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Dienstag, 9. November 2010
Anschwellender Bocksgesang
Ja, ich benutze die gleiche Überschrift, wie sie einmal ein grotesk mißratener Essay von Botho Strauß im Spiegel (6/1993) trug. Anfänglich beschwor er darin unter schrecklichem Wortgedröhne von “Sippengesetz”, “Volkszugehörigen” und “Blutopfer” einen kommenden Krieg herauf, an dem er besonders Toleranz und Fremdenfreundlichkeit einer, natürlich, der Aufklärung anhängenden, zugleich aber auch “anarchofidelen” 68er-Linken, die angeblich Staat und tonangebende Kultur und öffentliche Moral erobert hätte, die Schuld gab. Dagegen propagierte er dann “Rechts sein” als Auflehnung und zugleich vornehmes Abseitsgehen in ein bewußt angestrebtes Außenseitertum, bevor er schließlich schlapp in vielfach vorgeübter Medienschelte an Telekratie und ihren Moderatoren ausebbte und die Wiedereinführung eines nur dem elitär Abgesonderten vorbehaltenen Begriffs von Kultur propagierte.
Nein, damit hat das folgende nichts zu tun und nichts gemein, es schnürt lediglich noch einmal um die Burg von Mykene, hinaus ins Freie und in die griechischen Wälder der Frühzeit, auf der Suche nach diesem seltsamen, vorübergehend sterblichen Gott der Trunkenheit, des Rauschs und der Ekstase.

Kein Botho-Strauß-Gesang also hier, aber doch ein Titel, den er zwar in Deutschland wohl erstmalig verwendet, auf den er aber keinen Alleinanspruch hat, denn letztlich ist er nichts weiter als die Übersetzung eines altbekannten griechischen Worts: Tragödie (< tragos, Bock + ode, Gesang). Dazu, um lieber die von Strauß gescholtene Seite zu zitieren, Mikis Theodorakis:

Schauen Sie sich das Wort „tragoudi“ an, das griechische Wort für „Lied“. Dieses Wort ist eine direkte Ableitung des Begriffs „tragodia“, der Tragödie also. Was heißt „tragodia“? Ursprünglich bezeichnete das die Oden an den „Bock“, den „tragos“ – womit Dionysos gemeint war, der Gott des Rausches, der Trunkenheit. Eine solche Art von Lied kommt mitten aus dem Volk, und dort bleibt es – heilig, berauschend, immer wiedergeboren. Man kann das Wort „tragoudi“ daher nicht übersetzen... Damit ein Fremder begreift, was das wirklich bedeutet, müsste er sich vorstellen, dass man in Deutschland jeden Tag Goethe, in England vielleicht T.S. Eliot und in Frankreich Paul Eluard singen würde – zu Hause, in der Taverne, bei der Arbeit, in der Schule oder während einer Demonstration.
(Mikis Theodorakis im Gespräch mit Hansgeorg Hermann, 2006. Biografie Mikis Theodorakis – Der Rhythmus der Freiheit, Verlag Neues Leben, Berlin)


Tragödie also, Bocksgesang. Und anschwellend, weil ich möglichst nah zu seinen Quellen zurück möchte, aus denen er sich speiste, und deren anfangs schmale Rinnsale dann immer mächtiger anschwollen. Weit, weit müssen wir dafür zurück, mindestens bis in die Lebenszeit Homers, also ins 8. oder 9. vorchristliche Jahrhundert. Denn es scheint die Zeit zu sein, in der sich die Verehrung des Dionysos überall in Griechenland ausbreitete. Homer hat die mythischen Geschichten um Dionysos jedenfalls gut gekannt, wie Walter F. Otto in seiner Monographie über den Gott nachwies.

Das ganze Altertum hat Dionysos als den Spender des Weines gepriesen. Aber man kannte ihn auch als den Rasenden, dessen Gegenwart die Menschen besessen macht und zur Wildheit, ja zur Blutgier hinreißt. Er war der Vertraute und Genosse der Totengeister. Geheimnisvolle Weihen nannten ihn ihren Meister. Und zu seinem Gottesdienst gehörte das dramatische Spiel, das die Welt um ein Wunder des Geistes bereichert hat.
(Walter F. Otto: Dionysos, 1933)


Ich komme darauf zurück, gehe aber erst einmal weiter zurück in der Zeit. 1939 kam der amerikanische Archäologe Carl Blegen nach Messenien, der südwestlichsten Landschaft der Peloponnes, um nach dem antiken Pylos zu suchen, der Burg des greisen messenischen Königs Nestor aus Ilias und Odyssee. Wie Schliemann in Troja wurde auch Blegen in Pylos fündig. Auf einer strategisch beherrschenden Anhöhe in Sichtweite der Bucht von Navarino stieß er auf Mauerreste einer alten Palastanlage aus dem 13. Jahrhundert v.u.Z., also aus dem Zeitalter des Trojanischen Kriegs. In den Ruinen fand Blegen u.a. rund 600 Tontafeln, die durch einen Palastbrand haltbar geworden waren. Sie waren mit Schriftzeichen beschrieben, und zwar in der gleichen sogenannten Linear-B Silbenschrift, die Arthur Evans in den minoischen Palästen auf Kreta gefunden hatte.



Durch den Krieg wurde eine intensivere Beschäftigung mit diesen Tontafeln verhindert, dann bissen sich die Forscher an der Identifizierung der Sprache, in der die Tafeln beschrieben waren, die Zähne aus bzw. stand ihnen ein Dogma der Fachwissenschaft im Weg, das Dogma der “dunklen Jahrhunderte” eines vermeintlichen Kulturabbruchs zwischen minoisch-mykenischer Blütezeit und den Anfängen der griechischen Kultur erst nach der dorischen Wanderung. Noch 1950 schrieb Helen L. Lorimer, die führende amerikanische Autorität für das homerische Griechenland, in ihrer Abhandlung Homer and the Monuments: “The result is wholly unfavorable to any hope entertained that the language of the inscriptions might be Greek.”
– But they were.
Am 1. Juli 1952 meldete die BBC die Entzifferung der Linear-B-Schrift. Ihr Entschlüssler war kein Mann vom Fach, sondern ein dreißigjähriger englischer Architekt mit Namen Michael Ventris, der während des Krieges in einer Dechiffrierungseinheit gearbeitet und in seiner Jugend einmal einen Vortrag von Knossos-Ausgräber Evans über Linear-B gehört hatte. Was Ventris entschlüsselte, bewies, daß die Menschen, die in Linear-B schrieben, ein frühes Griechisch sprachen, ein halbes Jahrtausend früher als die Wissenschaft postuliert hatte. Nun ließ sich eine Schrifttafel nach der anderen entziffern. Auf einer der Tafeln aus Nestors Palast in Pylos (PY Xa06) fand sich die Silbenfolge:
di-wo-nu-so-jo
die Genitivform von Dionysos.

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Mittwoch, 3. November 2010
Dionysos, nicht pausbäckig
Ich habe viel dringender so viel anderes zu tun, aber ich komme nicht los von diesem Tor. Aischylos und Christa Wolf auch nicht. Zunächst steht sie, an einem Frühlingstag 1980, ebenfalls nach einer Übernachtung in Nauplia noch unten in der Ebene der Argolis. Vielleicht hat sie mich damals bei der Überfahrt auf der Fähre gesehen: “junge, sonnensüchtige Leute aus aller Welt, Tramper, die sich auf den Bänken des Oberdecks für die Nacht einrichten, Jungen und Mädchen in der gleichen Einheitsuniform – Jeans, Anoraks, weiße weiche Turnschuhe –, vollbepackte Tragegestelle aus Leichtmetall auf dem Rücken, die sie gegen die Bänke lehnten.” Genauso war es. Ich weiß noch genau, wie mein Anorak am nächsten Morgen nach einer sterndurchfunkelten Nacht auf Deck, aber dummerweise in Windrichtung hinter dem dieselrußenden Schiffsschornstein, ausgesehen hat.

“Es gibt eine Stadt, die Argos heißt, eine staubige, unscheinbare Stadt... Woran soll einer denken, der das Wort Argos hört: an das Haus der Atriden. – An einer gottverlassenen zugigen Straßenkreuzung, auf der aber ein Schild mit der Aufschrift MYKENAE gen Osten weist. An dieser Stelle muß weiland der Zug der argivischen Greise vorbeigekommen sein, der nach der Vorstellung des Aischylos, durch Feuersignale alarmiert, die das Ende des Krieges in Troia verkünden, von Argos aufbrach, um zur Herrscherburg Mykenae zu ziehen.”
(Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra)

Dort oben, am Tor, bahnt sich an, was einmal die Kunst und Kultur Europas revolutionieren wird, eine Tragödie, die Tragödie, eine der allerersten und zugleich eine der vollendetsten überhaupt (obwohl sie uns nicht einmal vollständig erhalten ist).

Halten wir noch einmal fest: Alle Kunst kommt ursprünglich (wie schön, wie treffend hier dieses Wort der deutschen Sprache) aus dem Kultus, aus dem Dienst an und der Feier von Göttern. Im Fall der Tragödie ist dieser Ursprung noch im Wort lesbar aufbewahrt: griech. tragos ist der Bock, und zwar der Bock des Opfers, das man den Göttern schlachtete, Dionysos vor allem. Kann man sich einen zerrisseneren Gott als Dionysos vorstellen? Eins nur ist an ihm klar: er ist ein Sohn des Zeus. Doch schon wer seine Mutter war, soll ungewiß sein. Damit verkehrten die mythologischen Erzählungen der Griechen die einzige Gewißheit bei einer Geburt in ihr Gegenteil: Nicht pater semper incertus, wie später ein Grundsatz des römischen Rechts lautete, sondern im Fall des Dionysos soll nicht der Vater, vielmehr die Mutter ungewiß sein. Einige antike Quellen nennen Demeter als seine Mutter, andere nennen Dione, Io, Lethe oder Persephone als mögliche Mütter, vor allem aber wird Semele genannt, Tochter des phönizischen Prinzen Kadmos. (Da sie ebenso unter dem Namen Thyone auftaucht, hat man auch ihren Namen Semele auf eine indogermanische Wurzel zurückgeführt: *tuemelah „die Anschwellende“.) Als sie sich, bereits schwanger, Zeus Geilheit versagte, erschlug er sie mit seinem Blitz. Hermes rettete das ungeborene Halbmenschlein, nähte es in Zeus’ Schenkel ein, und der trug es aus. Darum erhielt das Söhnchen den Namen Dionysos, “der zweimal Geborene”. Wenn man so will, ist er auch die Frucht der Entmachtung vorgriechischer Muttergottheiten durch das Patriarchat des olympischen Pantheons.
Kein Wunder, daß der Knabe eine zerrissene Kindheit hatte. Zunächst einmal wurde er gleich nach der Geburt auf Befehl der wieder einmal gekränkten Hera von den Titanen in Stücke gerissen und in einem Kessel gekocht. (Ach so, ich habe zwar manchmal eine rege Phantasie, aber die ganzen Schauergeschichten hier entnehme ich von Ranke-Graves und dem Ausführlichen Lexikon der griechischen und römischen Mythologie.) Seine Großmutter Rhea, Zeus’ Mutter, die Große Göttin des Matriarchats, setzte den Enkel wieder zusammen und ließ ihn aus Gründen der Tarnung von Königin Ino in Orchomenos in Mädchenkleidern aufziehen. (Spätere Identitätskonflikte mit Geschlechterrollen, Transgenderproblematik u. dgl. kamen also auch noch mit in den Kessel seiner Persönlichkeit.)
Nachdem Hera dahintergekommen war und Inos Gemahl mit einem Anfall von Wahnsinn gestraft hatte, in dem er seinen eigenen Sohn mit einem Bock verwechselt und geschlachtet hatte, verwandelte Hermes auf Zeus’ Befehl Dionysos selbst in einen Bock und ließ ihn von Nymphen auf dem Berg Nysa irgendwo im Osten, womöglich sogar in Indien versorgen und (mit Honig) verwöhnen. Dort entdeckte er den Wein, seine bedeutendste Kulturleistung. Dazu von Ranke-Graves:

“Der wichtigste Schlüssel zu den Mysterien des Dionysos ist die Ausbreitung der Weinkultur... Trauben wuchsen wild an der südlichen Küste des Schwarzen Meeres. Von dort breitete sich ihr Anbau zum Berge Nysa in Libyen und über Palästina bis Kreta aus. Über Persien kam er nach Indien... Das kanaanitische Fest des Tabernakels war ursprünglich eine bacchantische Orgie.”

Laut Vergils Georgica opferte man Dionysos einen Ziegenbock (tragos), weil die Ziege durch ihr Knabbern den Weinstock schädigt.
Dionysos auf Panther

Als Dionysos erwachsen wurde, brach das ganze Kuddelmuddel in seinem Innern nach außen – Hera schlug ihn mit Wahnsinn. In seinem Wahn machte er, stets begleitet von einer wilden Horde von Satyrn und Mänaden, die ganze Welt unsicher, aber er verbreitete eben auch sein Rauschgetränk, den Wein, nach Ägypten (Pharos im Nildelta, der größte Hafen der Bronzezeit, spielte wahrscheinlich die Rolle des Verteilers bei der Verbreitung des Weins), nach Indien und nach Thrakien, wo Dionysos allerdings vom König der Edoner vernichtend geschlagen wurde. Wieder griff Oma Rhea rettend zugunsten des Enkels ein, schlug ihrerseits den König Lykurgos mit Wahnsinn, so daß der die Axt an einen vermeintlichen Weinstock legte, der allerdings sein eigener Sohn Dryas (“Eiche”) war. Darauf konnte der Weingott Dionysos Thrakien und Böotien erobern, wo der Überlieferung nach die ersten geheimen Feiern ihm zu Ehren, die Dionysien, gestiftet wurden, die trotz ihres wüst orgiastischen Charakters bereits eine zivilisiertere Nachfolgeform noch älterer Orgien mit Kiefernbier gewesen sein sollen (weshalb das Insignium des Gottes und seiner Mänaden, der Thyrsosstab, auch noch von einem Kiefernzapfen bekrönt wurde).
Pentheus, der Herrscher von Theben, war ein entschiedener Gegner von “Weibergeschrei und weinbetrunkener Tobsucht” (Ovid) und stieg selbst auf den Kithäron, wo die Mänaden ihre Party feierten. Als sie ihn, wohl schon ziemlich duhn, entdeckten, rissen ihn seine Tanten in Stücke und die eigene Mutter riss ihm den Kopf ab. Über den armen, vom Gott übelst gefoppten Pentheus (unter anderem ließ er ihn sein eigenes Kindheitstrauma wiederholen, nämlich in Mädchenkleidern herumzulaufen) hat Euripides kurz vor seinem Tod im makedonischen Pella die letzte und sehr resignative Tragödie seines Lebens geschrieben.
Als Pentheus gegen die jegliches Gesetz mißachtenden Ausschweifungen der von Dionysos berauschten Mänaden vorgehen will, läßt Euripides den gleich ihm hochbetagten Großvater Kadmos sagen:

Mein Sohn, der Seher hat dich gut belehrt:
O bleibe bei uns, bleibe im Gesetz!
Wenn dieser auch kein Gott ist, wie du sagst,
Verkünd ihn dennoch, lüge, daß er’s ist!

Und vor dem Finale furioso singt der Chor mit einem eigentümlich höhnischen Unterton am Ende:

Komm, leibhaftige Rache...
durchschneide die Kehle
dem Mann ohne Gott,
dem Mann ohne Brauch,
dem Mann ohne Recht...
der mit frevelndem Mute...
aufsteht in trotzigem Wahnsinn,
unüberwindliche Macht befehdet...

Was ist größer,
als fromm sein Leben verbringen,
Tage und Nächte
in schuldlosem Frieden,
Rechtloses meiden,
Götter verehren?

Dionysos’ Siegeszug um die Welt geht auch nach der Vernichtung des thebanischen Königshauses, das immerhin seinen Ruf vorübergehend schädigen konnte (“Grausames ward / mir von euch zuteil, / als ehrlos blieb / mein Name in Theben”), unaufhaltsam weiter, und er erzwingt, obwohl von einer menschlichen Mutter geboren, seine Anerkennung und Verehrung als Gott. Von Thrakien verbreitete sich sein Kult in die griechischen Zentren, nach Delphi, nach Korinth und Athen. In der Argolis stellte sich ihm noch einmal Perseus entgegen, der mythische, ebenfalls von Zeus gezeugte Heros, der die Gorgo Medusa tötete; doch Dionysos’ Macht über die Frauen, die anfangen im Rausch ihre eigenen Säuglinge roh zu verschlingen, muß Perseus nachgeben und ihm einen Tempel errichten.

Damit stehen wir nach einem langen Umweg schon wieder hier, vor dem Eingangstor von Mykene. Perseus nämlich soll die Stadt gegründet haben, nachdem er, durstig von einer Wanderung, an diesem Ort Wasser im Hut eines Pilzes fand.

Perseus_Gorgo

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Dienstag, 26. Oktober 2010
Krieg um Frauen


Nachdem sie zunächst jahrhundertelang von ihnen gelernt und vieles übernommen hatten, trieben die Achäer von Argos und Mykene aus selbst Handel mit den minoischen Kretern, von der Küste der Levante bis Sardinien, mit Ägypten, Troja und den Hethitern in Kleinasien, bevor sie Kreta “übernahmen”. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts v.u.Z. wurden auf der “Insel der hundert Städte”, wie man sie auch nannte, all die schönen minoischen Paläste niedergebrannt und zerstört – ein Vorbild, wie man dann mit Troja auch verfuhr? Einzig Knossos blieb verschont und wurde weiter genutzt, als Sitz der neuen Herren aus Mykene. “Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich in rücksichtsloser Feindschaft nach außen.” Richtig. Aber es blieb noch genügend Sprengstoff für gewaltige Erschütterungen auch im Innern.
Wie schon gesagt, all die bis zur Rückkehr Agamemnons verübten Schändlichkeiten erschütterten die Griechen anscheinend nicht über die Maßen. Dann kehrte der Sieger über Troja zurück. Allerdings, muß man in Klammern sagen, kam er nicht als makellos strahlender Triumphator, sondern müde und ernüchtert wie alle desillusionierten langgedienten Frontsoldaten, die Jahr nach Jahr den Dreck in den Gräben gesehen, die Monotonie des Lagerlebens ausgehalten und vor allem selbst die Hände mit dem Blut von Menschen besudelt haben.

“Die Götter warfen Lose, die den Männern Tod, der Stadt Verderben brachten; doch der andre Krug blieb leer... Nun zeigt nur mehr der Rauch den Ort der Stadt”, läßt Aischylos ihn als erstes beim Eintreffen in Argos sagen, und er lehnt es zunächst ab, den von seiner Königin entrollten roten Teppich zu betreten, bis sie ihn überredet, um ihretwillen nachzugeben. Es ist der erste kleine Sieg Klytemnästras über den Gatten, der auf den großen agonalen vorausdeutet.
Nur Eine vermag das zu sehen: Kassandra, die Beutefrau. “Wenn Klytemnästra war, wie ich sie mir vorstellte, konnte sie mit diesem Nichts den Thron nicht teilen”, erkennt Christa Wolfs Kassandra vor dem Löwentor Mykenes, bevor man sie hineinkarrt, ins Schlachthaus.

Bekanntlich war der Krieg um Troja ein Krieg um Frauen.
Erklärtermaßen. Helena, das geraubte/entlaufene Früchtchen war nur der Vorwand, der prominente Auslöser, aber bei weitem nicht die einzige. Worum bricht denn der verhängnisvolle Streit zwischen dem Erfolgsgaranten Achill und Agamemnon aus, der “Achill das Vieh” so lange schmollen läßt, bis die Griechen am Rand der Niederlage stehen?
Caracci: Briseis e Achille Um zwei geraubte Frauen aus der Kriegsbeute, erst Chryseis:
“Jene lös ich dir nicht, bis einst das Alter ihr nahet,
wann sie in meinem Palast in Argos, fern von der Heimat,
mir als Weberin dient und meines Bettes Genossin!”

Als nächste Briseis:
“Ich hole die rosige Tochter des Brises
selbst mir aus deinem Gezelt”,
zetert der hehre Völkerfürst Agamemnon.

Und womit stachelt der nach Odysseus zweitgrößte Demagoge im griechischen Heer, der greise Nestor, im zweiten Gesang der Ilias das Heer zum Bleiben auf, welche Durchhalteparole ruft er aus?

“Ich sag', uns winkte der hocherhabne Kronion
Jenes Tags, da wir stiegen in meerdurchgleitende Schiffe,
Argos' Volk, die Troer mit Mord und Verderben bedrohend:
Rechtshin zuckte sein Blitz, ein heilsweissagendes Zeichen!
Drum daß keiner zuvor wegdräng' und strebe zur Heimkehr,
Eh' er allhier mit einer der troischen Frauen geruhet.”

("Geruhet"! Ich wüßte gern, welches altgriechische Verb der Schulmeister Voss in Eutin hier geschönt hat.)

Der Führer des Griechenheers, Agamemnon, geruhte natürlich auch selbst zu ruhen. Seit Chryseis hatte er anscheinend Geschmack an Priesterinnen gefunden, doch nach vollendetem Gemetzel an den Trojanern war ihm keine Geringere mehr genehm als König Priamos’ eigene Tochter, die “Männer umwickelnde” (so der Name) Kassandra, an der sich einst sogar Appolls göttliche Leidenschaft entzündet hatte.
“Siehe, geschleppt ward jetzo des Priamus Tochter Cassandra,
Fliegenden Haars, vom Tempel und Heiligtum der Minerva”, wußte noch Vergil in der Aeneis zu berichten. Und so stand auch sie nach Verschleppung und Überfahrt dann vor dem Löwentor.
Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt. Diese Festung, einst uneinnehmbar, ein Steinhaufen jetzt, war das letzte, was sie sah. – Nah die zyklopisch gefügten Mauern, heute wie gestern, die dem Weg die Richtung geben: zum Tor hin, unter dem kein Blut hervorquillt. Ins Finstere. Ins Schlachthaus.

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Mittwoch, 20. Oktober 2010
Tor der Tore
All die bis zur Rückkehr Agamemnons aus Troja verübten Schändlich- und Scheußlichkeiten erschütterten die Griechen offenbar nicht sonderlich. “Der antike Grieche war ein Mörder”, soufflierte Miller am Fuß der Akropolis von Mykene.
“Er lebte in einer Welt von brutaler Klarheit, die den Geist quälte und verwirrte. Er befand sich mit der gesamten Menschheit im Krieg, auch mit sich selbst.” – Moment! Etwas Ähnliches hatte doch auch Nietzsche schon geschrieben. Ich schlug nach. Hier:
“Ich sah ihren [der alten Griechen] stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs – ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaßregeln, um sich voreinander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach außen: die Stadtbürger zerfleischten sich untereinander, damit die Stadtbürger jeder einzelnen vor sich selber Ruhe fänden.”
So stand es in der Götzendämmerung (“Was ich den Alten verdanke”). Ich drehte mich zu Miller um und sah ihm in die Augen. “Solltest du etwa...”
Er schlug den Blick nieder; dann sagte er verschämt: “Bei mir findet aber noch ein dialektischer Umschlag statt, denn ich schreibe weiter: Aus dieser wilden Anarchie entstanden die klaren, heilsamen, metaphysischen Spekulationen, die sogar heute noch die Welt bezaubern.”
Ich blickte ins Buch und dann wieder streng auf Miller. “N. war natürlich nicht so ein hoffnungslos in dieses Land verliebter Schwärmer wie du”, sagte ich. “‘Man lernt nicht von den Griechen, ihre Art ist zu fremd’, hat er geschrieben. Aber ich glaube, du weißt genau, daß es einen ähnlichen Umschlag oder eine gegenläufige Kraft auch bei ihm gibt, nämlich das Dionysische.”
“Wenn du meinst”, kürzte Miller ab. “Sollen wir jetzt nicht endlich die Burg besteigen?”
“Doch”, sagte ich.




Die breite Rampe hinauf und an den sieben Metern dicken Zyklopenmauern entlang schritten wir auf das berühmte Löwentor zu, und durchaus mit ein wenig Ehrfurcht vor den vier uralten gewaltigen Monolithen, die das Tor einrahmen, traten wir hindurch. Im Entlastungsdreieck über dem allein zwölf Tonnen schweren Türsturz flankierten zwei Löwen die Wappensäule der Burg. Ihre Köpfe hatten ursprünglich vielleicht aus Bronze bestanden, mit farbig eingesetzten Augen, die auf Näherkommende und die von ihnen beherrschte Ebene von Argos herabfunkelten. Die Emblematik war klar, die Löwen bewachten Haus und Heiligtum. Die kräftige Säule, auf deren Kapitel vier dachtragende Rundhölzer ruhen, erhebt sich über einem Altar. Hinter diesem Tor, so die Aussage, befindet sich das Zentrum, das Allerheiligste, und die mächtigen Löwen, die Kriegerkönige von Mykene, bewachten und schützten es mit hoch aufgerichteter Drohgebärde. Die Atriden selbst, die Vorfahren des homerischen Agamemnon, sollen das Tor errichtet haben, vor 3300 Jahren. Es ist die älteste Monumentalplastik Europas.

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Samstag, 16. Oktober 2010
Der blutige Felsen von Mykene


Da oben also, da soll sich alles ereignet haben, die Familientragödie, die das Grausigste von allem enthält, was man sich vorstellen oder auch nicht vorstellen kann: Gattenmord, (Stief-)vatermord, Muttermord, in den Generationen davor Brudermorde, Inzest und sogar das Schlachten und Verzehren von Neffen und eigenen Kindern.
Die von Zyklopen aufgetürmten Mauern konnten die Burg und ihre Bewohner vor diesen Tragödien nicht schützen, denn sie öffneten dem Unheil jeweils selbst das Löwentor und ließen es herein, freiwillig, wie man eben dem Mann, dem Sohn, dem Bruder die Tür öffnet.
Ihr Götter, macht ein Ende dieser Qual!
Jahraus, jahrein lieg ich als Wächter hier
Auf Atreus’ Zinnen wie ein Hund gekrümmt
Und schau der Sterne nächtlich Treffen...
Die gesamte abendländische Dramengeschichte hat sich an diesem Stoff abgearbeitet, von Goethes Iphigenie über Giraudouxs, Hauptmanns und Hofmannsthals Elektren zu O’Neill (und Christa Wolf) und in der Antike natürlich schon Die großen Drei der attischen Tragödie Sophokles, Euripides und Aischylos, der Schöpfer und Erfinder des Dramas und Theaters.

Vorher gab es kultische Weihespiele für den mit Wahnsinn geschlagenen ekstatischen Weingott Dionysos, der auch den Beinamen Dithyrambos trug. Nach ihm sind also die gleichnamigen strophischen Gesänge benannt, die schon im 7. vorchristlichen Jahrhundert bei den kultischen Feiern zu seinen Ehren von Chor und Vorsänger gesungen und getanzt wurden (griech. choros = Tanzplatz.) Auf einer Tontafel aus dem “Palast des Nestor” im messenischen Chora (!) wird Dionysos schon im 13. Jahrhundert v.u.Z. als Gott verherrlicht. Laut dem unerschöpflichen von Ranke-Graves ist Dionysos vergöttlichte Allegorie der Ausbreitung des Weinbaus, der in minoischer Bronzezeit über Kreta nach Griechenland kam (auch das griech. Wort oinos für Wein ist kretischer Herkunft), wo sein von berauschten Priesterinnen (Mainaden) ausgeübter orgiastischer Kult einen älteren Bierkult ersetzt haben soll. Im 7. und frühen 6. Jh. führten die Tyrannen von Korinth (Periander), Sikyon (Kleisthenes) und Athen (Peisistratos) die ursprünglich in Thrakien entstandenen Dionysosfeiern auch in ihren Städten ein, und Arion von Lesbos entwickelte den Dithyrambos in Korinth zur eigenständigen Kunstform, der sich dann Pindar als großer Meister annahm, bis 2400 Jahre später der andere Dithyrambendichter – Nur Narr! nur Dichter! – dem Dionysos noch einmal feiernde Lieder sang.
“Nur ein Dichter! / ein Tier, ein listiges, raubendes, schleichendes, / das lügen muß, / das wissentlich, willentlich lügen muß... Nicht still, starr, glatt, kalt, / zum Bilde geworden, / zur Gottes-Säule, / nicht aufgestellt vor Tempeln, / eines Gottes Türwart: / nein, feindselig solchen Tugend-Standbildern, / in jeder Wildnis heimischer als in Tempeln... adlerhaft, pantherhaft / sind des Dichters Sehnsüchte... den Gott zerreißen im Menschen / wie das Schaf im Menschen / und zerreißend lachen - / das, das ist deine Seligkeit.”

“Plötzlich / geraden Flugs, / gezückten Zugs / auf Lämmer stoßen, / jach hinab, heißhungrig / nach Lämmern lüstern, / gram allen Lamms-Seelen, / grimmig gram allem, was blickt / tugendhaft, schafmäßig, krauswollig, / dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen...”
Ja, nach Lämmern lüstern, schlacht- und heißhungrig, so treten auch die Fürsten von Mykene in das Licht des Mythos:
PELOPS, von seinem eigenen Vater Tantalos in Stücke geschnitten und gekocht den Göttern als Speise vorgesetzt, um deren Allwissenheit auf die Probe zu stellen, stürzte nach seiner Wiederherstellung durch die den Lebensfaden spinnende Moira Klotho den Wagenlenker seines verräterischen Schwiegervaters und Sohn des Hermes von einer Klippe in den Tod – erste Erfüllung des von den Göttern der Tantalidensippe bis in die fünfte Generation auferlegten Fluchs, Mörder zu werden.
Sohn ATREUS (= “Furchtlos”), beseitigte auf Anstiften seiner Mutter zunächst seinen Halbbruder, den Pelops mit einer Nymphe gezeugt hatte. Später, nachdem seine Frau ihn mit seinem Bruder Thyestes betrogen und dieser seinen Thron beansprucht hatte, zerlegte Atreus nach dem Vorbild seines Großvaters des Bruders Söhne und tischte sie ihm auf. Ein neuerlicher Sohn mit Namen Aigisthos, den Thyestes auf Rat eines Orakels mit seiner eigenen Tochter zeugte, ermordete den Atreus und setzte seinen Vater wieder auf den mykenischen Thron. Atreus’ Söhne, Agamemnon und Menelaos, gingen vorsorglich ins Exil und warteten auf ihre Stunde. Als sie kam, verjagten sie Thyestes mit Hilfe der Spartaner. Menelaos heiratete ins spartanische Königshaus ein: die schöne Helena. AGAMEMNON (= “der sehr Energische”) erschlägt Thyestes’ Sohn Tantalos und nimmt gewaltsam dessen Weib zur Frau: Klytemnästra.
“Du hast mich nicht gefreit, hast mich geraubt,
erschlugst den ersten Gatten Tantalos,
entrissest meiner Brust das kleine Kind,
von deiner Hand zerschmettert lag es da”
(Euripides: Iphigenie in Aulis)
Einer der Gründe dafür, daß Klytemnästra gewisse Vorbehalte gegen ihren zweiten Mann zeit seines Lebens nicht los wird.
Der aber setzt sich zunächst siegreich die Krone seines Vaters auf und steigt nach Helenas Durchbrennen mit Paris zum Führer der Griechenkoalition und Großen Flotte gegen Troja auf. Homer läßt ihm im Elften Gesang der Ilias seine Aristie zukommen:
Atreus' Sohn auch rief und ermahnete, schnell sich zu gürten,
Argos' Volk; auch deckt' er sich selbst mit blendendem Erze.
Eilend fügt' er zuerst um die Beine sich bergende Schienen,
Blank und schön, anschließend mit silberner Knöchelbedeckung;
Weiter umschirmt' er die Brust ringsher mit dem ehernen Harnisch...
Ringsum wechselten zehn blauschimmernde Streifen des Stahles,
Zwölf aus funkelndem Gold', und zwanzig andre des Zinnes;
Auch drei bläuliche Drachen erhuben sich gegen den Hals ihm
Beiderseits, voll Glanz wie Regenbogen, die Kronos'
Sohn in die Wolken gestellt, den redenden Menschen zum Zeichen.
Hierauf warf er das Schwert um die Schulter sich: goldene Buckeln
Leuchteten über das Heft; und die Kling' umhüllte die Scheide,
Silberhell, am Gehenk von strahlendem Golde befestigt.
Drauf den gewaltigen Schild, den ringsbedeckenden, hub er,
Schön von Kunst: ihm liefen umher zehn eherne Kreise;
Auch umblinkten ihn zwanzig von Zinn gewölbete Nabel,
Weiß, und der mittlere war von dunkeler Bläue des Stahles.
Auch die Schreckengestalt der Gorgo drohete schlängelnd,
Mit wutfunkelndem Blick, und umher war Graun und Entsetzen.
Silbern war des Schildes Gehenk; und gräßlich auf diesem
Schlängelt' ein bläulicher Drache dahin; drei Häupter des Scheusals
Waren umhergekrümmt, aus einem Halse sich windend.
Drauf umschloß er das Haupt mit des Helms viergipflichter Kuppel,
Von Roßhaaren umwallt; und fürchterlich winkte der Helmbusch.
Auch zwo mächtige Lanzen, gespitzt mit der Schärfe des Erzes,
Faßte der Held, daß ferne das Erz zum erhabenen Himmel
Leuchtete. Laut her donnerten nun Athenäa und Here,
Hoch zu ehren den König der golddurchstrahlten Mykene.”
In ähnlichem Aufputz kehrt er nach der Zerstörung Trojas zehn Jahre nach dem Aufbruch nach Mykene zurück.

Agamemnons Heimkehr  c) Gutenberg

“Ich eil, aufs beste meinen hohen Herrn
bei seiner Heimkehr zu empfangen, strahlt
doch keiner Frau ein schöner Licht als dies:
dem Gatten, den ein Gott im Feld beschützt,
die Tore öffnen”,
säuselt Klytemnästra begeistert vor Freude.
“Er eile in die Arme seiner Stadt!
Im Hause träf er eine treue Frau,
wie je zuvor des Hauses Hund...
Ja, ganz dieselbe und ganz unversehrt
das Siegel hütend in der langen Zeit.”
Über Odysseus’ vermeintlich noch viel länger treues Eheweib hat der von mir sehr geschätzte finnische Aphoristiker Henrik Tikkanen einmal geschrieben:
“Ich glaube nicht einen einzigen Augenblick, daß Penelope ihrem Mann all die Jahre über treu blieb, die er sich in der Ferne aufhielt. Ich glaube vielmehr, daß auf Ithaka wild herumgevögelt wurde, und bin der Meinung, daß war auch nur recht so. Den alten Heuchler Homer soll der Teufel holen.”
Und was sagt der Chorführer auf Klytemnästras Treueversicherung?
"Das war ein Wort, das gute Deuter braucht."

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Dienstag, 12. Oktober 2010
Nauplia
Zwischen drei und halb vier in der Nacht trafen wir in Nafplio ein. Erstaunlicherweise hatte noch ein Kiosk geöffnet, wo wir Wasser kaufen konnten. (Selbst das nehmen sie einem heute ja vor dem Besteigen eines Flugzeugs ab.) Wir rollten hinab zum Hafen, stellten den Wagen auf einem leeren Parkplatz unter einen Baum und klappten die Rücklehnen zurück. Für die paar Stunden bis zum Hellwerden lohnte sich kein Hotelzimmer mehr.
Der erste Sonnenstrahl, der über die Berge fiel, weckte mich. Die anderen schliefen noch. Ich öffnete leise die Wagentür und stieg aus. Mild, war das erste Wort, das mir einfiel. Mild war die Luft, war die Temperatur und war das Frühlicht, das durch leichten Frühdunst in die weite Bucht von Nauplia rieselte. Die Felsen der Berge am jenseitigen Ufer leuchteten in gedämpftem Rosa, die Inselfestung im Hafen mit dem putzig klingenden Namen Bourtzi strahlte schon in einem kräftigeren, warmen Sonnengelb.
Ich dehnte und reckte mich wie ein alter Kater nach dem Mittagsschlaf, überquerte die schmalen Gleise der Peloponnes-Eisenbahn und ging die wenigen Schritte bis zur Hafenmauer, an der ein paar kleinere Frachter unter türkischer Flagge und einige Fischerboote festgemacht hatten. Von diesem Hafen waren schon vor 3300 Jahren Schiffe nach Ägypten ausgelaufen. Der Goldene Pharao Amenophis III. ließ Neply in ein Register seiner Fernhandelsorte aufnehmen. Nur siebenhundert Jahre später wurde es vom benachbarten Argos überwältigt und diente ihm als Hafen, und vierhundert Jahre darauf wurde es von seinen Einwohnern verlassen. Die Byzantiner gründeten den Ort neu, aber nach dem Fall Konstantinopels bauten die Venetianer die eigentliche heutige Altstadt, das “Napoli di Romania”, und das war sein Glück, denn wie sich mir auch auf dieser Reise wieder bestätigen sollte, konnten Griechen vielleicht eine Akropolis befestigen und eindrucksvolle Tempel bauen, aber keine schönen Städte. Griechenstädte sind wahllose Agglomerate gesichtsloser, oft nicht einmal fertiggestellter Billighäuser. (Ähnlich sieht es Richard Clogg in seiner Concise History of Greece für die gesamte Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg: “There continued to be a marked reluctance to invest in anything other than bricks and mortar, and particularly the latter, as apartment blocks constructed of reinforced concrete cut an unattractive swathe through Athens, Salonica and, increasingly, many provinicial towns, sometimes giving the impression that the country was one vast building site.”)
Wo es in Griechenland eine erkennbar geplante Stadtanlage mit schönen Plätzen und ausgewogenen Proportionen gibt, waren Venetianer am Werk. In Nafplio haben sie auf etlichen Gebäuden mit Reliefs des Markuslöwen unabweisbar ihren Stempel hinterlassen, und ihr ehemaliges Arsenal ist noch immer das stattlichste Gebäude, auf das die ganze Stadtachse ausgerichtet ist, aber es reicht eigentlich schon, sich das regelmäßige Netz der Altstadtgassen am Fuß des Burgbergs und vor allem die Plätze anzusehen, um Bescheid zu wissen. Der schönste von ihnen ist der Syntagma- oder Verfassungsplatz, der auch so heißt, weil in der ehemaligen türkischen Moschee mit ihrer noch immer markanten Kuppel nach der griechischen Unabhängigkeit 1825 das erste griechische Parlament zusammentrat. Nafplio war damals die Hauptstadt des freien Griechenlands.
Dann kam König Otto. Nein, nicht Rehakles, sondern von Wittelsbach. Nachdem zwei andere fürstliche Kandidaten dankend abgelehnt hatten, wählte ihn die griechische Nationalversammlung auf sanften Druck der europäischen Großmächte 1832 zum König von Griechenland. Noch minderjährig traf er mit seinem bayerischen Regentschaftsrat in Nafplio ein und brachte vor allem das bayerische Reinheitsgebot fürs Bierbrauen mit. Als er mit zwanzig selbst die Regierungsgeschäfte übernehmen durfte, zeigte sich, daß der junge Mann ganz alte Vorstellungen von Monarchie im Kopf hatte. Eine Verfassung etwa hielt er für überflüssigen neumodischen Quatsch, bis ihn ein Putsch des Militärs, der sich zu einem allgemeinen Volksaufstand ausweitete, Mores lehrte.
Er tröstete sich durch eine Affäre mit einer ehemaligen Mätresse seines eigenen Vaters, Lady Jane Digby (interessante Biographie übrigens). Die Dame war in erster Ehe mit dem britischen Vizekönig von Indien und später noch dreimal verheiratet, hatte fünf Kinder und mindestens zehn namentlich bekannte hochrangige Liebhaber; zuletzt heiratete sie mit 46 einen fast halb so alten syrischen Scheich, lebte mit ihm abwechselnd ein halbes Jahr im Beduinenzelt und das andere Halbjahr in ihrem Palast in Damaskus.
“No European woman had visited Palmyra between Lady Hester (Stanhope) and Jane Digby and the British consul in Damascus was determined to stop her making such a foolhardy journey”, schreibt John Ure in seinem Buch über englische Exzentriker mit einem Faible für die Wüste (In Search of Nomads). “Jane set out none the less accompanied by a good-looking young sheikh called Medjuel, who defended her at the risk of his life when their caravan was attacked by horsemen from a hostile tribe. He escorted her with gallantry at every step of the way, and – given her notorious susceptibility and remarkable beauty – it was hardly surprising that she fell in love with him and he with her... No one expected the relationship to last, but last it did.”
Währenddessen war Otto Basileus längst von den Griechen außer Landes gejagt worden und hatte sich in einer Residenz in Bamberg verkrochen, wo er täglich eine Stunde mit seiner Frau Gemahlin auf Griechisch konversierte. Heinrich Heine dichtete auf ihn:
“Herr Ludwig ist ein mutiger Held,
Wie Otto, das Kind, sein Söhnchen;
Der kriegte den Durchfall zu Athen,
Und hat dort besudelt sein Thrönchen.”

Der Bayer Otto von Griechenland in seinem bayerischen Exil, 1865


Ich widmete dem Thronbesudler in leise spöttischem Gedenken meinen ersten griechischen Mokka auf dem Verfassungsplatz. “Griechenland, mein liebes Griechenland”, sollen angeblich seine letzten Worte gewesen sein. Mein Griechenland, ich geb’s zu, war immer noch eher das von Theodorakis, Maria Farantouri und Costa Gavras und all den anderen Griechen, die 1974 die Obristenjunta zum Teufel jagten. Fünf Jahre danach war ich zum letzten Mal in Griechenland gewesen. Das war über dreißig Jahre her, und Griechenland konnte natürlich nicht mehr das gleiche Land sein wie damals. Ich war neugierig, in welche Richtung es sich verändert hatte; aber große Hoffnungen machte ich mir nicht.

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Sonntag, 10. Oktober 2010
Grün, nicht blau
Am Abend des Abflugs hatte es in Amsterdam aus dunklen Wolken geregnet, die fast die Erde berührten, wie üblich in den letzten Tagen, den letzten Wochen. Nach der nächtlichen Landung in Athen wehte uns trotz der mitternächtlichen Stunde eine laue, mittelmeerische Brise an. Wir reisten diesmal zu viert; mein persönlicher Pleonasmus, die wojwodinische Herzogin, mein Bruder und Der Koloß von Maroussi des verrückten Henry Miller. Im Verlauf der Reise sollten uns noch einige schrille Typen begegnen.
Zu sehen gab es zunächst wenig. Die Leitplanken, Betonwände, Mittel- und Seitenstreifen einer Autobahn, die aussah wie alle Autobahnen, glitten aus dem Dunkel kommend und wieder in ihm verschwindend wie die Schleifen von Endlosbändern am Rand unserer Blickfelder vorüber, die Schilder der Ausfahrten leuchteten im Scheinwerferlicht grün auf, nicht im gewohnten Blau. Grün, nicht blau, das war zunächst der Unterschied zwischen Griechenland und Mitteleuropa.
Aber die Gerüche, die durchs geöffnete Seitenfenster strömten! Zuerst roch es nach Kerosin, dann nach Erde und trockenem Gras, nach einer Chemiefabrik, die Marzipanaroma herstellte, nach Ouzo und Anis, nach Abwässern und Kloake, nach Mastix und Kiefern.
“Man sollte auf der ‘Heiligen Straße’ nicht in einem Auto dahinrasen, das ist Gotteslästerung”, merkte Miller vom Rücksitz an. “Diese Straße ist keine Straße des Christentums, die Füße frommer Heiden haben sie auf dem Weg zur Weihe in Eleusis geschaffen. Dieser Prozessionsweg weiß nichts von Leiden, von Märtyrern, von Geißelung des Fleisches. Auch heute spricht hier, wie schon vor Jahrhunderten, alles von Erleuchtung, von betörender, freudvoller Erleuchtung. Das Licht nimmt eine übernatürliche Beschaffenheit an. Man muß zweitausend Jahre der Unwissenheit und des Aberglaubens von sich abwerfen, des krankhaften, widerlich unterirdischen Lebens und Lügens. In Eleusis erkennt man, daß es keine Rettung gibt, wenn man sich einer irrsinnigen Welt anpaßt.”
ELEFSÍNA war ein grünes Schild in dunkler Nacht in einer irrsinnigen Welt. Zweitausend Jahre lang wurden sie ekstatisch gefeiert, aber nun gab es schon seit über fünfzehnhundert Jahren keine Mysterien mehr. (Nur meine Vorbehalte gegen Granatäpfel waren geblieben.) Das grüne Schild blieb genauso schnell am Wegrand zurück wie KORINTHOS, bewohnt von Pelasgern schon vor der Einwanderung der ersten Griechen, später war hier Sisyphos König. Für eine Quelle auf Akrokorinth verriet er die Abwege des Zeus mit der Nymphe Aigina, war schlauer als der Tod und schlug in ihn Ketten, sodaß kein Mensch mehr sterben mußte. Für mich eine viel größere Tat als die des Herakles, dem Nemeischen Löwen das Fell über die Ohren zu ziehen, [ARCHEA NEMEA 500m] sst... vorbei. Wir verließen die Autobahn. Eine gewundene Landstraße, keine Beleuchtung mehr, die Nacht noch dunkler, so dunkel wie keine Nacht im dauerbeleuchteten Gewächshausholland. Ich trat auf die Bremse, hielt mitten im Nirgendwo, stieg aus, legte den Kopf in den Nacken: Was für ein Sternenhimmel! (Und in den Pays bas regnete es aus einer dichten Wolkendecke.) Milch heißt auf Griechisch gala, milchig galaktodes und galaxías die Milchstraße. Da oben war sie, zum Greifen deutlich. Und viel, viel mehr Sterne, als ich beim Namen nennen konnte. Ehrfürchtiges, stummes Staunen unten auf Erden, minutenlang. Dann einsteigen und weiterfahren. Ich hatte uns im stillen ein Ziel gesteckt, dort wollte ich an unserem ersten Morgen in Griechenland die Sonne aufgehen sehen und am Hafen oder auf einem der hübschen, kleinen Plätze, die ich von damals noch in Erinnerung hatte, frühstücken. Miller auf der Rückbank plauschte es aus: “In ein paar Stunden sollten wir in Nauplia sein, in der Nähe so atemberaubender Orte wie Argos, Tiryns, Mykenä und Epidauros.”

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