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Freitag, 25. Juni 2010
Über den Fluß


Nach längerer Zeit stehe ich wieder einmal am Ufer der Elbe, dem hellen Fluß in der ursprünglichen Bedeutung des Namens. Beim letzten Mal war er gar nicht hell und gar nicht zu sehen, so dicht wallte der Nebel, und die Fähre trieb lange, nicht endend durch undurchdringlich graue Watte, das bräunliche Wasser gluckste leise unter den zähen Fasern milchiger Schleier.
Diesmal ist es grau bedeckt, windig und viel zu kalt dafür, daß Mittsommer unmittelbar bevorsteht, aber der Strom ist in seiner ganzen Breite zu sehen und das jenseitige Ufer auch, und drüben in der flachen Marsch soll eine Stadt mit Namen Glückstadt liegen. Vom hiesigen Ufer ist außer ein paar Verbrennungsschloten nichts zu erkennen. Ich habe mich immer gefragt, ob der Name je anders als ironisch gemeint sein konnte. Woher aber die ewige Neugier in uns, wissen zu wollen, was auf der anderen Seite ist? Ich weiß es doch, und trotzdem bliebe ein unerfülltes Ziehen, wenn ich ihr nicht nachgäbe.
Grau stampft die Fähre durch das kabbelige Wasser näher, legt an, läßt die Laderampe herab, und ein Tor öffnet sich im Stahlrahmen der Landungsbrücke. Wir rollen an Deck, bereit zur Fahrt hinüber. “Scheer' Dich des Weges, alter Nimmersatt! / Was soll ich in der Totenstadt, / Ich, mit dem Jubel in der Brust!” Else Lasker-Schüler, Styx. Im Griechischen ist der Fluß weiblichen Geschlechts wie die Elbe im Deutschen. Lykophron nennt sie die schwarze Styx, ihr Name bedeutet Haß, aber vielleicht eher im Sinn von die Verhaßte, denn sie ist doch der bekannteste Fluß der Unterwelt, “unvergänglich alte Flut, die des schroffen Geklüfts Abhänge durchströmet. / Dort sind der dunkelen Erd', und des finstern tartarischen Abgrunds, / auch des verödeten Meers, und des sternumfunkelten Himmels, / aller Beginn' und Enden sind dort mit einander versammelt, / fürchterlich dumpf, voll Wustes, wovor selbst grauet den Göttern” (Hesiod, Theogonie). Und sie wird als einer der Unterweltflüsse genannt, über die Charon, Sohn der Nacht und der Finsternis, in seinem Kahn die Gestorbenen in des unerbittlichen Hades‘ Schatten- und Totenreich übersetzt.



Die Frage ist, wie tief sind uns solche Geschichten eingeschrieben? Der Fluß vor mir, die Fähre, das dunkle Tor rufen sie jedenfalls in mir hervor und ebenso die Frage, ob die Neugier auf ein jenseitiges Ufer, schon deshalb, weil das Übersetzen und das unbekannte Jenseits früher immer auch Gefahrenmomente enthalten konnten, nicht auch ein Teil Neugier auf das Jenseits schlechthin enthält. Dante, die Styx bei Baudelaire, Charon als Gondoliere in Thomas Manns Tod in Venedig, die Überfahrt in die Westfjorde in Frikki Fríðríkssons Film Children of Nature sind nur ein paar Beispiele aus Literatur und Film, die zeigen, daß solche Vorstellungen immer virulent geblieben sind. Hoffen wir also insgeheim, wenn wir an Bord einer Fähre gehen, den Vorgang des Sterbens auf eine für uns nachvollziehbare und angenehme Weise ein Stück weit symbolisch vorwegzuerleben? Das würde zumindest das kaum vernehmlich leise Unbehagen erklären, das sich oft in die Freude auf eine Schiffsüberfahrt mischt. Heute bin ich ganz ruhig, drüben im Jenseits liegt schließlich Glückstadt. Nur, wer weiß schon, wie jenseits Glück definiert wird? Ich sage bloß "Weilaghiri".
Glückstadt (Wikipedia): “Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde die Landesarbeitsanstalt... als frühes Konzentrationslager genutzt, in dem 150 politischen Gegner inhaftiert waren. Das Gebäude wurde bis 1974 als Landesfürsorgeheim zur Umerziehung von Jugendlichen weitergenutzt. Während dieser Zeit kam es systematisch zu gewalttätigem Missbrauch der Jugendlichen durch Heimangestellte.”



Heute zählt nicht das steinerne Herz, sondern das abenteuerliche. Wir rollen die Rampe hinauf, an Bord von Charons Nachen. Habe ich auch den Obolus unter der Zunge nicht vergessen? Die Rampe hebt sich, eine Kette wird vorgehängt, die Fähre legt ab.

Der Nebel hatte sich etwas gehoben, und ich sah, daß wir durch enge Kanäle flossen, weit mochte sich umher ein flaches trübes Sumpfdelta hinziehen (nur einmal glitt rasch ein Streifchen reinlichen Kieselufers vorbei). Ab und zu kamen schon halbverfallene Hütten; schwere Steinränder, aber grün schlüpfrig und naß, begannen die schlaff gluckenden tiefen Wasseradern zu säumen; vereinsamte Häuser erschienen, düster und feucht gefleckt; Aschtonnen, Abfallhalden und öde Baugruben der rußigen Vorstädte, eine häßliche gerade Brücke hallte hastig und tonlos dicht oben und war ein trübes rattiges Tor. Bei Speichern und Kohlenlagern stierten Mietskasernen aus schwarzen Fenstern, Kinder spielten langsam im Müll der Höfe, Weiber keiften. Wir standen mürrisch an Deck und wurden unaufhaltsam vorbei geführt; höher wurden die Häuserblocks, Kähne schlappten am algigen Bollwerk; dann glitten wir in ein mäßiges Becken, und das Schiff legte sich selbst längsseits der niedrigen Mauer" (A.S., Enthymesis oder W.I.E.H.)

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