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Mittwoch, 20. Oktober 2010
Tor der Tore
All die bis zur Rückkehr Agamemnons aus Troja verübten Schändlich- und Scheußlichkeiten erschütterten die Griechen offenbar nicht sonderlich. “Der antike Grieche war ein Mörder”, soufflierte Miller am Fuß der Akropolis von Mykene.
“Er lebte in einer Welt von brutaler Klarheit, die den Geist quälte und verwirrte. Er befand sich mit der gesamten Menschheit im Krieg, auch mit sich selbst.” – Moment! Etwas Ähnliches hatte doch auch Nietzsche schon geschrieben. Ich schlug nach. Hier:
“Ich sah ihren [der alten Griechen] stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs – ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaßregeln, um sich voreinander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach außen: die Stadtbürger zerfleischten sich untereinander, damit die Stadtbürger jeder einzelnen vor sich selber Ruhe fänden.”
So stand es in der Götzendämmerung (“Was ich den Alten verdanke”). Ich drehte mich zu Miller um und sah ihm in die Augen. “Solltest du etwa...”
Er schlug den Blick nieder; dann sagte er verschämt: “Bei mir findet aber noch ein dialektischer Umschlag statt, denn ich schreibe weiter: Aus dieser wilden Anarchie entstanden die klaren, heilsamen, metaphysischen Spekulationen, die sogar heute noch die Welt bezaubern.”
Ich blickte ins Buch und dann wieder streng auf Miller. “N. war natürlich nicht so ein hoffnungslos in dieses Land verliebter Schwärmer wie du”, sagte ich. “‘Man lernt nicht von den Griechen, ihre Art ist zu fremd’, hat er geschrieben. Aber ich glaube, du weißt genau, daß es einen ähnlichen Umschlag oder eine gegenläufige Kraft auch bei ihm gibt, nämlich das Dionysische.”
“Wenn du meinst”, kürzte Miller ab. “Sollen wir jetzt nicht endlich die Burg besteigen?”
“Doch”, sagte ich.




Die breite Rampe hinauf und an den sieben Metern dicken Zyklopenmauern entlang schritten wir auf das berühmte Löwentor zu, und durchaus mit ein wenig Ehrfurcht vor den vier uralten gewaltigen Monolithen, die das Tor einrahmen, traten wir hindurch. Im Entlastungsdreieck über dem allein zwölf Tonnen schweren Türsturz flankierten zwei Löwen die Wappensäule der Burg. Ihre Köpfe hatten ursprünglich vielleicht aus Bronze bestanden, mit farbig eingesetzten Augen, die auf Näherkommende und die von ihnen beherrschte Ebene von Argos herabfunkelten. Die Emblematik war klar, die Löwen bewachten Haus und Heiligtum. Die kräftige Säule, auf deren Kapitel vier dachtragende Rundhölzer ruhen, erhebt sich über einem Altar. Hinter diesem Tor, so die Aussage, befindet sich das Zentrum, das Allerheiligste, und die mächtigen Löwen, die Kriegerkönige von Mykene, bewachten und schützten es mit hoch aufgerichteter Drohgebärde. Die Atriden selbst, die Vorfahren des homerischen Agamemnon, sollen das Tor errichtet haben, vor 3300 Jahren. Es ist die älteste Monumentalplastik Europas.

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Samstag, 16. Oktober 2010
Der blutige Felsen von Mykene


Da oben also, da soll sich alles ereignet haben, die Familientragödie, die das Grausigste von allem enthält, was man sich vorstellen oder auch nicht vorstellen kann: Gattenmord, (Stief-)vatermord, Muttermord, in den Generationen davor Brudermorde, Inzest und sogar das Schlachten und Verzehren von Neffen und eigenen Kindern.
Die von Zyklopen aufgetürmten Mauern konnten die Burg und ihre Bewohner vor diesen Tragödien nicht schützen, denn sie öffneten dem Unheil jeweils selbst das Löwentor und ließen es herein, freiwillig, wie man eben dem Mann, dem Sohn, dem Bruder die Tür öffnet.
Ihr Götter, macht ein Ende dieser Qual!
Jahraus, jahrein lieg ich als Wächter hier
Auf Atreus’ Zinnen wie ein Hund gekrümmt
Und schau der Sterne nächtlich Treffen...
Die gesamte abendländische Dramengeschichte hat sich an diesem Stoff abgearbeitet, von Goethes Iphigenie über Giraudouxs, Hauptmanns und Hofmannsthals Elektren zu O’Neill (und Christa Wolf) und in der Antike natürlich schon Die großen Drei der attischen Tragödie Sophokles, Euripides und Aischylos, der Schöpfer und Erfinder des Dramas und Theaters.

Vorher gab es kultische Weihespiele für den mit Wahnsinn geschlagenen ekstatischen Weingott Dionysos, der auch den Beinamen Dithyrambos trug. Nach ihm sind also die gleichnamigen strophischen Gesänge benannt, die schon im 7. vorchristlichen Jahrhundert bei den kultischen Feiern zu seinen Ehren von Chor und Vorsänger gesungen und getanzt wurden (griech. choros = Tanzplatz.) Auf einer Tontafel aus dem “Palast des Nestor” im messenischen Chora (!) wird Dionysos schon im 13. Jahrhundert v.u.Z. als Gott verherrlicht. Laut dem unerschöpflichen von Ranke-Graves ist Dionysos vergöttlichte Allegorie der Ausbreitung des Weinbaus, der in minoischer Bronzezeit über Kreta nach Griechenland kam (auch das griech. Wort oinos für Wein ist kretischer Herkunft), wo sein von berauschten Priesterinnen (Mainaden) ausgeübter orgiastischer Kult einen älteren Bierkult ersetzt haben soll. Im 7. und frühen 6. Jh. führten die Tyrannen von Korinth (Periander), Sikyon (Kleisthenes) und Athen (Peisistratos) die ursprünglich in Thrakien entstandenen Dionysosfeiern auch in ihren Städten ein, und Arion von Lesbos entwickelte den Dithyrambos in Korinth zur eigenständigen Kunstform, der sich dann Pindar als großer Meister annahm, bis 2400 Jahre später der andere Dithyrambendichter – Nur Narr! nur Dichter! – dem Dionysos noch einmal feiernde Lieder sang.
“Nur ein Dichter! / ein Tier, ein listiges, raubendes, schleichendes, / das lügen muß, / das wissentlich, willentlich lügen muß... Nicht still, starr, glatt, kalt, / zum Bilde geworden, / zur Gottes-Säule, / nicht aufgestellt vor Tempeln, / eines Gottes Türwart: / nein, feindselig solchen Tugend-Standbildern, / in jeder Wildnis heimischer als in Tempeln... adlerhaft, pantherhaft / sind des Dichters Sehnsüchte... den Gott zerreißen im Menschen / wie das Schaf im Menschen / und zerreißend lachen - / das, das ist deine Seligkeit.”

“Plötzlich / geraden Flugs, / gezückten Zugs / auf Lämmer stoßen, / jach hinab, heißhungrig / nach Lämmern lüstern, / gram allen Lamms-Seelen, / grimmig gram allem, was blickt / tugendhaft, schafmäßig, krauswollig, / dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen...”
Ja, nach Lämmern lüstern, schlacht- und heißhungrig, so treten auch die Fürsten von Mykene in das Licht des Mythos:
PELOPS, von seinem eigenen Vater Tantalos in Stücke geschnitten und gekocht den Göttern als Speise vorgesetzt, um deren Allwissenheit auf die Probe zu stellen, stürzte nach seiner Wiederherstellung durch die den Lebensfaden spinnende Moira Klotho den Wagenlenker seines verräterischen Schwiegervaters und Sohn des Hermes von einer Klippe in den Tod – erste Erfüllung des von den Göttern der Tantalidensippe bis in die fünfte Generation auferlegten Fluchs, Mörder zu werden.
Sohn ATREUS (= “Furchtlos”), beseitigte auf Anstiften seiner Mutter zunächst seinen Halbbruder, den Pelops mit einer Nymphe gezeugt hatte. Später, nachdem seine Frau ihn mit seinem Bruder Thyestes betrogen und dieser seinen Thron beansprucht hatte, zerlegte Atreus nach dem Vorbild seines Großvaters des Bruders Söhne und tischte sie ihm auf. Ein neuerlicher Sohn mit Namen Aigisthos, den Thyestes auf Rat eines Orakels mit seiner eigenen Tochter zeugte, ermordete den Atreus und setzte seinen Vater wieder auf den mykenischen Thron. Atreus’ Söhne, Agamemnon und Menelaos, gingen vorsorglich ins Exil und warteten auf ihre Stunde. Als sie kam, verjagten sie Thyestes mit Hilfe der Spartaner. Menelaos heiratete ins spartanische Königshaus ein: die schöne Helena. AGAMEMNON (= “der sehr Energische”) erschlägt Thyestes’ Sohn Tantalos und nimmt gewaltsam dessen Weib zur Frau: Klytemnästra.
“Du hast mich nicht gefreit, hast mich geraubt,
erschlugst den ersten Gatten Tantalos,
entrissest meiner Brust das kleine Kind,
von deiner Hand zerschmettert lag es da”
(Euripides: Iphigenie in Aulis)
Einer der Gründe dafür, daß Klytemnästra gewisse Vorbehalte gegen ihren zweiten Mann zeit seines Lebens nicht los wird.
Der aber setzt sich zunächst siegreich die Krone seines Vaters auf und steigt nach Helenas Durchbrennen mit Paris zum Führer der Griechenkoalition und Großen Flotte gegen Troja auf. Homer läßt ihm im Elften Gesang der Ilias seine Aristie zukommen:
Atreus' Sohn auch rief und ermahnete, schnell sich zu gürten,
Argos' Volk; auch deckt' er sich selbst mit blendendem Erze.
Eilend fügt' er zuerst um die Beine sich bergende Schienen,
Blank und schön, anschließend mit silberner Knöchelbedeckung;
Weiter umschirmt' er die Brust ringsher mit dem ehernen Harnisch...
Ringsum wechselten zehn blauschimmernde Streifen des Stahles,
Zwölf aus funkelndem Gold', und zwanzig andre des Zinnes;
Auch drei bläuliche Drachen erhuben sich gegen den Hals ihm
Beiderseits, voll Glanz wie Regenbogen, die Kronos'
Sohn in die Wolken gestellt, den redenden Menschen zum Zeichen.
Hierauf warf er das Schwert um die Schulter sich: goldene Buckeln
Leuchteten über das Heft; und die Kling' umhüllte die Scheide,
Silberhell, am Gehenk von strahlendem Golde befestigt.
Drauf den gewaltigen Schild, den ringsbedeckenden, hub er,
Schön von Kunst: ihm liefen umher zehn eherne Kreise;
Auch umblinkten ihn zwanzig von Zinn gewölbete Nabel,
Weiß, und der mittlere war von dunkeler Bläue des Stahles.
Auch die Schreckengestalt der Gorgo drohete schlängelnd,
Mit wutfunkelndem Blick, und umher war Graun und Entsetzen.
Silbern war des Schildes Gehenk; und gräßlich auf diesem
Schlängelt' ein bläulicher Drache dahin; drei Häupter des Scheusals
Waren umhergekrümmt, aus einem Halse sich windend.
Drauf umschloß er das Haupt mit des Helms viergipflichter Kuppel,
Von Roßhaaren umwallt; und fürchterlich winkte der Helmbusch.
Auch zwo mächtige Lanzen, gespitzt mit der Schärfe des Erzes,
Faßte der Held, daß ferne das Erz zum erhabenen Himmel
Leuchtete. Laut her donnerten nun Athenäa und Here,
Hoch zu ehren den König der golddurchstrahlten Mykene.”
In ähnlichem Aufputz kehrt er nach der Zerstörung Trojas zehn Jahre nach dem Aufbruch nach Mykene zurück.

Agamemnons Heimkehr  c) Gutenberg

“Ich eil, aufs beste meinen hohen Herrn
bei seiner Heimkehr zu empfangen, strahlt
doch keiner Frau ein schöner Licht als dies:
dem Gatten, den ein Gott im Feld beschützt,
die Tore öffnen”,
säuselt Klytemnästra begeistert vor Freude.
“Er eile in die Arme seiner Stadt!
Im Hause träf er eine treue Frau,
wie je zuvor des Hauses Hund...
Ja, ganz dieselbe und ganz unversehrt
das Siegel hütend in der langen Zeit.”
Über Odysseus’ vermeintlich noch viel länger treues Eheweib hat der von mir sehr geschätzte finnische Aphoristiker Henrik Tikkanen einmal geschrieben:
“Ich glaube nicht einen einzigen Augenblick, daß Penelope ihrem Mann all die Jahre über treu blieb, die er sich in der Ferne aufhielt. Ich glaube vielmehr, daß auf Ithaka wild herumgevögelt wurde, und bin der Meinung, daß war auch nur recht so. Den alten Heuchler Homer soll der Teufel holen.”
Und was sagt der Chorführer auf Klytemnästras Treueversicherung?
"Das war ein Wort, das gute Deuter braucht."

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Dienstag, 12. Oktober 2010
Nauplia
Zwischen drei und halb vier in der Nacht trafen wir in Nafplio ein. Erstaunlicherweise hatte noch ein Kiosk geöffnet, wo wir Wasser kaufen konnten. (Selbst das nehmen sie einem heute ja vor dem Besteigen eines Flugzeugs ab.) Wir rollten hinab zum Hafen, stellten den Wagen auf einem leeren Parkplatz unter einen Baum und klappten die Rücklehnen zurück. Für die paar Stunden bis zum Hellwerden lohnte sich kein Hotelzimmer mehr.
Der erste Sonnenstrahl, der über die Berge fiel, weckte mich. Die anderen schliefen noch. Ich öffnete leise die Wagentür und stieg aus. Mild, war das erste Wort, das mir einfiel. Mild war die Luft, war die Temperatur und war das Frühlicht, das durch leichten Frühdunst in die weite Bucht von Nauplia rieselte. Die Felsen der Berge am jenseitigen Ufer leuchteten in gedämpftem Rosa, die Inselfestung im Hafen mit dem putzig klingenden Namen Bourtzi strahlte schon in einem kräftigeren, warmen Sonnengelb.
Ich dehnte und reckte mich wie ein alter Kater nach dem Mittagsschlaf, überquerte die schmalen Gleise der Peloponnes-Eisenbahn und ging die wenigen Schritte bis zur Hafenmauer, an der ein paar kleinere Frachter unter türkischer Flagge und einige Fischerboote festgemacht hatten. Von diesem Hafen waren schon vor 3300 Jahren Schiffe nach Ägypten ausgelaufen. Der Goldene Pharao Amenophis III. ließ Neply in ein Register seiner Fernhandelsorte aufnehmen. Nur siebenhundert Jahre später wurde es vom benachbarten Argos überwältigt und diente ihm als Hafen, und vierhundert Jahre darauf wurde es von seinen Einwohnern verlassen. Die Byzantiner gründeten den Ort neu, aber nach dem Fall Konstantinopels bauten die Venetianer die eigentliche heutige Altstadt, das “Napoli di Romania”, und das war sein Glück, denn wie sich mir auch auf dieser Reise wieder bestätigen sollte, konnten Griechen vielleicht eine Akropolis befestigen und eindrucksvolle Tempel bauen, aber keine schönen Städte. Griechenstädte sind wahllose Agglomerate gesichtsloser, oft nicht einmal fertiggestellter Billighäuser. (Ähnlich sieht es Richard Clogg in seiner Concise History of Greece für die gesamte Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg: “There continued to be a marked reluctance to invest in anything other than bricks and mortar, and particularly the latter, as apartment blocks constructed of reinforced concrete cut an unattractive swathe through Athens, Salonica and, increasingly, many provinicial towns, sometimes giving the impression that the country was one vast building site.”)
Wo es in Griechenland eine erkennbar geplante Stadtanlage mit schönen Plätzen und ausgewogenen Proportionen gibt, waren Venetianer am Werk. In Nafplio haben sie auf etlichen Gebäuden mit Reliefs des Markuslöwen unabweisbar ihren Stempel hinterlassen, und ihr ehemaliges Arsenal ist noch immer das stattlichste Gebäude, auf das die ganze Stadtachse ausgerichtet ist, aber es reicht eigentlich schon, sich das regelmäßige Netz der Altstadtgassen am Fuß des Burgbergs und vor allem die Plätze anzusehen, um Bescheid zu wissen. Der schönste von ihnen ist der Syntagma- oder Verfassungsplatz, der auch so heißt, weil in der ehemaligen türkischen Moschee mit ihrer noch immer markanten Kuppel nach der griechischen Unabhängigkeit 1825 das erste griechische Parlament zusammentrat. Nafplio war damals die Hauptstadt des freien Griechenlands.
Dann kam König Otto. Nein, nicht Rehakles, sondern von Wittelsbach. Nachdem zwei andere fürstliche Kandidaten dankend abgelehnt hatten, wählte ihn die griechische Nationalversammlung auf sanften Druck der europäischen Großmächte 1832 zum König von Griechenland. Noch minderjährig traf er mit seinem bayerischen Regentschaftsrat in Nafplio ein und brachte vor allem das bayerische Reinheitsgebot fürs Bierbrauen mit. Als er mit zwanzig selbst die Regierungsgeschäfte übernehmen durfte, zeigte sich, daß der junge Mann ganz alte Vorstellungen von Monarchie im Kopf hatte. Eine Verfassung etwa hielt er für überflüssigen neumodischen Quatsch, bis ihn ein Putsch des Militärs, der sich zu einem allgemeinen Volksaufstand ausweitete, Mores lehrte.
Er tröstete sich durch eine Affäre mit einer ehemaligen Mätresse seines eigenen Vaters, Lady Jane Digby (interessante Biographie übrigens). Die Dame war in erster Ehe mit dem britischen Vizekönig von Indien und später noch dreimal verheiratet, hatte fünf Kinder und mindestens zehn namentlich bekannte hochrangige Liebhaber; zuletzt heiratete sie mit 46 einen fast halb so alten syrischen Scheich, lebte mit ihm abwechselnd ein halbes Jahr im Beduinenzelt und das andere Halbjahr in ihrem Palast in Damaskus.
“No European woman had visited Palmyra between Lady Hester (Stanhope) and Jane Digby and the British consul in Damascus was determined to stop her making such a foolhardy journey”, schreibt John Ure in seinem Buch über englische Exzentriker mit einem Faible für die Wüste (In Search of Nomads). “Jane set out none the less accompanied by a good-looking young sheikh called Medjuel, who defended her at the risk of his life when their caravan was attacked by horsemen from a hostile tribe. He escorted her with gallantry at every step of the way, and – given her notorious susceptibility and remarkable beauty – it was hardly surprising that she fell in love with him and he with her... No one expected the relationship to last, but last it did.”
Währenddessen war Otto Basileus längst von den Griechen außer Landes gejagt worden und hatte sich in einer Residenz in Bamberg verkrochen, wo er täglich eine Stunde mit seiner Frau Gemahlin auf Griechisch konversierte. Heinrich Heine dichtete auf ihn:
“Herr Ludwig ist ein mutiger Held,
Wie Otto, das Kind, sein Söhnchen;
Der kriegte den Durchfall zu Athen,
Und hat dort besudelt sein Thrönchen.”

Der Bayer Otto von Griechenland in seinem bayerischen Exil, 1865


Ich widmete dem Thronbesudler in leise spöttischem Gedenken meinen ersten griechischen Mokka auf dem Verfassungsplatz. “Griechenland, mein liebes Griechenland”, sollen angeblich seine letzten Worte gewesen sein. Mein Griechenland, ich geb’s zu, war immer noch eher das von Theodorakis, Maria Farantouri und Costa Gavras und all den anderen Griechen, die 1974 die Obristenjunta zum Teufel jagten. Fünf Jahre danach war ich zum letzten Mal in Griechenland gewesen. Das war über dreißig Jahre her, und Griechenland konnte natürlich nicht mehr das gleiche Land sein wie damals. Ich war neugierig, in welche Richtung es sich verändert hatte; aber große Hoffnungen machte ich mir nicht.

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Sonntag, 10. Oktober 2010
Grün, nicht blau
Am Abend des Abflugs hatte es in Amsterdam aus dunklen Wolken geregnet, die fast die Erde berührten, wie üblich in den letzten Tagen, den letzten Wochen. Nach der nächtlichen Landung in Athen wehte uns trotz der mitternächtlichen Stunde eine laue, mittelmeerische Brise an. Wir reisten diesmal zu viert; mein persönlicher Pleonasmus, die wojwodinische Herzogin, mein Bruder und Der Koloß von Maroussi des verrückten Henry Miller. Im Verlauf der Reise sollten uns noch einige schrille Typen begegnen.
Zu sehen gab es zunächst wenig. Die Leitplanken, Betonwände, Mittel- und Seitenstreifen einer Autobahn, die aussah wie alle Autobahnen, glitten aus dem Dunkel kommend und wieder in ihm verschwindend wie die Schleifen von Endlosbändern am Rand unserer Blickfelder vorüber, die Schilder der Ausfahrten leuchteten im Scheinwerferlicht grün auf, nicht im gewohnten Blau. Grün, nicht blau, das war zunächst der Unterschied zwischen Griechenland und Mitteleuropa.
Aber die Gerüche, die durchs geöffnete Seitenfenster strömten! Zuerst roch es nach Kerosin, dann nach Erde und trockenem Gras, nach einer Chemiefabrik, die Marzipanaroma herstellte, nach Ouzo und Anis, nach Abwässern und Kloake, nach Mastix und Kiefern.
“Man sollte auf der ‘Heiligen Straße’ nicht in einem Auto dahinrasen, das ist Gotteslästerung”, merkte Miller vom Rücksitz an. “Diese Straße ist keine Straße des Christentums, die Füße frommer Heiden haben sie auf dem Weg zur Weihe in Eleusis geschaffen. Dieser Prozessionsweg weiß nichts von Leiden, von Märtyrern, von Geißelung des Fleisches. Auch heute spricht hier, wie schon vor Jahrhunderten, alles von Erleuchtung, von betörender, freudvoller Erleuchtung. Das Licht nimmt eine übernatürliche Beschaffenheit an. Man muß zweitausend Jahre der Unwissenheit und des Aberglaubens von sich abwerfen, des krankhaften, widerlich unterirdischen Lebens und Lügens. In Eleusis erkennt man, daß es keine Rettung gibt, wenn man sich einer irrsinnigen Welt anpaßt.”
ELEFSÍNA war ein grünes Schild in dunkler Nacht in einer irrsinnigen Welt. Zweitausend Jahre lang wurden sie ekstatisch gefeiert, aber nun gab es schon seit über fünfzehnhundert Jahren keine Mysterien mehr. (Nur meine Vorbehalte gegen Granatäpfel waren geblieben.) Das grüne Schild blieb genauso schnell am Wegrand zurück wie KORINTHOS, bewohnt von Pelasgern schon vor der Einwanderung der ersten Griechen, später war hier Sisyphos König. Für eine Quelle auf Akrokorinth verriet er die Abwege des Zeus mit der Nymphe Aigina, war schlauer als der Tod und schlug in ihn Ketten, sodaß kein Mensch mehr sterben mußte. Für mich eine viel größere Tat als die des Herakles, dem Nemeischen Löwen das Fell über die Ohren zu ziehen, [ARCHEA NEMEA 500m] sst... vorbei. Wir verließen die Autobahn. Eine gewundene Landstraße, keine Beleuchtung mehr, die Nacht noch dunkler, so dunkel wie keine Nacht im dauerbeleuchteten Gewächshausholland. Ich trat auf die Bremse, hielt mitten im Nirgendwo, stieg aus, legte den Kopf in den Nacken: Was für ein Sternenhimmel! (Und in den Pays bas regnete es aus einer dichten Wolkendecke.) Milch heißt auf Griechisch gala, milchig galaktodes und galaxías die Milchstraße. Da oben war sie, zum Greifen deutlich. Und viel, viel mehr Sterne, als ich beim Namen nennen konnte. Ehrfürchtiges, stummes Staunen unten auf Erden, minutenlang. Dann einsteigen und weiterfahren. Ich hatte uns im stillen ein Ziel gesteckt, dort wollte ich an unserem ersten Morgen in Griechenland die Sonne aufgehen sehen und am Hafen oder auf einem der hübschen, kleinen Plätze, die ich von damals noch in Erinnerung hatte, frühstücken. Miller auf der Rückbank plauschte es aus: “In ein paar Stunden sollten wir in Nauplia sein, in der Nähe so atemberaubender Orte wie Argos, Tiryns, Mykenä und Epidauros.”

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Freitag, 8. Oktober 2010
Ich schreibe wie...
Konnte natürlich auch nicht widerstehen und habe den Schreibtest bei der FAZ gemacht. - Das Ergebnis? Himmelschreiend!
O nein! Nicht ausgerechnet wie der!

Thomas Mann


Als Lackmustest und Gegenprobe ein anderer Abschnitt aus dem gleichen Text. Das Testergebnis, obwohl kaum vorstellbar, noch schlimmer. Geradezu Niederschmetternd!

Friedrich Schiller


Eine Ehrenrettung mußte her. Darum noch einen dritten Abschnitt eingereicht und - nach der neuesten Preisverleihung - befürchtet, es könne am Ende gar ein Vargas Llosa dabei herauskommen. Aber es werden ja nur deutsche Autoren berücksichtigt. Darum ging's endlich glimpflicher aus. The final result:

Uwe Johnson


1 Text, 1 Test, 3 (dermaßen unterschiedliche) Ergebnisse. Daraus folgt: Computerlogarithmen taugen zu einer stilistischen Textanalyse etwa so viel wie zum Übersetzen, nämlich gar nicht. Danke, FAZ, für diesen Augenöffner.

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Freitag, 1. Oktober 2010
Ortswechsel
Über die “Tochter des Windes” (Pantelleria) gäbe es noch einiges, über Sizilien vieles zu schreiben, aber morgen erfolgt die Standortverlegung in das Land des fluchbeladenen Mannes mit der elfenbeinernen Schulter.

Heraus in eure Schatten, rege Wipfel
Des alten heil’gen, dichtbelaubten Haines,
Wie in der Göttin stilles Heiligtum,
Tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,
Als wenn ich sie zum erstenmal beträte,
Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.
So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele und dem Körper suchend
(nach: Goethe, Iphigenie)

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Donnerstag, 30. September 2010
Gli Arabi



"Gli Arabi non sono dei missionari, non sono dei fanatici di una religione,
ma i fanatici di un' abbagliante avventura."


"Die Araber sind keine Missionare und keine Fanatiker einer Religion, aber Fanatiker eines blendenden Abenteuers."

(Angelo d'Aietti: Il libro dell' isola di Pantelleria)

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