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Samstag, 16. Oktober 2010
Der blutige Felsen von Mykene


Da oben also, da soll sich alles ereignet haben, die Familientragödie, die das Grausigste von allem enthält, was man sich vorstellen oder auch nicht vorstellen kann: Gattenmord, (Stief-)vatermord, Muttermord, in den Generationen davor Brudermorde, Inzest und sogar das Schlachten und Verzehren von Neffen und eigenen Kindern.
Die von Zyklopen aufgetürmten Mauern konnten die Burg und ihre Bewohner vor diesen Tragödien nicht schützen, denn sie öffneten dem Unheil jeweils selbst das Löwentor und ließen es herein, freiwillig, wie man eben dem Mann, dem Sohn, dem Bruder die Tür öffnet.
Ihr Götter, macht ein Ende dieser Qual!
Jahraus, jahrein lieg ich als Wächter hier
Auf Atreus’ Zinnen wie ein Hund gekrümmt
Und schau der Sterne nächtlich Treffen...
Die gesamte abendländische Dramengeschichte hat sich an diesem Stoff abgearbeitet, von Goethes Iphigenie über Giraudouxs, Hauptmanns und Hofmannsthals Elektren zu O’Neill (und Christa Wolf) und in der Antike natürlich schon Die großen Drei der attischen Tragödie Sophokles, Euripides und Aischylos, der Schöpfer und Erfinder des Dramas und Theaters.

Vorher gab es kultische Weihespiele für den mit Wahnsinn geschlagenen ekstatischen Weingott Dionysos, der auch den Beinamen Dithyrambos trug. Nach ihm sind also die gleichnamigen strophischen Gesänge benannt, die schon im 7. vorchristlichen Jahrhundert bei den kultischen Feiern zu seinen Ehren von Chor und Vorsänger gesungen und getanzt wurden (griech. choros = Tanzplatz.) Auf einer Tontafel aus dem “Palast des Nestor” im messenischen Chora (!) wird Dionysos schon im 13. Jahrhundert v.u.Z. als Gott verherrlicht. Laut dem unerschöpflichen von Ranke-Graves ist Dionysos vergöttlichte Allegorie der Ausbreitung des Weinbaus, der in minoischer Bronzezeit über Kreta nach Griechenland kam (auch das griech. Wort oinos für Wein ist kretischer Herkunft), wo sein von berauschten Priesterinnen (Mainaden) ausgeübter orgiastischer Kult einen älteren Bierkult ersetzt haben soll. Im 7. und frühen 6. Jh. führten die Tyrannen von Korinth (Periander), Sikyon (Kleisthenes) und Athen (Peisistratos) die ursprünglich in Thrakien entstandenen Dionysosfeiern auch in ihren Städten ein, und Arion von Lesbos entwickelte den Dithyrambos in Korinth zur eigenständigen Kunstform, der sich dann Pindar als großer Meister annahm, bis 2400 Jahre später der andere Dithyrambendichter – Nur Narr! nur Dichter! – dem Dionysos noch einmal feiernde Lieder sang.
“Nur ein Dichter! / ein Tier, ein listiges, raubendes, schleichendes, / das lügen muß, / das wissentlich, willentlich lügen muß... Nicht still, starr, glatt, kalt, / zum Bilde geworden, / zur Gottes-Säule, / nicht aufgestellt vor Tempeln, / eines Gottes Türwart: / nein, feindselig solchen Tugend-Standbildern, / in jeder Wildnis heimischer als in Tempeln... adlerhaft, pantherhaft / sind des Dichters Sehnsüchte... den Gott zerreißen im Menschen / wie das Schaf im Menschen / und zerreißend lachen - / das, das ist deine Seligkeit.”

“Plötzlich / geraden Flugs, / gezückten Zugs / auf Lämmer stoßen, / jach hinab, heißhungrig / nach Lämmern lüstern, / gram allen Lamms-Seelen, / grimmig gram allem, was blickt / tugendhaft, schafmäßig, krauswollig, / dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen...”
Ja, nach Lämmern lüstern, schlacht- und heißhungrig, so treten auch die Fürsten von Mykene in das Licht des Mythos:
PELOPS, von seinem eigenen Vater Tantalos in Stücke geschnitten und gekocht den Göttern als Speise vorgesetzt, um deren Allwissenheit auf die Probe zu stellen, stürzte nach seiner Wiederherstellung durch die den Lebensfaden spinnende Moira Klotho den Wagenlenker seines verräterischen Schwiegervaters und Sohn des Hermes von einer Klippe in den Tod – erste Erfüllung des von den Göttern der Tantalidensippe bis in die fünfte Generation auferlegten Fluchs, Mörder zu werden.
Sohn ATREUS (= “Furchtlos”), beseitigte auf Anstiften seiner Mutter zunächst seinen Halbbruder, den Pelops mit einer Nymphe gezeugt hatte. Später, nachdem seine Frau ihn mit seinem Bruder Thyestes betrogen und dieser seinen Thron beansprucht hatte, zerlegte Atreus nach dem Vorbild seines Großvaters des Bruders Söhne und tischte sie ihm auf. Ein neuerlicher Sohn mit Namen Aigisthos, den Thyestes auf Rat eines Orakels mit seiner eigenen Tochter zeugte, ermordete den Atreus und setzte seinen Vater wieder auf den mykenischen Thron. Atreus’ Söhne, Agamemnon und Menelaos, gingen vorsorglich ins Exil und warteten auf ihre Stunde. Als sie kam, verjagten sie Thyestes mit Hilfe der Spartaner. Menelaos heiratete ins spartanische Königshaus ein: die schöne Helena. AGAMEMNON (= “der sehr Energische”) erschlägt Thyestes’ Sohn Tantalos und nimmt gewaltsam dessen Weib zur Frau: Klytemnästra.
“Du hast mich nicht gefreit, hast mich geraubt,
erschlugst den ersten Gatten Tantalos,
entrissest meiner Brust das kleine Kind,
von deiner Hand zerschmettert lag es da”
(Euripides: Iphigenie in Aulis)
Einer der Gründe dafür, daß Klytemnästra gewisse Vorbehalte gegen ihren zweiten Mann zeit seines Lebens nicht los wird.
Der aber setzt sich zunächst siegreich die Krone seines Vaters auf und steigt nach Helenas Durchbrennen mit Paris zum Führer der Griechenkoalition und Großen Flotte gegen Troja auf. Homer läßt ihm im Elften Gesang der Ilias seine Aristie zukommen:
Atreus' Sohn auch rief und ermahnete, schnell sich zu gürten,
Argos' Volk; auch deckt' er sich selbst mit blendendem Erze.
Eilend fügt' er zuerst um die Beine sich bergende Schienen,
Blank und schön, anschließend mit silberner Knöchelbedeckung;
Weiter umschirmt' er die Brust ringsher mit dem ehernen Harnisch...
Ringsum wechselten zehn blauschimmernde Streifen des Stahles,
Zwölf aus funkelndem Gold', und zwanzig andre des Zinnes;
Auch drei bläuliche Drachen erhuben sich gegen den Hals ihm
Beiderseits, voll Glanz wie Regenbogen, die Kronos'
Sohn in die Wolken gestellt, den redenden Menschen zum Zeichen.
Hierauf warf er das Schwert um die Schulter sich: goldene Buckeln
Leuchteten über das Heft; und die Kling' umhüllte die Scheide,
Silberhell, am Gehenk von strahlendem Golde befestigt.
Drauf den gewaltigen Schild, den ringsbedeckenden, hub er,
Schön von Kunst: ihm liefen umher zehn eherne Kreise;
Auch umblinkten ihn zwanzig von Zinn gewölbete Nabel,
Weiß, und der mittlere war von dunkeler Bläue des Stahles.
Auch die Schreckengestalt der Gorgo drohete schlängelnd,
Mit wutfunkelndem Blick, und umher war Graun und Entsetzen.
Silbern war des Schildes Gehenk; und gräßlich auf diesem
Schlängelt' ein bläulicher Drache dahin; drei Häupter des Scheusals
Waren umhergekrümmt, aus einem Halse sich windend.
Drauf umschloß er das Haupt mit des Helms viergipflichter Kuppel,
Von Roßhaaren umwallt; und fürchterlich winkte der Helmbusch.
Auch zwo mächtige Lanzen, gespitzt mit der Schärfe des Erzes,
Faßte der Held, daß ferne das Erz zum erhabenen Himmel
Leuchtete. Laut her donnerten nun Athenäa und Here,
Hoch zu ehren den König der golddurchstrahlten Mykene.”
In ähnlichem Aufputz kehrt er nach der Zerstörung Trojas zehn Jahre nach dem Aufbruch nach Mykene zurück.

Agamemnons Heimkehr  c) Gutenberg

“Ich eil, aufs beste meinen hohen Herrn
bei seiner Heimkehr zu empfangen, strahlt
doch keiner Frau ein schöner Licht als dies:
dem Gatten, den ein Gott im Feld beschützt,
die Tore öffnen”,
säuselt Klytemnästra begeistert vor Freude.
“Er eile in die Arme seiner Stadt!
Im Hause träf er eine treue Frau,
wie je zuvor des Hauses Hund...
Ja, ganz dieselbe und ganz unversehrt
das Siegel hütend in der langen Zeit.”
Über Odysseus’ vermeintlich noch viel länger treues Eheweib hat der von mir sehr geschätzte finnische Aphoristiker Henrik Tikkanen einmal geschrieben:
“Ich glaube nicht einen einzigen Augenblick, daß Penelope ihrem Mann all die Jahre über treu blieb, die er sich in der Ferne aufhielt. Ich glaube vielmehr, daß auf Ithaka wild herumgevögelt wurde, und bin der Meinung, daß war auch nur recht so. Den alten Heuchler Homer soll der Teufel holen.”
Und was sagt der Chorführer auf Klytemnästras Treueversicherung?
"Das war ein Wort, das gute Deuter braucht."

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