles Glück auch dieses widerfährt?
Wir sitzen da, schauen, staunen und halten die Klappe.
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Vom venezianischen Glockenturm von Sveti Jurij klingt dünnes Glockenläuten durch die morgendliche Stille. Die Luft ist warm, fast ein wenig schwül. In der Nacht hat es geregnet. In den ausgewaschenen Höhlungen und Vertiefungen der alten Steinplatten, mit denen die Altstadt gepflastert ist, steht Wasser. Die Tropferei von oben hat aufgehört, die graue Wolkenwand zieht übers Meer nach Norden Richtung Friaul, nur von den Dachtraufen tröpfelt es noch. Als die Glocken verklungen sind, kann ich es hören. Und das Flattern irgendwo auffliegender Tauben. Eine Frau wischt die Caféhaustische unter einer Markise ab. “Dobro jutro!” – “Dobar dan!” Eine dunkle Katze drückt sich in der engen Gasse an mir vorbei. Der schwere Duft von frisch gebrautem Kaffee wallt aus der Bar an der Ecke. Die Stände auf dem kleinen Marktplatz sind natürlich noch leer. Es ist Sonntagmorgen. Aber der Bäcker hat schon geöffnet. “Tri Kajserice, molim.”
Auf dem Rückweg am Ufer entlang mit meinen Kaiserbrötchen im Arm begegnen mir ein Jogger in Neongrün und ein junges Mädchen, das seinen Hund ausführt. Gedankenverloren bummelt es unter einem Regenschirm dahin, bemerkt mich gar nicht. Guckt unter der Schirmkante aufs Meer hinaus. Was zeigt es zusammen mit den Wolken aber auch für wundervolle Nuancen und Schattierungen von Grau! Der Hund bleibt stehen, sieht das Mädchen erwartungsvoll an. Es tunkt eine Schuhspitze in eine Pfütze und spritzt den Hund naß. Der schüttelt sich, bellt einmal fröhlich, bleibt dann mit gespreizten Vorderläufen und geduckt in Erwartung einer neuerlichen Dusche vor der Pfütze stehen. Das Mädchen tut ihm den Gefallen. Ich gehe weiter. Mehr gibt es von diesem Morgenspaziergang eigentlich nicht zu berichten.
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