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Mittwoch, 24. November 2010
K.Kereny an Th.Mann: "Wer schweigt, stimmt zu."
Karl Kerenyi an Thomas Mann

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Freitag, 19. November 2010
Musikalisches Zwischenspiel
Da ich mich nun sowieso schon wieder auf Abschweifungen begeben habe – woraus besteht dieses Blog überhaupt, wenn nicht aus Abschweifungen? – darf auch erwähnt werden, daß ich gestern abend ein sehr schönes Konzert besucht habe. Ein richtiges Konzert, keine vorabgemixte Megashow ohne Fehl & Tadel und Authentizität; ein Konzert auf eher kleiner Bühne in einem Theatersaal, der wahrlich keine gute Akustik für eine musikalische Vorführung bot, und dennoch füllte die junge Sängerin den Saal jederzeit mühelos mit ihrem enormen Stimmvermögen oder auch mit leisem, nachdenklichem Gesang ohne Mikro, wenn ihr danach war.
Mor Karbasi, eine Israelin mit langjähriger arabischer Gesangsausbildung. Ihre Mutter und ihre Großeltern stammen aus Marokko, ihr Vater aus dem Iran, und dieses weit verzweigte Wurzelwerk führt rund ums Mittelmeer gut 500 Jahre zurück zu den sephardischen Juden vor ihrer Vertreibung aus Spanien. In ihrer (fast verlorenen) Sprache, dem Ladino, einer Mischsprache aus Spanisch und Hebräisch mit Einsprengseln aus allen Ländern ihrer Diaspora, singt Mor Karbasi alte sephardische Lieder aus dieser Zeit und neue, die musikalische Stile aus Flamenco, Fado, berberischer, arabischer, persischer und moderner westlicher Musik mischen. Wenn es überhaupt einer Falsifizierung der gegenwärtigen Neuauflage einer stets blödsinnigen Ausgrenzungspolitik bedürfte, braucht man sich bloß diese Musik anzuhören. Wie viel ärmer wären wir ohne die befruchtende Mischung von Kulturen und Traditionen. "Multikulti" ist gescheitert? Ein politisches Programm mit diesem Etikett vielleicht. Aber diese junge Frau verkörpert (auf hörbarere Weise als die meisten von uns) Multikulturalität in Fleisch und Blut.


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Donnerstag, 18. November 2010
Der Beginn einer Freundschaft: Thomas Mann - Karl Kerényi
Bislang hat der Briefwechsel Mann - Kerenyi zu dem, was mich anfangs eigentlich daran interessierte, leider kaum etwas erbracht, dafür aber manches andere. Und es wäre auch mehr als verwunderlich, wenn dem nicht so wäre. Wenn zwei Köpfe wie Karl Kerenyi und Thomas Mann über mehr als 20 Jahre Briefe miteinander wechseln, sollte schon der eine oder andere bedenkenswerte Satz in diesem Briefwechsel geäußert werden.
Begonnen hat er, wie schon gesagt, damit, daß Kerenyi Thomas Mann im Frühjahr ‘33 seinen Vortrag “Unsterblichkeit und Apollonreligion” zuschickte. Er gab damit Themen aus (antiker) Religion und Mythologie gleichsam vor, und Thomas Mann ging darauf ein, stellte aber auch ziemlich von Beginn an seine Position klar und den Bezug zur Gegenwart her. Daß er, der stets Zugeknöpfte, diesen Schritt unternahm, erstaunt mich nun doch. Vielleicht sind überhaupt die Mitteilungen zum Zeitgeschehen in diesen katastrophalen Jahren das Interessanteste an diesem Briefwechsel zweier sehr scharfsinniger Beobachter und Intellektueller. Einige Auszüge aus ihren Briefen möchte ich in der nächsten Zeit hier einstellen. Den Anfang soll jener zweite Brief Thomas Manns machen, der die angesprochene Positionsklärung enthält. (Da es sich um ganz persönliche Lesefrüchte handelt, erlaube ich mir um einer flüssigeren Lesbarkeit willen, Auslassungen nicht eigens kenntlich zu machen.)

Küsnacht-Zch. den 20. II. 34



Sehr verehrter Herr Professor

Tatsächlich ist in meinem Fall das allmählich zunehmende Interesse fürs Mythisch-Religionshistorische eine “Alterserscheinung”, es entspricht einem mit den Jahren vom Bürgerlich-Individuellen weg, zum Typischen, Generellen und Menschheitlichen sich hinwendenden Geschmack.

Es gibt in der europäischen Literatur der Gegenwart eine Art von Ranküne gegen die Entwicklung des menschlichen Großhirns, die mir nie anders, denn als eine snobistische und alberne Form der Selbstverleugnung erschienen ist. Ja, erlauben Sie mir das Geständnis, daß ich kein Freund der – in Deutschland namentlich durch Klages vertretenen – geist- und intellektfeindlichen Bewegung bin. Ich habe sie früh gefürchtet und bekämpft, weil ich sie in allen ihren brutal-antihumanen Konsequenzen durchschaute, bevor diese manifest wurden.
Ich vertraue auf Ihr Verständnis, wenn ich sage, daß mit der “irrationalen” Mode häufig ein Hinopfern und bubenhaftes Über Bord werfen von Errungenschaften und Prinzipien verbunden ist, die nicht nur den Europäer zum Europäer, sondern sogar den Menschen zum Menschen machen. Es handelt sich da um ein “Zurück zur Natur” von menschlich wesentlich unedlerer Art, als dasjenige, welches die französische Revolution vorbereitete... Genug! Sie verstehen mich aufs Wort.

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Sonntag, 14. November 2010
“Lieber und hochgeehrter Herr Doktor”, “Sehr verehrter Herr Professor..."
Ich stecke fest. Bei meinem Versuch einer kleinen Tiefenbohrung zu den mit Dionysos verbundenen Vorstellungen bin ich auf eine sehr undurchlässige Schicht von Tiefengestein gestoßen, bei der ich vorerst nicht vorankomme. Das hat äußere und innere Gründe. Habe ich schon erwähnt, daß ich meinen Wecker noch immer nicht umgestellt habe, damit ich nach jetziger Zeit jeden Morgen schon um 5 Uhr am Schreibtisch sitze, weil ich mit rasender Geschwindigkeit und ebenso großer Sorge den Abgabetermin für meine verdammt umfangreiche derzeitige Arbeit auf mich zukommen sehe? Da bleibt kaum Zeit, nebenher noch Privatstudien aus reiner amateurhafter Neugier zu betreiben. Außerdem habe ich feststellen müssen, daß die Schriften eines Religionswissenschaftlers vom Rang Karl Kerenyis nicht einmal in der Königlichen Bibliothek in der Hauptstadt Den Haag vorhanden sind. (O Holland, oh Land, das einmal einen Spinoza hervorgebracht hat! Inzwischen liegt er hier begraben.) Über das Dionysische und Apollinische und vieles mehr hat Kerenyi immerhin einen Thomas Mann belehren können, der Kerenyis mit ehrfürchtigen Widmungen versehene Sonderdrucke hemmungslos in seine Romane verwurstete. “Ich warte auf den Kritiker, der als Erster merkt, woher ich das Kapitel ‘Die Hündin’ im dritten Josephsbande habe.” (Mann an Kerenyi, Brief vom 4.5.1937)
In Ermangelung anderer Schriften Kerenyis habe ich mir den Briefwechsel der beiden besorgt, aber – donalphons Liebe zur vermeintlichen Kultiviertheit alter Zeiten in Ehren – allein die Umgangsformen dieser distinguierten beiden Herren aus zigarrenduftenden Vorkriegszeiten sind sowas von umständlich bis lästig, daß man zutreffender von Umstandsformen sprechen möchte.

“Dem großen Schriftsteller, der uns mit Herrn Settembrinis Gestalt beschenkte, und einem der tiefsten Religionskritiker” – mit dieser Widmung übersandte Kerenyi Thomas Mann Anfang 1934 seinen Vortrag über “Unsterblichkeit und Apollonreligion”. Dazu veranlaßt hatte ihn die Lektüre des Zauberbergs.

“In Settembrinis Gestalt schuf Thomas Mann die mir äußerst sympathische Verkörperung des humanistischen Verhaltens einer immer wiederkehrenden menschlichen Situation gegenüber, welche als wissenschaftlicher Stoff in den Bereich der Religionsgeschichte gehört. Ich meine die Situation der Todesnähe... ein Thema, in dem sich Thomas Mann mit einer solchen Sicherheit, Scharfsicht und Präzision bewegte... wie kein Gelehrter, der dieses Gebiet je in Angriff genommen hatte”, schreibt Kerenyi im Vorwort zur Veröffentlichung des Briefwechsels.

In seinem ersten Antwortbrief zeigte sich Mann beeindruckt: “alles rührte an die Wurzeln meiner geistigen Existenz und hat mich entzückt.”
Drei Jahre und etliche Briefe später (und trotz eines persönlichen Besuchs von Kerenyi samt Frau Gemahlin in Küsnacht) sind sie aber, von vereinzelten Bemerkungen abgesehen, noch immer nicht zu Potte oder zur Sache gekommen. “Lieber und hochgeehrter Herr Doktor”, “Sehr verehrter Herr Professor... Wir haben Ihren Besuch in freundlichster Erinnerung. Ihr ergebener...”


"pups" - "Verzeihung"

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Dienstag, 9. November 2010
Anschwellender Bocksgesang
Ja, ich benutze die gleiche Überschrift, wie sie einmal ein grotesk mißratener Essay von Botho Strauß im Spiegel (6/1993) trug. Anfänglich beschwor er darin unter schrecklichem Wortgedröhne von “Sippengesetz”, “Volkszugehörigen” und “Blutopfer” einen kommenden Krieg herauf, an dem er besonders Toleranz und Fremdenfreundlichkeit einer, natürlich, der Aufklärung anhängenden, zugleich aber auch “anarchofidelen” 68er-Linken, die angeblich Staat und tonangebende Kultur und öffentliche Moral erobert hätte, die Schuld gab. Dagegen propagierte er dann “Rechts sein” als Auflehnung und zugleich vornehmes Abseitsgehen in ein bewußt angestrebtes Außenseitertum, bevor er schließlich schlapp in vielfach vorgeübter Medienschelte an Telekratie und ihren Moderatoren ausebbte und die Wiedereinführung eines nur dem elitär Abgesonderten vorbehaltenen Begriffs von Kultur propagierte.
Nein, damit hat das folgende nichts zu tun und nichts gemein, es schnürt lediglich noch einmal um die Burg von Mykene, hinaus ins Freie und in die griechischen Wälder der Frühzeit, auf der Suche nach diesem seltsamen, vorübergehend sterblichen Gott der Trunkenheit, des Rauschs und der Ekstase.

Kein Botho-Strauß-Gesang also hier, aber doch ein Titel, den er zwar in Deutschland wohl erstmalig verwendet, auf den er aber keinen Alleinanspruch hat, denn letztlich ist er nichts weiter als die Übersetzung eines altbekannten griechischen Worts: Tragödie (< tragos, Bock + ode, Gesang). Dazu, um lieber die von Strauß gescholtene Seite zu zitieren, Mikis Theodorakis:

Schauen Sie sich das Wort „tragoudi“ an, das griechische Wort für „Lied“. Dieses Wort ist eine direkte Ableitung des Begriffs „tragodia“, der Tragödie also. Was heißt „tragodia“? Ursprünglich bezeichnete das die Oden an den „Bock“, den „tragos“ – womit Dionysos gemeint war, der Gott des Rausches, der Trunkenheit. Eine solche Art von Lied kommt mitten aus dem Volk, und dort bleibt es – heilig, berauschend, immer wiedergeboren. Man kann das Wort „tragoudi“ daher nicht übersetzen... Damit ein Fremder begreift, was das wirklich bedeutet, müsste er sich vorstellen, dass man in Deutschland jeden Tag Goethe, in England vielleicht T.S. Eliot und in Frankreich Paul Eluard singen würde – zu Hause, in der Taverne, bei der Arbeit, in der Schule oder während einer Demonstration.
(Mikis Theodorakis im Gespräch mit Hansgeorg Hermann, 2006. Biografie Mikis Theodorakis – Der Rhythmus der Freiheit, Verlag Neues Leben, Berlin)


Tragödie also, Bocksgesang. Und anschwellend, weil ich möglichst nah zu seinen Quellen zurück möchte, aus denen er sich speiste, und deren anfangs schmale Rinnsale dann immer mächtiger anschwollen. Weit, weit müssen wir dafür zurück, mindestens bis in die Lebenszeit Homers, also ins 8. oder 9. vorchristliche Jahrhundert. Denn es scheint die Zeit zu sein, in der sich die Verehrung des Dionysos überall in Griechenland ausbreitete. Homer hat die mythischen Geschichten um Dionysos jedenfalls gut gekannt, wie Walter F. Otto in seiner Monographie über den Gott nachwies.

Das ganze Altertum hat Dionysos als den Spender des Weines gepriesen. Aber man kannte ihn auch als den Rasenden, dessen Gegenwart die Menschen besessen macht und zur Wildheit, ja zur Blutgier hinreißt. Er war der Vertraute und Genosse der Totengeister. Geheimnisvolle Weihen nannten ihn ihren Meister. Und zu seinem Gottesdienst gehörte das dramatische Spiel, das die Welt um ein Wunder des Geistes bereichert hat.
(Walter F. Otto: Dionysos, 1933)


Ich komme darauf zurück, gehe aber erst einmal weiter zurück in der Zeit. 1939 kam der amerikanische Archäologe Carl Blegen nach Messenien, der südwestlichsten Landschaft der Peloponnes, um nach dem antiken Pylos zu suchen, der Burg des greisen messenischen Königs Nestor aus Ilias und Odyssee. Wie Schliemann in Troja wurde auch Blegen in Pylos fündig. Auf einer strategisch beherrschenden Anhöhe in Sichtweite der Bucht von Navarino stieß er auf Mauerreste einer alten Palastanlage aus dem 13. Jahrhundert v.u.Z., also aus dem Zeitalter des Trojanischen Kriegs. In den Ruinen fand Blegen u.a. rund 600 Tontafeln, die durch einen Palastbrand haltbar geworden waren. Sie waren mit Schriftzeichen beschrieben, und zwar in der gleichen sogenannten Linear-B Silbenschrift, die Arthur Evans in den minoischen Palästen auf Kreta gefunden hatte.



Durch den Krieg wurde eine intensivere Beschäftigung mit diesen Tontafeln verhindert, dann bissen sich die Forscher an der Identifizierung der Sprache, in der die Tafeln beschrieben waren, die Zähne aus bzw. stand ihnen ein Dogma der Fachwissenschaft im Weg, das Dogma der “dunklen Jahrhunderte” eines vermeintlichen Kulturabbruchs zwischen minoisch-mykenischer Blütezeit und den Anfängen der griechischen Kultur erst nach der dorischen Wanderung. Noch 1950 schrieb Helen L. Lorimer, die führende amerikanische Autorität für das homerische Griechenland, in ihrer Abhandlung Homer and the Monuments: “The result is wholly unfavorable to any hope entertained that the language of the inscriptions might be Greek.”
– But they were.
Am 1. Juli 1952 meldete die BBC die Entzifferung der Linear-B-Schrift. Ihr Entschlüssler war kein Mann vom Fach, sondern ein dreißigjähriger englischer Architekt mit Namen Michael Ventris, der während des Krieges in einer Dechiffrierungseinheit gearbeitet und in seiner Jugend einmal einen Vortrag von Knossos-Ausgräber Evans über Linear-B gehört hatte. Was Ventris entschlüsselte, bewies, daß die Menschen, die in Linear-B schrieben, ein frühes Griechisch sprachen, ein halbes Jahrtausend früher als die Wissenschaft postuliert hatte. Nun ließ sich eine Schrifttafel nach der anderen entziffern. Auf einer der Tafeln aus Nestors Palast in Pylos (PY Xa06) fand sich die Silbenfolge:
di-wo-nu-so-jo
die Genitivform von Dionysos.

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Mittwoch, 3. November 2010
Dionysos, nicht pausbäckig
Ich habe viel dringender so viel anderes zu tun, aber ich komme nicht los von diesem Tor. Aischylos und Christa Wolf auch nicht. Zunächst steht sie, an einem Frühlingstag 1980, ebenfalls nach einer Übernachtung in Nauplia noch unten in der Ebene der Argolis. Vielleicht hat sie mich damals bei der Überfahrt auf der Fähre gesehen: “junge, sonnensüchtige Leute aus aller Welt, Tramper, die sich auf den Bänken des Oberdecks für die Nacht einrichten, Jungen und Mädchen in der gleichen Einheitsuniform – Jeans, Anoraks, weiße weiche Turnschuhe –, vollbepackte Tragegestelle aus Leichtmetall auf dem Rücken, die sie gegen die Bänke lehnten.” Genauso war es. Ich weiß noch genau, wie mein Anorak am nächsten Morgen nach einer sterndurchfunkelten Nacht auf Deck, aber dummerweise in Windrichtung hinter dem dieselrußenden Schiffsschornstein, ausgesehen hat.

“Es gibt eine Stadt, die Argos heißt, eine staubige, unscheinbare Stadt... Woran soll einer denken, der das Wort Argos hört: an das Haus der Atriden. – An einer gottverlassenen zugigen Straßenkreuzung, auf der aber ein Schild mit der Aufschrift MYKENAE gen Osten weist. An dieser Stelle muß weiland der Zug der argivischen Greise vorbeigekommen sein, der nach der Vorstellung des Aischylos, durch Feuersignale alarmiert, die das Ende des Krieges in Troia verkünden, von Argos aufbrach, um zur Herrscherburg Mykenae zu ziehen.”
(Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra)

Dort oben, am Tor, bahnt sich an, was einmal die Kunst und Kultur Europas revolutionieren wird, eine Tragödie, die Tragödie, eine der allerersten und zugleich eine der vollendetsten überhaupt (obwohl sie uns nicht einmal vollständig erhalten ist).

Halten wir noch einmal fest: Alle Kunst kommt ursprünglich (wie schön, wie treffend hier dieses Wort der deutschen Sprache) aus dem Kultus, aus dem Dienst an und der Feier von Göttern. Im Fall der Tragödie ist dieser Ursprung noch im Wort lesbar aufbewahrt: griech. tragos ist der Bock, und zwar der Bock des Opfers, das man den Göttern schlachtete, Dionysos vor allem. Kann man sich einen zerrisseneren Gott als Dionysos vorstellen? Eins nur ist an ihm klar: er ist ein Sohn des Zeus. Doch schon wer seine Mutter war, soll ungewiß sein. Damit verkehrten die mythologischen Erzählungen der Griechen die einzige Gewißheit bei einer Geburt in ihr Gegenteil: Nicht pater semper incertus, wie später ein Grundsatz des römischen Rechts lautete, sondern im Fall des Dionysos soll nicht der Vater, vielmehr die Mutter ungewiß sein. Einige antike Quellen nennen Demeter als seine Mutter, andere nennen Dione, Io, Lethe oder Persephone als mögliche Mütter, vor allem aber wird Semele genannt, Tochter des phönizischen Prinzen Kadmos. (Da sie ebenso unter dem Namen Thyone auftaucht, hat man auch ihren Namen Semele auf eine indogermanische Wurzel zurückgeführt: *tuemelah „die Anschwellende“.) Als sie sich, bereits schwanger, Zeus Geilheit versagte, erschlug er sie mit seinem Blitz. Hermes rettete das ungeborene Halbmenschlein, nähte es in Zeus’ Schenkel ein, und der trug es aus. Darum erhielt das Söhnchen den Namen Dionysos, “der zweimal Geborene”. Wenn man so will, ist er auch die Frucht der Entmachtung vorgriechischer Muttergottheiten durch das Patriarchat des olympischen Pantheons.
Kein Wunder, daß der Knabe eine zerrissene Kindheit hatte. Zunächst einmal wurde er gleich nach der Geburt auf Befehl der wieder einmal gekränkten Hera von den Titanen in Stücke gerissen und in einem Kessel gekocht. (Ach so, ich habe zwar manchmal eine rege Phantasie, aber die ganzen Schauergeschichten hier entnehme ich von Ranke-Graves und dem Ausführlichen Lexikon der griechischen und römischen Mythologie.) Seine Großmutter Rhea, Zeus’ Mutter, die Große Göttin des Matriarchats, setzte den Enkel wieder zusammen und ließ ihn aus Gründen der Tarnung von Königin Ino in Orchomenos in Mädchenkleidern aufziehen. (Spätere Identitätskonflikte mit Geschlechterrollen, Transgenderproblematik u. dgl. kamen also auch noch mit in den Kessel seiner Persönlichkeit.)
Nachdem Hera dahintergekommen war und Inos Gemahl mit einem Anfall von Wahnsinn gestraft hatte, in dem er seinen eigenen Sohn mit einem Bock verwechselt und geschlachtet hatte, verwandelte Hermes auf Zeus’ Befehl Dionysos selbst in einen Bock und ließ ihn von Nymphen auf dem Berg Nysa irgendwo im Osten, womöglich sogar in Indien versorgen und (mit Honig) verwöhnen. Dort entdeckte er den Wein, seine bedeutendste Kulturleistung. Dazu von Ranke-Graves:

“Der wichtigste Schlüssel zu den Mysterien des Dionysos ist die Ausbreitung der Weinkultur... Trauben wuchsen wild an der südlichen Küste des Schwarzen Meeres. Von dort breitete sich ihr Anbau zum Berge Nysa in Libyen und über Palästina bis Kreta aus. Über Persien kam er nach Indien... Das kanaanitische Fest des Tabernakels war ursprünglich eine bacchantische Orgie.”

Laut Vergils Georgica opferte man Dionysos einen Ziegenbock (tragos), weil die Ziege durch ihr Knabbern den Weinstock schädigt.
Dionysos auf Panther

Als Dionysos erwachsen wurde, brach das ganze Kuddelmuddel in seinem Innern nach außen – Hera schlug ihn mit Wahnsinn. In seinem Wahn machte er, stets begleitet von einer wilden Horde von Satyrn und Mänaden, die ganze Welt unsicher, aber er verbreitete eben auch sein Rauschgetränk, den Wein, nach Ägypten (Pharos im Nildelta, der größte Hafen der Bronzezeit, spielte wahrscheinlich die Rolle des Verteilers bei der Verbreitung des Weins), nach Indien und nach Thrakien, wo Dionysos allerdings vom König der Edoner vernichtend geschlagen wurde. Wieder griff Oma Rhea rettend zugunsten des Enkels ein, schlug ihrerseits den König Lykurgos mit Wahnsinn, so daß der die Axt an einen vermeintlichen Weinstock legte, der allerdings sein eigener Sohn Dryas (“Eiche”) war. Darauf konnte der Weingott Dionysos Thrakien und Böotien erobern, wo der Überlieferung nach die ersten geheimen Feiern ihm zu Ehren, die Dionysien, gestiftet wurden, die trotz ihres wüst orgiastischen Charakters bereits eine zivilisiertere Nachfolgeform noch älterer Orgien mit Kiefernbier gewesen sein sollen (weshalb das Insignium des Gottes und seiner Mänaden, der Thyrsosstab, auch noch von einem Kiefernzapfen bekrönt wurde).
Pentheus, der Herrscher von Theben, war ein entschiedener Gegner von “Weibergeschrei und weinbetrunkener Tobsucht” (Ovid) und stieg selbst auf den Kithäron, wo die Mänaden ihre Party feierten. Als sie ihn, wohl schon ziemlich duhn, entdeckten, rissen ihn seine Tanten in Stücke und die eigene Mutter riss ihm den Kopf ab. Über den armen, vom Gott übelst gefoppten Pentheus (unter anderem ließ er ihn sein eigenes Kindheitstrauma wiederholen, nämlich in Mädchenkleidern herumzulaufen) hat Euripides kurz vor seinem Tod im makedonischen Pella die letzte und sehr resignative Tragödie seines Lebens geschrieben.
Als Pentheus gegen die jegliches Gesetz mißachtenden Ausschweifungen der von Dionysos berauschten Mänaden vorgehen will, läßt Euripides den gleich ihm hochbetagten Großvater Kadmos sagen:

Mein Sohn, der Seher hat dich gut belehrt:
O bleibe bei uns, bleibe im Gesetz!
Wenn dieser auch kein Gott ist, wie du sagst,
Verkünd ihn dennoch, lüge, daß er’s ist!

Und vor dem Finale furioso singt der Chor mit einem eigentümlich höhnischen Unterton am Ende:

Komm, leibhaftige Rache...
durchschneide die Kehle
dem Mann ohne Gott,
dem Mann ohne Brauch,
dem Mann ohne Recht...
der mit frevelndem Mute...
aufsteht in trotzigem Wahnsinn,
unüberwindliche Macht befehdet...

Was ist größer,
als fromm sein Leben verbringen,
Tage und Nächte
in schuldlosem Frieden,
Rechtloses meiden,
Götter verehren?

Dionysos’ Siegeszug um die Welt geht auch nach der Vernichtung des thebanischen Königshauses, das immerhin seinen Ruf vorübergehend schädigen konnte (“Grausames ward / mir von euch zuteil, / als ehrlos blieb / mein Name in Theben”), unaufhaltsam weiter, und er erzwingt, obwohl von einer menschlichen Mutter geboren, seine Anerkennung und Verehrung als Gott. Von Thrakien verbreitete sich sein Kult in die griechischen Zentren, nach Delphi, nach Korinth und Athen. In der Argolis stellte sich ihm noch einmal Perseus entgegen, der mythische, ebenfalls von Zeus gezeugte Heros, der die Gorgo Medusa tötete; doch Dionysos’ Macht über die Frauen, die anfangen im Rausch ihre eigenen Säuglinge roh zu verschlingen, muß Perseus nachgeben und ihm einen Tempel errichten.

Damit stehen wir nach einem langen Umweg schon wieder hier, vor dem Eingangstor von Mykene. Perseus nämlich soll die Stadt gegründet haben, nachdem er, durstig von einer Wanderung, an diesem Ort Wasser im Hut eines Pilzes fand.

Perseus_Gorgo

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Dienstag, 26. Oktober 2010
Krieg um Frauen


Nachdem sie zunächst jahrhundertelang von ihnen gelernt und vieles übernommen hatten, trieben die Achäer von Argos und Mykene aus selbst Handel mit den minoischen Kretern, von der Küste der Levante bis Sardinien, mit Ägypten, Troja und den Hethitern in Kleinasien, bevor sie Kreta “übernahmen”. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts v.u.Z. wurden auf der “Insel der hundert Städte”, wie man sie auch nannte, all die schönen minoischen Paläste niedergebrannt und zerstört – ein Vorbild, wie man dann mit Troja auch verfuhr? Einzig Knossos blieb verschont und wurde weiter genutzt, als Sitz der neuen Herren aus Mykene. “Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich in rücksichtsloser Feindschaft nach außen.” Richtig. Aber es blieb noch genügend Sprengstoff für gewaltige Erschütterungen auch im Innern.
Wie schon gesagt, all die bis zur Rückkehr Agamemnons verübten Schändlichkeiten erschütterten die Griechen anscheinend nicht über die Maßen. Dann kehrte der Sieger über Troja zurück. Allerdings, muß man in Klammern sagen, kam er nicht als makellos strahlender Triumphator, sondern müde und ernüchtert wie alle desillusionierten langgedienten Frontsoldaten, die Jahr nach Jahr den Dreck in den Gräben gesehen, die Monotonie des Lagerlebens ausgehalten und vor allem selbst die Hände mit dem Blut von Menschen besudelt haben.

“Die Götter warfen Lose, die den Männern Tod, der Stadt Verderben brachten; doch der andre Krug blieb leer... Nun zeigt nur mehr der Rauch den Ort der Stadt”, läßt Aischylos ihn als erstes beim Eintreffen in Argos sagen, und er lehnt es zunächst ab, den von seiner Königin entrollten roten Teppich zu betreten, bis sie ihn überredet, um ihretwillen nachzugeben. Es ist der erste kleine Sieg Klytemnästras über den Gatten, der auf den großen agonalen vorausdeutet.
Nur Eine vermag das zu sehen: Kassandra, die Beutefrau. “Wenn Klytemnästra war, wie ich sie mir vorstellte, konnte sie mit diesem Nichts den Thron nicht teilen”, erkennt Christa Wolfs Kassandra vor dem Löwentor Mykenes, bevor man sie hineinkarrt, ins Schlachthaus.

Bekanntlich war der Krieg um Troja ein Krieg um Frauen.
Erklärtermaßen. Helena, das geraubte/entlaufene Früchtchen war nur der Vorwand, der prominente Auslöser, aber bei weitem nicht die einzige. Worum bricht denn der verhängnisvolle Streit zwischen dem Erfolgsgaranten Achill und Agamemnon aus, der “Achill das Vieh” so lange schmollen läßt, bis die Griechen am Rand der Niederlage stehen?
Caracci: Briseis e Achille Um zwei geraubte Frauen aus der Kriegsbeute, erst Chryseis:
“Jene lös ich dir nicht, bis einst das Alter ihr nahet,
wann sie in meinem Palast in Argos, fern von der Heimat,
mir als Weberin dient und meines Bettes Genossin!”

Als nächste Briseis:
“Ich hole die rosige Tochter des Brises
selbst mir aus deinem Gezelt”,
zetert der hehre Völkerfürst Agamemnon.

Und womit stachelt der nach Odysseus zweitgrößte Demagoge im griechischen Heer, der greise Nestor, im zweiten Gesang der Ilias das Heer zum Bleiben auf, welche Durchhalteparole ruft er aus?

“Ich sag', uns winkte der hocherhabne Kronion
Jenes Tags, da wir stiegen in meerdurchgleitende Schiffe,
Argos' Volk, die Troer mit Mord und Verderben bedrohend:
Rechtshin zuckte sein Blitz, ein heilsweissagendes Zeichen!
Drum daß keiner zuvor wegdräng' und strebe zur Heimkehr,
Eh' er allhier mit einer der troischen Frauen geruhet.”

("Geruhet"! Ich wüßte gern, welches altgriechische Verb der Schulmeister Voss in Eutin hier geschönt hat.)

Der Führer des Griechenheers, Agamemnon, geruhte natürlich auch selbst zu ruhen. Seit Chryseis hatte er anscheinend Geschmack an Priesterinnen gefunden, doch nach vollendetem Gemetzel an den Trojanern war ihm keine Geringere mehr genehm als König Priamos’ eigene Tochter, die “Männer umwickelnde” (so der Name) Kassandra, an der sich einst sogar Appolls göttliche Leidenschaft entzündet hatte.
“Siehe, geschleppt ward jetzo des Priamus Tochter Cassandra,
Fliegenden Haars, vom Tempel und Heiligtum der Minerva”, wußte noch Vergil in der Aeneis zu berichten. Und so stand auch sie nach Verschleppung und Überfahrt dann vor dem Löwentor.
Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt. Diese Festung, einst uneinnehmbar, ein Steinhaufen jetzt, war das letzte, was sie sah. – Nah die zyklopisch gefügten Mauern, heute wie gestern, die dem Weg die Richtung geben: zum Tor hin, unter dem kein Blut hervorquillt. Ins Finstere. Ins Schlachthaus.

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