Samstag, 9. Januar 2010
"Es hätte mich um den besten Reiz dieser Gesellschaft gebracht."
Während es draußen endlich einmal richtig wintert, sollte ich die erzwungene Muße im Haus nutzen, um zu Ende zu bringen, was ich im letzten Jahr begonnen habe: die Erzählung von Friedrich Schillers Vorliebe für Dreiecksbeziehungen. Ebenfalls bis zu einem Winter, genauer dem Februar 1788, war ich bisher gekommen. Da hatten die verwitwete Juliane von Lengefeld, 44 Jahre alt, und ihre ältere Tochter Caroline, 24 Jahre alt und so unglücklich verheiratet, daß sie in Gegenwart ihres Mannes oder bei sonstiger Aufregung stets ein nervöses Zucken im Gesicht befiel, beschlossen, die drei Jahre jüngere Schwester Charlotte solle endlich ihre unglückliche Liebe zu einem nach Indien abkommandierten englischen Offizier vergessen und sich auf dem Weimarer Heiratsmarkt präsentieren. Auf einem dazu wie gerufen kommenden Maskenball lief sie dem bekannten und ebenfalls auf eine Heirat erpichten 29-jährigen Friedrich Schiller in die Visierlinie.
“Uebrigens bin ich noch ganz frei und das ganze Weibergeschlecht steht mir offen; aber ich wünschte bestimmt zu seyn. – Uebrigens wiederhole ich Dir noch einmal, halte mich nicht im geringsten für gefesselt, aber fest entschlossen, es zu werden”, hatte Schiller erst einen Monat vorher an seinen vertrauten Freund Körner geschrieben. Dann kam der Faschingsball Anfang Februar, auf dem Schiller durch die Aufführung seines Huldigungsgedichts an die Herzoginnen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, und er und das junge Fräulein v. Lengefeld erneuerten ihre Bekanntschaft. Dabei stellte er sich anfangs etwa ebenso geschickt an wie in seinen lobhudelnden Reimereien: “... hoffe ich Sie auch zu überzeugen, wie wenig meine bisherige seltene Erscheinung bei Ihnen der Unfähigkeit zuzuschreiben war, den Wert Ihres Umgangs zu empfinden”, heißt es in einem Billet, das er ihr nach zwei Wochen zustellen ließ. Sie wird ob dieser Leidenschaftlichkeit einer Ohnmacht nahe aufs Sofa gesunken sein.
Doch Charlotte war anscheinend eine schwärmerische Seele. Ehe sie nach Rudolstadt zurückkehrte, bat sie Schiller, ihr zum Abschied ein paar Zeilen in ihr Poesiealbum zu schreiben, und er dichtete: Ein blühend Kind, von Grazien und Scherzen / Umhüpft - so, Freundin, spielt um dich die Welt, / Doch so, wie sie sich malt in deinem Herzen, / In deiner schönen Seele Spiegel fällt, / So ist sie nicht. Punkt.
Zurück in Rudolstadt mußte Charlotte offenbar genauestens berichten. Nach zwei Wochen schrieb Schwester Caroline an ihren Cousin Wilhelm von Wolzogen: “Wir sind noch nicht mit Erzählen fertig, das denkst du wohl”. Sie scheint großen Anteil am Umgang ihrer Schwester genommen zu haben, und die Damen beschlossen, Herrn Schiller, obgleich nicht von Stand, für den Sommer in schickliche Nähe von Rudolstadt einzuladen, und mieteten gleich ein Zimmer für ihn im nahen Volkstedt an der Saale.
Es sprach sich natürlich sofort herum, bis nach Sachsen, doch Schiller stritt erst einmal ab, daß an der Sache etwas Ernsthaftes sei: “Du thust, als ob Du wüßtest, ich habe hier eine ernsthafte Geschichte, zu der ich Euch nach und nach vorbereiten wolle, und Du sagst, Du hättest es aus einer guten Quelle”, schrieb er Körner und vermutete wohl seine (Ex-?)Geliebte von Kalb dahinter. “Glaube mir, Deine Quelle ist schlecht, und ich bin von etwas wirklichem dieser Art so weit entfernt, als nur jemals in Dresden”, beruhigte er und lenkte den Verdacht bewußt in die falsche Richtung: “Die Wielandsche Tochter ist so gut als versprochen; ich habs von dem Vater selbst”. An den stillen Rivalen von Wolzogen schrieb er indes zur gleichen Zeit maliziös: “Fräulein von Lengenfeld ist noch hier und in der That meine liebste Gesellschaft.”
Am 6. April reiste das edle Fräulein ab, und Schiller schickte ihr einen Abschiedsbrief.
Und es ergaben sich etliche “solche Abende” im Laufe dieses Sommers.
“In unserm Hause begann für Schiller ein neues Leben”, schrieb Caroline später in ihrer Schiller-Biographie rückblickend. “Lange hatte er den Reiz eines freien freundschaftlichen Umgangs entbehrt; uns fand er immer empfänglich für die Gedanken, die eben seine Seele erfüllten. Er wollte auf uns wirken, uns von Poesie, Kunst und philosophischen Ansichten das mitteilen, was uns frommen könnte, und dies Bestreben gab ihm selbst eine milde harmonische Gemütsstimmung. Sein Gespräch floss über in heitrer Laune; sie erzeugte witzige Einfälle, und wenn oft störende Gestalten unsern kleinen Kreis beengten, so ließ ihre Entfernung uns das Vergnügen des reinen Zusammenklangs unter uns nur noch lebhafter empfinden. Wie wohl war es uns, wenn wir nach einer langweiligen Kaffeevisite unserm genialen Freunde unter den schönen Bäumen des Saaleufers entgegengehen konnten! Ein Waldbach, der sich in die Saale ergießt und über den eine schmale Brücke führt, war das Ziel, wo wir ihn erwarteten. Wenn wir ihn im Schimmer der Abendröte auf uns zukommen erblickten, dann erschloss sich ein heiteres ideales Leben unserm innern Sinne.”
“Punkt sechs Uhr hoffe ich am Wasser zu seyn”, verabredete sich Schiller schon für den übernächsten Tag wieder. Aber der Maiabend in dem feuchten Bachgrund war wohl etwas zu kühl für die stets labile Gesundheit des Dichters, und er zog sich das zu, was meine Mutter in meinen Pubertätsjahren schadenfroh einen “Haustürenkatarrh” nannte. “Glauben Sie mir meine theuersten, dass auch mir der Gedanke, Sie so nahe zu wissen ohne unter Ihnen seyn zu können, unleidlich war”, meldete er am 4. Juni nach Rudolstadt und sprach Charlotte und ihre verheiratete Schwester gleichermaßen an. “Als die ältere Tochter, die das Haus seit meiner Verheiratung mit Herrn von Beulwitz führte, leitete ich auch gewöhnlich die Unterhaltung”, erläuterte sie später in der Biographie. “Selten war es mir so wohl geworden, mich so ganz über alles aussprechen zu können.”
Nach dem Abklingen seines Schnupfens war es auch Schiller wieder sauwohl. Selbst Körner gegenüber wollte er es nicht ganz verhehlen, schützte allerdings gleich wieder Arbeit vor. “Meine Existenz ist hier gar angenehm. Hätte ich weniger zu thun, ich könnte glücklich seyn; doch fühle ich meinen Genius wieder, und mein Menschenfeind, glaub ich, wird gut”, teilte er ihm Anfang Juli mit. Gegen Ende des Monats schenkte er dem Freund allmählich reineren Wein ein:
“Uebrigens bin ich noch ganz frei und das ganze Weibergeschlecht steht mir offen; aber ich wünschte bestimmt zu seyn. – Uebrigens wiederhole ich Dir noch einmal, halte mich nicht im geringsten für gefesselt, aber fest entschlossen, es zu werden”, hatte Schiller erst einen Monat vorher an seinen vertrauten Freund Körner geschrieben. Dann kam der Faschingsball Anfang Februar, auf dem Schiller durch die Aufführung seines Huldigungsgedichts an die Herzoginnen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, und er und das junge Fräulein v. Lengefeld erneuerten ihre Bekanntschaft. Dabei stellte er sich anfangs etwa ebenso geschickt an wie in seinen lobhudelnden Reimereien: “... hoffe ich Sie auch zu überzeugen, wie wenig meine bisherige seltene Erscheinung bei Ihnen der Unfähigkeit zuzuschreiben war, den Wert Ihres Umgangs zu empfinden”, heißt es in einem Billet, das er ihr nach zwei Wochen zustellen ließ. Sie wird ob dieser Leidenschaftlichkeit einer Ohnmacht nahe aufs Sofa gesunken sein.
Doch Charlotte war anscheinend eine schwärmerische Seele. Ehe sie nach Rudolstadt zurückkehrte, bat sie Schiller, ihr zum Abschied ein paar Zeilen in ihr Poesiealbum zu schreiben, und er dichtete: Ein blühend Kind, von Grazien und Scherzen / Umhüpft - so, Freundin, spielt um dich die Welt, / Doch so, wie sie sich malt in deinem Herzen, / In deiner schönen Seele Spiegel fällt, / So ist sie nicht. Punkt.
Zurück in Rudolstadt mußte Charlotte offenbar genauestens berichten. Nach zwei Wochen schrieb Schwester Caroline an ihren Cousin Wilhelm von Wolzogen: “Wir sind noch nicht mit Erzählen fertig, das denkst du wohl”. Sie scheint großen Anteil am Umgang ihrer Schwester genommen zu haben, und die Damen beschlossen, Herrn Schiller, obgleich nicht von Stand, für den Sommer in schickliche Nähe von Rudolstadt einzuladen, und mieteten gleich ein Zimmer für ihn im nahen Volkstedt an der Saale.
Es sprach sich natürlich sofort herum, bis nach Sachsen, doch Schiller stritt erst einmal ab, daß an der Sache etwas Ernsthaftes sei: “Du thust, als ob Du wüßtest, ich habe hier eine ernsthafte Geschichte, zu der ich Euch nach und nach vorbereiten wolle, und Du sagst, Du hättest es aus einer guten Quelle”, schrieb er Körner und vermutete wohl seine (Ex-?)Geliebte von Kalb dahinter. “Glaube mir, Deine Quelle ist schlecht, und ich bin von etwas wirklichem dieser Art so weit entfernt, als nur jemals in Dresden”, beruhigte er und lenkte den Verdacht bewußt in die falsche Richtung: “Die Wielandsche Tochter ist so gut als versprochen; ich habs von dem Vater selbst”. An den stillen Rivalen von Wolzogen schrieb er indes zur gleichen Zeit maliziös: “Fräulein von Lengenfeld ist noch hier und in der That meine liebste Gesellschaft.”
Am 6. April reiste das edle Fräulein ab, und Schiller schickte ihr einen Abschiedsbrief.
“Sie werden gehen, liebstes Fräulein, und ich fühle, daß Sie mir den besten Theil meiner jezigen Freuden mit sich hinwegnehmen... ich fühle selbst recht gut, wie zusammengebunden und zerknickt ich oft gewesen bin. Viel mehr bin ich nun wohl nicht, aber doch um etwas Weniges besser, als ich während der kurzen Zeit unsrer Bekanntschaft und bei den Außendingen, die uns umgaben, in Ihren Augen habe erscheinen können. Eine schönere Sonne, hoffe ich, wird etwas Besseres aus mir machen, und der Wunsch, Ihnen etwas seyn zu können, wird dabei einen sehr großen Antheil haben. Auch in Ihrer Seele werde ich einmal lesen, und ich freue mich im Voraus, bestes Fräulein, auf die schönen Entdeckungen, die ich darin machen werde. Vielleicht finde ich, daß wir in manchen Stücken mit einander sympathisiren, und das soll mir eine unendlich werthe Entdeckung seyn. - Sehen will ich Sie vor Ihrer Abreise nicht mehr. – Abschiede, auch auf kurze Zeit, sind etwas so Trauriges für mich.”In seinem ersten Brief nach Rudolstadt nur fünf Tage später klopfte Schiller aber sehr wohl in puncto Ernsthaftigkeit auf den Lengefeldschen Busch:
“Die Einsamkeit macht jetzt meine Glückseligkeit aus, weil Sie mich mit Ihnen zusammenbringt und mich ungestört bei dem Andenken der vergangenen Freuden und der Hoffnung auf die noch kommenden verweilen läßt. Was für schöne Träume bilde ich mir für diesen Sommer, die Sie alle wahr machen können. Aber ob Sie es auch wollen werden? Es beunruhigt mich oft, mein theuerstes Fräulein, wenn ich daran denke, daß das, was jezt meine höchste Glückseligkeit ausmacht, Ihnen vielleicht nur ein vorüber gehendes Vergnügen gab; und doch ist es so wesentlich für mich, zu wissen, ob Sie Ihr eignes Werk nicht bereuen, ob Sie das, was Sie mir in so kurzer Zeit geworden sind, nicht lieber zurücknehmen möchten, ob es Ihnen angenehm oder gleichgültig ist. Könnte ich hoffen, daß von der Glückseligkeit Ihres Lebens ein kleiner Antheil auf meine Rechnung käme, wie gern entsagte ich manchen Entwürfen für die Zukunft, um des Vergnügens willen, Ihnen näher zu seyn! Wie wenig sollte es mir kosten, den Bezirk, den Sie bewohnen, für meine Welt anzunehmen! Sie haben mir selbst einmal gesagt, daß eine ländliche Einsamkeit im Genuß der Freundschaft und schöner Natur Ihre Wünsche ausfüllen könnte. Hier wäre schon eine sehr wesentliche Uebereinstimmung zwischen uns. Ich kenne kein höheres Glück. Mein Ideal von Lebensgenuß kann sich mit keinem andern vertragen.”Was für ein Spiel aber spielte Schiller gegenüber seinem besten Freund?
“Volkstädt bei Rudolstadt, 26. Mai 1788.Denn arbeiten wollte er den Sommer über auf dem Lande und listete dem Freund eine ganze Latte von Projekten auf. Am gleichen Tag aber schrieb er den beiden Schwestern v. Lengefeld: “Ich hoffe, daß Ihnen allen die gestrige Partie so gut bekommen sey, wie mir. Es war ein gar lieblicher, vertraulicher Abend, der mir für diesen Sommer die schönsten Hoffnungen gibt. Mehr solche Abende und in so lieber Gesellschaft – mehr verlange ich nicht.”
Seit acht Tagen bin ich nun hier in einer sehr angenehmen Gegend, eine kleine halbe Stunde von der Stadt, und in einer sehr bequemen heitern und reinlichen Wohnung... Das Dorf liegt in einem schmalen aber lieblichen Thale, das die Saale durchfließt, zwischen sanft ansteigenden Bergen. Von diesen habe ich eine sehr reizende Aussicht auf die Stadt... In der Stadt selbst habe ich an der Lengefeldschen und Beulwitzschen Familie eine sehr angenehme Bekanntschaft, und bis jetzt noch die einzige, wie sie es vielleicht auch bleiben wird. Doch werde ich eine sehr nahe Anhänglichkeit an dieses Haus, und eine ausschließende an irgend eine einzelne Person aus demselben, sehr ernstlich zu vermeiden suchen. Es hätte mir etwas der Art begegnen können, wenn ich mich mir selbst ganz hätte überlassen wollen. Aber jetzt wäre es gerade der schlimmste Zeitpunkt, wenn ich das bischen Ordnung, das ich mit Mühe in meinen Kopf, mein Herz und in meine Geschäfte gebracht habe, durch eine solche Distraction wieder über den Haufen werfen wollte.”
Und es ergaben sich etliche “solche Abende” im Laufe dieses Sommers.
“In unserm Hause begann für Schiller ein neues Leben”, schrieb Caroline später in ihrer Schiller-Biographie rückblickend. “Lange hatte er den Reiz eines freien freundschaftlichen Umgangs entbehrt; uns fand er immer empfänglich für die Gedanken, die eben seine Seele erfüllten. Er wollte auf uns wirken, uns von Poesie, Kunst und philosophischen Ansichten das mitteilen, was uns frommen könnte, und dies Bestreben gab ihm selbst eine milde harmonische Gemütsstimmung. Sein Gespräch floss über in heitrer Laune; sie erzeugte witzige Einfälle, und wenn oft störende Gestalten unsern kleinen Kreis beengten, so ließ ihre Entfernung uns das Vergnügen des reinen Zusammenklangs unter uns nur noch lebhafter empfinden. Wie wohl war es uns, wenn wir nach einer langweiligen Kaffeevisite unserm genialen Freunde unter den schönen Bäumen des Saaleufers entgegengehen konnten! Ein Waldbach, der sich in die Saale ergießt und über den eine schmale Brücke führt, war das Ziel, wo wir ihn erwarteten. Wenn wir ihn im Schimmer der Abendröte auf uns zukommen erblickten, dann erschloss sich ein heiteres ideales Leben unserm innern Sinne.”
“Punkt sechs Uhr hoffe ich am Wasser zu seyn”, verabredete sich Schiller schon für den übernächsten Tag wieder. Aber der Maiabend in dem feuchten Bachgrund war wohl etwas zu kühl für die stets labile Gesundheit des Dichters, und er zog sich das zu, was meine Mutter in meinen Pubertätsjahren schadenfroh einen “Haustürenkatarrh” nannte. “Glauben Sie mir meine theuersten, dass auch mir der Gedanke, Sie so nahe zu wissen ohne unter Ihnen seyn zu können, unleidlich war”, meldete er am 4. Juni nach Rudolstadt und sprach Charlotte und ihre verheiratete Schwester gleichermaßen an. “Als die ältere Tochter, die das Haus seit meiner Verheiratung mit Herrn von Beulwitz führte, leitete ich auch gewöhnlich die Unterhaltung”, erläuterte sie später in der Biographie. “Selten war es mir so wohl geworden, mich so ganz über alles aussprechen zu können.”
Nach dem Abklingen seines Schnupfens war es auch Schiller wieder sauwohl. Selbst Körner gegenüber wollte er es nicht ganz verhehlen, schützte allerdings gleich wieder Arbeit vor. “Meine Existenz ist hier gar angenehm. Hätte ich weniger zu thun, ich könnte glücklich seyn; doch fühle ich meinen Genius wieder, und mein Menschenfeind, glaub ich, wird gut”, teilte er ihm Anfang Juli mit. Gegen Ende des Monats schenkte er dem Freund allmählich reineren Wein ein:
”Ich habe mich hier noch immer ganz vortreflich wohl. Nur entwischt mir manches schöne Stündchen in dieser anziehenden Gesellschaft, das ich eigentlich vor dem Schreibtisch zubringen sollte. Wir sind einander hier nothwendig geworden und keine Freude wird mehr allein genoßen. Die Trennung von diesem Hause wird mir sehr schwer seyn, und vielleicht desto schwerer, weil ich durch keine leidenschaftliche Heftigkeit sondern durch eine ruhige Anhänglichkeit die sich nach und nach so gemacht hat, daran gehalten werde. Mutter und Töchter sind mir gleich lieb und werth geworden und ich bin es ihnen auch. Es war echt gut gethan, dass ich mich gleich auf einen vernünftigen Fuß gesetzt habe, und einem ausschließenden Verhältniß so glücklich ausgewichen bin. Es hätte mich um den besten Reiz dieser Gesellschaft gebracht. Beide Schwestern haben etwas Schwärmerei, was Deine Weiber nicht haben, doch ist sie bei beiden dem Verstande subordiniret und durch Geistescultur gemildert. Die jüngere ist nicht ganz frey von einer gewissen Coquetterie d’esprit, die aber durch Bescheidenheit und immer gleiche Lebhaftigkeit mehr Vergnügen gibt als drückt.”Auch wenn man Schillers brieflichen Äußerungen offensichtlich nicht immer trauen kann, schreibt er hier doch Aufschlußreiches: Er ist - vernünftigerweise, wie er sagt - “einem ausschließenden Verhältniß ausgewichen”, d.h. er hat es vermieden sich festzulegen, und kann damit ja nur die beiden Schwestern meinen. Nachdem er sich im Winter in Weimar an die Jüngere, an Charlotte, herangepirscht und ihr anschließend in Briefen “ernsthaft” den Hof gemacht hatte, ging er im Sommer in Rudolstadt mit beiden Schwestern gleichermaßen um (obwohl die ältere längst verheiratet war) und genoß es. Schiller spielte wieder einmal eines seiner Dreiecksspielchen.
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Mittwoch, 23. Dezember 2009
“Ohne schön zu seyn anziehend” Projekt Heiraten als Therapie
Wenn die Beziehung zu Mutter und Tochter Wolzogen zumindest in Schillers Phantasien ein erstes Dreiecksverhältnis bildete, so entwickelte sich das zweite zu den von Kalbs als ein durchaus reales weiter. Im Herbst 1787 kam nämlich Heinrich von Kalb auf Urlaub auf sein väterliches Gut Kalbsrieth, nur etwa 50 km nördlich von Weimar, und seine Frau hielt sich abwechselnd dort und dann wieder in der Stadt auf. In dieser delikaten Situation suchte Schiller für die Zeiten, in denen seine Geliebte bei ihrem Mann weilte, offenbar weitere Ablenkung. Körner schrieb er, die Wahrheit nachträglich etwas frei gestaltend, am 8.12.87:
“In Rudolstadt habe ich mich auch einen Tag aufgehalten, und wieder eine recht liebenswürdige Familie kennen lernen”, heißt es im gleichen Brief weiter. “Eine Frau von Lengenfeld lebt da mit einer verheiratheten und einer noch ledigen Tochter. Beide Geschöpfe sind (ohne schön zu seyn) anziehend und gefallen mir sehr.”
Sogleich setzt eine Veränderung im Verhältnis zur bisherigen Favoritin ein: “Hier in Weimar habe ich Charlotte und ihren Mann wiedergefunden. Er ist ganz der alte, wie ich aus dem ersten Anblick urtheilen konnte; denn ich habe ihn nur einmal gesprochen. Sie ist gesund und sehr aufgeweckt. (Ich weiß nicht, ob die Gegenwart des Mannes mich lassen wird, wie ich bin. Ich fühle in mir schon einige Veränderung, die weiter gehen kann.)”
Mitte November bereits hatte Schiller einen selten hellsichtigen Brief über sich selbst und sein Verhältnis zu Frauen geschrieben:
Seine bisherige Geliebte, Frau v. Kalb, steht dafür, wie sich inzwischen definitiv erwiesen hat, nicht zur Verfügung, und schon ist Schiller bereit, sie ein zweites Mal und diesmal endgültig abzuschreiben. Was bei der inzwischen leicht überspannten Frau wahre Verzweiflungsstürme ausgelöst haben soll. Schillers heiratserpichte Suchscheinwerfer beginnen indeß erneut zu kreisen, und gegen Ende des Winters ‘88 gerät neue Beute in ihren Lichtkegel. Nicht zufällig, denn genau zu diesem Zweck wurde sie auf den Wildwechseln Weimars ins Schußfeld gestellt. Dabei ist sie eigentlich schon waidwund geschossen von Amors Pfeilen. “Meine Schwester konnte wohl in jedem Sinne eine wünschenswerte Verbindung für Schiller sein”, schrieb Karoline von Wolzogen (geb. v. Lengefeld, geschiedene v. Beulwitz) in ihrer Schiller-Biographie über ihre Schwester Charlotte und über die Anbahnung ihres Verhältnisses zu dem heiratswütigen Poeten in Weimar, dem sie anläßlich einer Aufführung der Räuber vier Jahre zuvor bereits vorgestellt worden waren. Doch damals in Mannheim war Charlotte ein 17jähriger Backfisch auf der Rückreise aus der Schweiz gewesen, und die Schwestern hatten sich allenfalls gewundert, daß “ein so gewaltiges und ungezähmtes Genie ein so sanftes Äußeres haben könne”. Den folgenden Winter hatte Charlotte bei ihrer Patentante, der Frau von Stein, in Weimar verbracht, um “in die Gesellschaft eingeführt” und womöglich von der Herzogin als Hofdame engagiert zu werden. Stattdessen lernte sie einen schottischen Captain namens Henry Heron auf seiner Kavalierstour kennen, und verliebte sich so heftig in ihn, daß ganz Weimar davon wußte. Ostern 1785 gestand er ihr seine Liebe und zeigte ihr gleichzeitig den Befehl, der ihn zum Militärdienst nach Indien abberief. Abflug Heron.
“Während daß Frau von Kalb in Kalbsrieth sich aufhielt, bekam ich solche Aufforderungen von meiner Schwester und der Dame, auf deren Gut ich war, nach Meiningen zu kommen, daß ich meinen Interims-Wittwerstand in Weimar endlich aufopfern mußte.” (Interims-Wittwerstand ist natürlich auch ein aufschlußreiches Wort dafür, wie Schiller sein Verhältnis zu Charlotte von Kalb sah.) “Die Dame hat sich große Rechte auf meine Dankbarkeit erworben; sie bittet mich in mehr als zwanzig Briefen, solang ich in Weimar bin, unaufhörlich um diesen Besuch... Ich war also wieder in der Gegend, wo ich von 82 bis 83 als ein Einsiedler lebte... Jezt nach fünf Jahren kam ich wieder, nicht ohne manche Erfahrungen über Menschen, Verhältnisse und mich. Jene Magie war wie weggeblasen. Ich fühlte nichts. Keiner von allen Plätzen, die ehemals meine Einsamkeit interessant machten, sagte mir jezt etwas mehr.”Meiningen/Wolzogen scheint also endgültig abgehakt zu sein und nicht einmal mehr als Notnagel genügend Attraktivität für Schiller zu besitzen, und Charlotte weilt bei ihrem Mann in Kalbsrieth, eine Zeit, Trübsal zu blasen, könnte man vermuten. Aber nein, die Situation schafft vor allem Raum für neue Bekanntschaften.
“In Rudolstadt habe ich mich auch einen Tag aufgehalten, und wieder eine recht liebenswürdige Familie kennen lernen”, heißt es im gleichen Brief weiter. “Eine Frau von Lengenfeld lebt da mit einer verheiratheten und einer noch ledigen Tochter. Beide Geschöpfe sind (ohne schön zu seyn) anziehend und gefallen mir sehr.”
Sogleich setzt eine Veränderung im Verhältnis zur bisherigen Favoritin ein: “Hier in Weimar habe ich Charlotte und ihren Mann wiedergefunden. Er ist ganz der alte, wie ich aus dem ersten Anblick urtheilen konnte; denn ich habe ihn nur einmal gesprochen. Sie ist gesund und sehr aufgeweckt. (Ich weiß nicht, ob die Gegenwart des Mannes mich lassen wird, wie ich bin. Ich fühle in mir schon einige Veränderung, die weiter gehen kann.)”
Mitte November bereits hatte Schiller einen selten hellsichtigen Brief über sich selbst und sein Verhältnis zu Frauen geschrieben:
“Ich glaube wirklich, Wieland kennt mich noch wenig genug, um mir seinen Liebling, seine zweite Tochter nicht abzuschlagen, selbst jezt nicht, da ich nichts habe. Das Mädchen kenne ich nicht, gar nicht, aber siehst Du, ich würde sie ihm heute abfordern, wenn ich glaubte, daß ich sie verdiente. Es ist sonderbar, ich verehre, ich liebe die herzliche empfindende Natur, und eine Kokette, jede Kokette kann mich fesseln. Jede hat eine unfehlbare Macht auf mich, durch meine Eitelkeit und Sinnlichkeit; entzünden kann mich keine, aber beunruhigen genug. Ich habe hohe Begriffe von häuslicher Freude, und doch nicht einmal soviel Sinn dafür, um mir sie zu wünschen. Ich werde ewig isolirt bleiben in der Welt, ich werde von allen Glückseligkeiten naschen, ohne sie zu genießen. Auf die Wieland zurückzukommen: ich sage Dir, ich glaube, daß mich ein Geschöpf, wie dieses, glücklich machen könnte, wenn ich soviel Egoismus hätte, glücklich seyn zu können, ohne glücklich zu machen, und an dem leztern zweifle ich sehr. Bei einer ewigen Verbindung, die ich eingehen soll, darf Leidenschaft nicht seyn, und darum hab ich bei diesem Falle mich schon verweilt. Ich kenne weder das Mädchen, noch weniger fühle ich einen Grad von Liebe, weder Sinnlichkeit noch Platonismus – aber die innigste Gewißheit, daß es ein gutes Wesen ist, daß es tief empfindet und sich innig attachiren kann, mit der Rücksicht zugleich, daß sie zu einer Frau ganz vortrefflich erzogen ist, äußerst wenig Bedürfnisse und unendlich viel Wirthschaftlichkeit hat.” (19.11.87)Nun gut, das junge Fräulein Wieland, wohl Maria Karolina, 1770 geboren und also heiratsfähige 17 Jahre alt - man findet sich in “Wielands Kinder-Fabrick” (wie es Göthes Mutter einmal in einem Brief an Herzogin Anna Amalia ausdrückte) nicht so leicht durch. Nicht weniger als 14 Kinder brachte seine Frau zur Welt, von denen allerdings nur 7 groß wurden - eine junge Wieland-Tochter also kam persönlich nicht in Betracht, aber sonst läßt Schiller hier recht genaue Vorstellungen von einer zukünftigen Ehe erkennen, und in seinem nächsten Neujahrsbrief an Körner hat das Unternehmen Heirat weitere gedankliche Fortschritte gemacht:
“Dass ich jezt so vielen Werth auf Gründlichkeit lege, führt Dich vielleicht auf die Vermuthung, dass ich für ein Etablissement arbeite. Das ist dennoch der Fall nicht, aber mein Schicksal muß ich innerhalb eines Jahres ganz in der Gewalt haben und also für eine Versorgung qualifiziert seyn... ich muß eine Frau dabei ernähren können, denn noch einmal, mein Lieber, dabei bleibt es, dass ich heirathe. Könntest Du in meiner Seele so lesen, wie ich selbst, Du würdest keine Minute darüber unentschieden seyn. Alle meine Triebe zu Leben und Thätigkeit sind in mir abgenützt; diesen einzigen habe ich noch nicht versucht. Ich führe eine elende Existenz, elend durch den inneren Zustand meines Wesens. Ich muß ein Geschöpf um mich haben, das mir gehört, das ich glücklich machen kann und muß, an dessen Daseyn mein eigenes sich erfrischen kann. Du weißt nicht, wie verwüstet mein Gemüth, wie verfinstert mein Kopf ist... Freundschaft, Geschmack, Wahrheit und Schönheit werden mehr auf mich wirken, wenn eine ununterbrochene Reihe feiner wohlthätiger häuslicher Empfindungen mich für die Freude stimmt und mein erstarrtes Wesen wieder durchwärmt. Ich bin bis jetzt ein isolierter fremder Mensch in der Natur herumgeirrt, und habe nichts als Eigenthum besessen. Alle Wesen, an die ich mich fesselte, haben etwas gehabt, das ihnen theurer war als ich, und damit kann sich mein Herz nicht behelfen. Ich sehne mich nach einer bürgerlichen und häußlichen Existenz, und das ist das Einzige, was ich jezt noch hoffe.”In einem Brief an den zweiten Leipziger Freund, Ferdinand Huber, (vom 20.1.1788) wird er noch deutlicher:
“Du glaubst nicht, wie sehr ich seit 4 oder 5 Jahren aus dem natürlichen Geleise menschlicher Empfindungen gewichen bin; diese Verrenkung meines Wesens macht mein Unglück, weil Unnatur nie glücklich machen kann; aber ich kann sie auf keinem Wege verbeßern; auf keinem der mir bekannt ist, durchaus auf keinem vielleicht; aber Einen habe ich noch nicht versucht und ehe ich die Hoffnung ganz sinken lasse, muß ich noch diese Erfahrung machen. Diß ist eine Heurath. Glaube mir, daß ich Dir keinen Roman auftische. Wenn andre meinesgleichen durch häußliche Feßeln für weiter Plane der Wirksamkeit verloren gehen, so ist Häußlichkeit just das einzige, was mich heilen kann, weil es mich zur Natur, zur sehr prosaischen Alltagsnatur zurückführt, von der ich erstaunlich weit abseits gerathen bin. Weder Du noch Körner – und wer also sonst? könnt die Zerstörung ahnden, welche Hypochondrie, Überspannung, Eigensinn der Vorstellung, Schicksal meinetwegen in dem innern meines Geists und Herzens angerichtet haben.”Außer an die Geschichte der Niederlande, die ihm endlich das nötige Geld und eine feste Stellung einbringen soll (“Erstens. Ich muß von Schriftstellerei leben, also auf das sehen, was einträgt... Mit der Hälfte des Werths, den ich einer historischen Arbeit zu geben weiß, erreiche ich mehr Anerkennung in der sogenannten gelehrten und in der bürgerlichen Welt als mit dem größten Aufwand meines Geistes für die Frivolität einer Tragödie.” Er spekuliert bereits auf eine Jenaer Professur), denkt Schiller vor allem an eins: er will heiraten. Alle anderen “Triebe” sind schon fad geworden, “diesen einzigen habe ich noch nicht versucht”. Und ein Jahr gesteht er sich für die Brautschau noch zu; mit 30 will er unter der Haube sein.
Seine bisherige Geliebte, Frau v. Kalb, steht dafür, wie sich inzwischen definitiv erwiesen hat, nicht zur Verfügung, und schon ist Schiller bereit, sie ein zweites Mal und diesmal endgültig abzuschreiben. Was bei der inzwischen leicht überspannten Frau wahre Verzweiflungsstürme ausgelöst haben soll. Schillers heiratserpichte Suchscheinwerfer beginnen indeß erneut zu kreisen, und gegen Ende des Winters ‘88 gerät neue Beute in ihren Lichtkegel. Nicht zufällig, denn genau zu diesem Zweck wurde sie auf den Wildwechseln Weimars ins Schußfeld gestellt. Dabei ist sie eigentlich schon waidwund geschossen von Amors Pfeilen. “Meine Schwester konnte wohl in jedem Sinne eine wünschenswerte Verbindung für Schiller sein”, schrieb Karoline von Wolzogen (geb. v. Lengefeld, geschiedene v. Beulwitz) in ihrer Schiller-Biographie über ihre Schwester Charlotte und über die Anbahnung ihres Verhältnisses zu dem heiratswütigen Poeten in Weimar, dem sie anläßlich einer Aufführung der Räuber vier Jahre zuvor bereits vorgestellt worden waren. Doch damals in Mannheim war Charlotte ein 17jähriger Backfisch auf der Rückreise aus der Schweiz gewesen, und die Schwestern hatten sich allenfalls gewundert, daß “ein so gewaltiges und ungezähmtes Genie ein so sanftes Äußeres haben könne”. Den folgenden Winter hatte Charlotte bei ihrer Patentante, der Frau von Stein, in Weimar verbracht, um “in die Gesellschaft eingeführt” und womöglich von der Herzogin als Hofdame engagiert zu werden. Stattdessen lernte sie einen schottischen Captain namens Henry Heron auf seiner Kavalierstour kennen, und verliebte sich so heftig in ihn, daß ganz Weimar davon wußte. Ostern 1785 gestand er ihr seine Liebe und zeigte ihr gleichzeitig den Befehl, der ihn zum Militärdienst nach Indien abberief. Abflug Heron.
“Ihr Gemüt war wund und bewegt durch eine herzliche Neigung, die sie angeben musste, da äußere Umstände ungünstig waren. Der edle und liebenswürdige Mann, dem ihre Neigung zugewandt war, sprach seine Liebe in allem schmerz der Hoffnungslosigkeit aus und nährte so die Empfindung, die für ihn sprach. Seine Verhältnisse trugen ihn im Militärdienst über das Meer nach einem andern Weltteile, und die Wehmut eines solchen Abschieds tönte lange in dem Wesen meiner Schwester nach. Um sie zu erheitern, veranlassten wir einen Aufenthalt von einigen Monaten in Weimar”,erklärt Karoline mit der für eine Schiller-Biographie gebotenen höflichen Umschreibung. Schwesterchen war nämlich inzwischen 22 und gehörte dringend “versorgt”, weil der Vater früh verstorben und die verwitwete Mutter vergleichsweise mittellos zurückgeblieben war. Die ältere Tochter Karoline selbst war darum schon mit 16 ohne jede Rücksicht auf Gefühle dem begüterten Freiherrn Friedr. Wilh. von Beilwitz verheiratet worden. Nun also war die kleine, schüchterne und noch immer an Liebeskummer laborierende Charlotte dran. Pech nur für die Mutter, daß sie an dem gut gestellten, aber 22 Jahre älteren Prinzenerzieher Karl Ludwig von Knebel unerklärlicherweise wenig Gefallen fand. Da konnte sie das gewaltige, ungezähmte Genie mit dem sanften Äußeren schon eher vom Kummer über den entflogenen Reiher ablenken. Auf einem Maskenball im Karneval begegneten sie und das Genie sich Anfang Februar 1788 wieder. Als Haupt”event” wurde Schillers wenige Tage vorher zum Geburtstag der Herzogin Louise verfaßtes genial gereimtes Gedicht Die Priesterinnen der Sonne szenisch aufgeführt. Seine vorletzte Strophe lautet:
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Sonntag, 20. Dezember 2009
Trigonometrie, eine berechnende Wissenschaft
Es schneit und schneit und schneit. Selbst hier in den flachen Niederlanden fällt der Schnee so dicht und von einem kräftigen Wind schräg verwirbelt, dass man kaum die nächsten Häuser sieht, geschweige denn das Meer da draußen hinter den grauweißen Vorhängen. Was kann man an einem solchen Adventssonntag besseres tun, als den Kamin anzuzünden und mit einem schönen “Courtship plot” in Jane-Austen-Manier fortzufahren?
Während also Goethe sich mit “der Kauffmann” in der Sixtinischen Kapelle die Hälse verrenkte und anschließend ermüdet “auf dem päpstlichen Stuhle einem Mittagsschlaf” nachgab, versuchte der entlaufene Regimentsphysikus und Skandalautor Friedrich Schiller unterdessen auf dem glatt gebohnerten Parkett des Duodezfürstentums Sachsen-Weimar-Eisenach Fuß zu fassen und rutschte so manches Mal darauf aus, wenn nicht die Freifrau von Kalb in den Gepflogenheiten bei Hofe besser bewandert wäre. Entgegen seiner ersten Äußerung scheint es aber doch ein paar Anlaufschwierigkeiten zwischen ihnen gegeben zu haben:
Der über sein prächtiges Paar Hörner aufgeklärte Ehemann reagierte jedoch anders, als es im Sinn des verliebten Pärchens war. Weder forderte er den Beschmutzer seiner Ehre auf Pistole oder Säbel (wie man es von einem erfahrenen Soldaten vielleicht hätte gewärtigen müssen) noch überließ er dem (implizit für nicht satisfaktionsfähig erklärten) Nebenbuhler das Feld, sondern erklärte, daß er seine Frau liebe und deshalb ihr Verhältnis “notwendig durchsehen”, sprich tolerieren wolle. Ein großzügiger Mann, der Herr von Kalb auf Kalbsrieth. Was blieb ihm auch anderes übrig?
Es ist bekannt, daß der Major a.D. auf der Suche nach einem neuen Offizierspatent in Soldaten- und pfälzischen Hofkreisen einen recht teuren Lebenswandel führte. Sein ebenfalls verschwenderischer Bruder, der ehemalige Weimarer Kammerpräsident Johann v. Kalb, brachte aber, nachdem ihn wegen Unfähigkeit im Amt Göthe 1782 als Finanzminister abgelöst hatte, mehr und mehr das gesamte Vermögen beider Familien durch. (Er war zufällig mit Charlottes Schwester Lore verheiratet.) Und so war Heinrich v. Kalb auf die persönliche Schatulle seiner Frau angewiesen. Da mußte er bei ihrer romantischen Affäre mit einem dahergelaufenen armen Poeten eben einmal durch die Finger sehen.
Nach dem tatsächlichen Ende dieser Affäre sollte Frau von Kalb mit Schillers Worten zunehmend “materieller” werden (was sich vielleicht mit pragmatisch übersetzen läßt), und sie scheint das eheliche Zusammenleben mit ihrem Mann eine Zeitlang gar nicht einmal so unerträglich gefunden zu haben. Jedenfalls brachte sie ihm noch einmal einige Kinder zur Welt, bevor sich die Mittdreißigerin 1797 plötzlich ebenso schwärmerisch dem jüngeren Jean Paul an den Hals werfen sollte wie “einstmals Schiller”. Darauf zog sich Ehemann Heinrich endgültig auf sein Landgut Trabelsdorf zurück und lebte dort mit seiner Köchin, die ebenfalls drei Kinder von ihm bekam, bis wirklich alles Geld aufgebraucht war. Im April 1806 jagte er sich eine Kugel durch den Kopf.
19 Jahre vorher, im Sommer 1887 aber hat er sich, ob nun aus emotionaler Gleichgültigkeit, materieller Berechnung oder wirklicher Großzügigkeit, anscheinend bereiterklärt, fortan das zu führen, was man später eine “offene Ehe” nennen wird, und seine Frau mit ihrem Geliebten zu teilen.
Kirsten Jüngling, Mitautorin des Buchs Schillers Doppelliebe, ist der Meinung, dieses Arrangement sei gar nicht einmal gegen dessen Interessen gewesen, denn immerhin sei er ja schon einmal (aus Mannheim) vor Charlotte geflohen, und so hätte der Riegel, den Heinrich von Kalb einer ernsten Verbindung Charlottes mit Schiller vorlegte, diesen keineswegs gehindert, “sich romantischen Vorstellungen von einer Dreiecksbeziehung hinzugeben, denn Herr von Kalb blieb ihm gewogen, auch noch als er von des Dichters Beziehung zu seiner Frau wusste.” (Das Parlament 13/2005) Vielleicht erhöhte es für Schiller sogar den Reiz. Bei den Damen von Wolzogen bestand das wohl überwiegend imaginäre Dreieck aus zwei Damen um einen Mann; hier nun stand eine Frau zwischen zwei Männern. Variatio delectat.
Während also Goethe sich mit “der Kauffmann” in der Sixtinischen Kapelle die Hälse verrenkte und anschließend ermüdet “auf dem päpstlichen Stuhle einem Mittagsschlaf” nachgab, versuchte der entlaufene Regimentsphysikus und Skandalautor Friedrich Schiller unterdessen auf dem glatt gebohnerten Parkett des Duodezfürstentums Sachsen-Weimar-Eisenach Fuß zu fassen und rutschte so manches Mal darauf aus, wenn nicht die Freifrau von Kalb in den Gepflogenheiten bei Hofe besser bewandert wäre. Entgegen seiner ersten Äußerung scheint es aber doch ein paar Anlaufschwierigkeiten zwischen ihnen gegeben zu haben:
“Ich habe Dir nicht geschrieben, welche sonderbare Folge meine Erscheinung auf sie [Charlotte] gehabt hat. Vieles, was sie vorbereitete kann ich jetzt auch nicht wol schreiben. Sie hat mich mit einer heftigen bangen Ungeduld erwartet. Mein letzter Brief, der ihr meine Ankunft gewiß versicherte, setzte sie in eine Unruhe, die auf ihre Gesundheit wirkte”, teilt er Körner Anfang August 1787, mit. “Ihre Seele hieng nur noch an diesem Gedanken – und als sie mich hatte war ihre Empfänglichkeit für Freude dahin. Ein langes Harren hatte sie erschöpft, und Freude wirkte bei ihr Lähmung. Sie war fünf sechs Tage nach der ersten Woche meines Hierseyns fast jedem Gefühl abgestorben, nur die Empfindung dieser Ohnmacht blieb ihr und machte sie elend. Ihr Daseyn war nur noch durch convulsivische Spannung des Augenblicks hingehalten. Du kannst urtheilen, wie mir in dieser Zeit hier zu muthe war. Ihre Krankheit, ihre Stimmung und dann die Spannung, die ich hierherbrachte. Die Aufforderung, die ich hier hatte! Jetzt fängt sie an sich zu erhohlen, ihre Gesundheit stellt sich wieder her und ihr Geist wird freier. Jetzt erst können wir einander etwas seyn. Aber noch genießen wir uns nicht in einem zweckmäßigen Lebensplan, wie ich mir versprochen hatte. Alles ist nur Zurüstung für die Zukunft. Jetzt erwarte ich mit Ungeduld eine Antwort von ihrem Mann auf einen wichtigen Brief den ich ihm geschrieben”.Zehn Tage später trifft schon die Antwort aus dem pfälzischen Zweibrücken ein: “Herr von Kalb hat mir geschrieben. Er kommt zu Ende Septembers, seine Ankunft wird das weitere mit mir bestimmen. Seine Freundschaft für mich ist unverändert, welches zu bewundern ist, da er seine Frau liebt und mein Verhältniß mit ihr nothwendig durchsehen muß.” - Schade, daß die eigentlich interessanten Briefe so oft “verloren” gehen. Was mag Schiller dem Ehemann seiner Geliebten geschrieben haben? Er selbst sagt, daß es wichtig gewesen sei, und spricht von “Zurüstung für die Zukunft” und “zweckmäßigem Lebensplan”. Das läßt fast vermuten, er habe von Kalb die Scheidung vorgeschlagen, um anschließend selbst Charlotte heiraten zu können. Zumindest muß er der Meinung gewesen sein, daß sein Verhältnis zu Frau von Kalb inzwischen ein solches Ausmaß angenommen hatte (oder ein Ausmaß an öffentlicher Bekanntheit), daß er es für angebracht hielt, den betroffenen Ehemann davon in Kenntnis zu setzen. Nein, es muß mehr gewesen sein als nur das, denn Schiller macht ja die eigene Zukunft von v. Kalbs Reaktion abhängig: “seine Ankunft wird das weitere mit mir bestimmen.”
Der über sein prächtiges Paar Hörner aufgeklärte Ehemann reagierte jedoch anders, als es im Sinn des verliebten Pärchens war. Weder forderte er den Beschmutzer seiner Ehre auf Pistole oder Säbel (wie man es von einem erfahrenen Soldaten vielleicht hätte gewärtigen müssen) noch überließ er dem (implizit für nicht satisfaktionsfähig erklärten) Nebenbuhler das Feld, sondern erklärte, daß er seine Frau liebe und deshalb ihr Verhältnis “notwendig durchsehen”, sprich tolerieren wolle. Ein großzügiger Mann, der Herr von Kalb auf Kalbsrieth. Was blieb ihm auch anderes übrig?
Es ist bekannt, daß der Major a.D. auf der Suche nach einem neuen Offizierspatent in Soldaten- und pfälzischen Hofkreisen einen recht teuren Lebenswandel führte. Sein ebenfalls verschwenderischer Bruder, der ehemalige Weimarer Kammerpräsident Johann v. Kalb, brachte aber, nachdem ihn wegen Unfähigkeit im Amt Göthe 1782 als Finanzminister abgelöst hatte, mehr und mehr das gesamte Vermögen beider Familien durch. (Er war zufällig mit Charlottes Schwester Lore verheiratet.) Und so war Heinrich v. Kalb auf die persönliche Schatulle seiner Frau angewiesen. Da mußte er bei ihrer romantischen Affäre mit einem dahergelaufenen armen Poeten eben einmal durch die Finger sehen.
Nach dem tatsächlichen Ende dieser Affäre sollte Frau von Kalb mit Schillers Worten zunehmend “materieller” werden (was sich vielleicht mit pragmatisch übersetzen läßt), und sie scheint das eheliche Zusammenleben mit ihrem Mann eine Zeitlang gar nicht einmal so unerträglich gefunden zu haben. Jedenfalls brachte sie ihm noch einmal einige Kinder zur Welt, bevor sich die Mittdreißigerin 1797 plötzlich ebenso schwärmerisch dem jüngeren Jean Paul an den Hals werfen sollte wie “einstmals Schiller”. Darauf zog sich Ehemann Heinrich endgültig auf sein Landgut Trabelsdorf zurück und lebte dort mit seiner Köchin, die ebenfalls drei Kinder von ihm bekam, bis wirklich alles Geld aufgebraucht war. Im April 1806 jagte er sich eine Kugel durch den Kopf.
19 Jahre vorher, im Sommer 1887 aber hat er sich, ob nun aus emotionaler Gleichgültigkeit, materieller Berechnung oder wirklicher Großzügigkeit, anscheinend bereiterklärt, fortan das zu führen, was man später eine “offene Ehe” nennen wird, und seine Frau mit ihrem Geliebten zu teilen.
Kirsten Jüngling, Mitautorin des Buchs Schillers Doppelliebe, ist der Meinung, dieses Arrangement sei gar nicht einmal gegen dessen Interessen gewesen, denn immerhin sei er ja schon einmal (aus Mannheim) vor Charlotte geflohen, und so hätte der Riegel, den Heinrich von Kalb einer ernsten Verbindung Charlottes mit Schiller vorlegte, diesen keineswegs gehindert, “sich romantischen Vorstellungen von einer Dreiecksbeziehung hinzugeben, denn Herr von Kalb blieb ihm gewogen, auch noch als er von des Dichters Beziehung zu seiner Frau wusste.” (Das Parlament 13/2005) Vielleicht erhöhte es für Schiller sogar den Reiz. Bei den Damen von Wolzogen bestand das wohl überwiegend imaginäre Dreieck aus zwei Damen um einen Mann; hier nun stand eine Frau zwischen zwei Männern. Variatio delectat.
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Donnerstag, 17. Dezember 2009
Das Klatschweib Schiller und die Stars von Weimar
“Der einzige Grund für das Unglück des Menschen ist, dass er nicht still in seinem Zimmer sitzenbleiben kann.” Diesen bekannten, von Pascal kolportierten Ausspruch habe ich schon einmal für selten dämlich erklärt, und ich tue es gern wieder, kann mir auch kaum anderes vorstellen, als daß er von einem ansonsten klugen Menschen wie Pascal im Affekt eines spontan aufwallenden Ärgers geäußert wurde. Wo wäre die Menschheit stehen geblieben, wenn sie es aufgegeben hätte, sich untereinander zu besuchen? Was für fremdenscheue, monadische Inzuchtsiedlungen wären entstanden, welche kulturellen und auch technischen Fortschritte wären unterblieben? Das braucht man doch gar nicht weiter auszuführen. Bewegung, Austausch, Verkehr ist den Menschen notwendig, und entgegen dem Eindruck, den das Goethe-und-Schiller-Denkmal, festgemauert in seiner Weimarer Erde, erweckt, waren auch die Menschen damals viel häufiger unterwegs und wechselten die Orte und Wohnsitze, als man sich das gemeinhin so vorstellt in jener Zeit vor Erfindung von Auto, Flugzeug, Eisenbahn. Hölderlin lief zu Fuß von Schwaben nach Thüringen, von dort in die Schweiz, nach Südfrankreich und über Paris wieder zurück, Herder kam aus Riga und auf dem Umweg über eine ausgedehnte Frankreich- und Belgienreise nach Weimar, Herr von Kalb hatte als Soldat wie Tausende andere Deutsche an den Kolonialkriegen in Nordamerika teilgenommen, Goethe reiste durch ganz Italien, und Schiller schrieb dem Dresdner Freund Körner (dem Vater von Theodor Körner übrigens) am 23. Juli 1787 aus Weimar:
Diese Weimarer Briefe an seinen wirklich vertrauten Freund Körner gehören überhaupt zu den aufschlußreicheren der Zeit, denn in ihnen nennt Schiller was ihm begegnet und widerfährt ziemlich unverblümt beim Namen. “Dieser Tage habe ich in großer adlicher Gesellschaft einen höchst langweilig Spaziergang machen müssen. Das ist ein nothwendiges Übel, in das mich mein Verhältniß mit Charlotten gestürzt hat – und wieviel flache Creaturen kommen einem da vor.” (12.8.87) Viel Klatsch breitet der erhabene Klassiker (der er damals aber natürlich noch nicht ist) in ihnen aus, und er vergißt nie zu erwähnen, was über ihn selbst geredet wird, denn das wurde ihm im kleinen Weimar natürlich umgehend hinterbracht. Umgekehrt ist er sich auch selbst nicht zu schade, rechte Klatschgeschichten über die anderen Weimarer Celebritäten zu verbreiten oder sie zu karikieren.
Wieland: “Sein Äuseres hat mich überrascht. Was er ist hätte ich nicht in diesem Gesichte gesucht – doch gewinnt es sehr durch den Augenblicklichen Ausdruck seiner Seele, wenn er mit Wärme spricht... Sehr gerne hört er sich sprechen, seine Unterhaltung ist weitläufig und manchmal fast biß zur Pedanterei vollständig, wie seine Schriften, sein Vortrag nicht fließend, aber seine Ausdrücke bestimmt. Er sagte übrigens viel alltägliches, hätte mir nicht seine Person, die ich beobachtete, zu thun gegeben, ich hätte oft Langeweile fühlen können.” (24.7.87)
Im gleichen Brief über die 48jährige Herzogin Anna Amalia (ja, genau die, nach der die unter ihrer Regentschaft gegründete Weimarer Bibliothek benannt wurde): “Sie selbst hat mich nicht erobert. Ihre Physiognomie will mir nicht gefallen. Ihr Geist ist äuserst borniert, nichts interessiert sie, als was mit Sinnlichkeit zusammenhängt”.
“Am vorigen Sontag war ich zu Bertuch zu einem sehr weitläuftigen Soupeer geladen, wo ich mich unter einer höchst abgeschmackten Menschenklasse, den Räthen und Räthinnen von Weimar, sehr übel berathen fand. In einer solchen Dürre des Geistes war Bertuch für mich ein wohlthuendes Wesen und das ist viel gesagt... Nächst ihm gefällt mir Bode noch ziemlich, aber ich traue ihm eben so wenig.” (14.9.87)
“Ueber die hiesigen Menschen hat mir Bode manche und drollige Aufschlüsse gegeben. Ich erzählte ihm meine jetzige Lage mit Wieland. Das wäre ganz in der Ordnung sagte er. Klopstok habe ihn nach Wieland einmal gefragt, darauf habe er ihm folgende Antwort gegeben. Er wünsche Wielands wegen, daß er auf eine halbe Stunde Jesus Christus beim jüngsten Gericht seyn dürfe. – Was würde er dann thun,“ fragte Klopstock. – Wieland müsse vor ihm, alle seine Schriften unter dem Arm, erscheinen, um sein Urtheil zu hören. – Sind Sie Herr Wieland aus Weimar, würde er zu ihm sagen – Ja – Nun Herr Wieland, sehen sie, dahin ligt rechts und dorthin links. Gehen Sie nun wohin es ihnen beliebt – wohin es Ihnen beliebt; aber nehmen sie sich nur in Acht. Das sage ich ihnen. Geben Sie wohl acht! – Die Satyre ist sehr fein, wenn man Wieland kennt, sein Lavieren zwischen gut und Übel” (10.9.87).
“Von den hiesigen großen Geistern überhaupt kommen einem immer närrische Dinge zu Ohren. Herder und seine Frau leben in einer egoischen Einsamkeit und bilden zusammen eine Art von heiliger ZweiEinigkeit, von der sie jeden Erdensohn ausschließen. Aber weil beide stolz, beide heftig sind, so stößt diese Gottheit zuweilen unter sich selbst aneinander. Wenn sie also in Unfrieden gerathen sind, so wohnen beide abgesondert in ihren Etagen, und Briefe laufen Treppe auf, Treppe nieder, biß sich endlich die Frau entschließt in eigner Person in ihres Ehgemals Zimmer zu treten, wo sie eine Stelle aus seinen Schriften recitiert, mit den Worten: „Wer das gemacht hat, muß ein Gott seyn, und auf den kann niemand zürnen“ – Dann fällt ihr der besiegte Herder um den Hals und die Fehde hat ein Ende.” (29.8.87)
Als Person aber macht Herder wiederholt einen angenehmen, guten und klugen Eindruck auf ihn, viel positiver als der langweilige und auch noch eitle Wieland. “Herder würde mir von allen der liebste seyn, wenn Herder aus sich heraustreten könnte um der Freund eines Freunds zu seyn. Beim ersten Anblicke und vollends bei einem warmen Gespräch ist es der liebenswürdigste Mensch unter dem Himmel. Dein ganzes Herz will ihm entgegen fliegen aber man sagt dass er es immer wieder zurückzuwerfen weiß.” (14.9.87)
Von Göthe (so schreibt Schiller ihn selbst) kaum etwas, denn der ist gar nicht da, sondern verlustiert sich gerade auf seiner Italienreise im römischen Salon der gefeierten Malerin Angelika Kauffmann, der, laut Herder, “vielleicht kultiviertesten Frau Europas”, und ärgert sich höchstens einmal über die “Literatoren, wie sie hier in Abbétracht herumwandern”. Am schlimmsten war die Konversation mit ihnen, “wenn Dante zur Sprache kam. Ein junger Mann von Stande und Geist und wirklichem Anteil an jenem außerordentlichen Manne nahm meinen Beifall und Billigung nicht zum besten auf, indem er ganz unbewunden versicherte, jeder Ausländer müsse Verzicht tun auf das Verständnis eines so außerordentlichen Geistes, dem ja selbst die Italiener nicht in allem folgen könnten.”
Ach ja, wer würde sie nicht wiedererkennen, unsere stets sympathisch uneitlen italienischen Freunde.
“Vorgestern Abend kam ich hier an. Am nehmlichen Abend sah ich Charlotten. Unser erstes Wiedersehen hatte soviel gepreßtes, betäubendes, daß mirs unmöglich fällt, es euch zu beschreiben. Charlotte ist sich ganz gleich geblieben, biß auf wenige Spuren von Kränklichkeit, die der Paroxysmus der Erwartung und des Wiedersehens für diesen Abend aber verlöschte und die ich erst heute bemerken kann. Sonderbar war es, daß ich mich schon in der ersten Stunde unsers Beisammenseins nicht anders fühlte als hätt ich sie erst gestern verlassen. So einheimisch war mir alles an ihr, so schnell knüpfte sich jeder zerrissene Faden unsers Umgangs wieder an... Charlotte ist eine große sonderbare weibliche Seele, ein wirkliches Studium für mich, die einem größeren Geist als der meinige ist, zu schaffen geben kann. Mit jedem Fortschritt unsers Umgangs entdecke ich neue Erscheinungen in ihr, die mich, wie schöne Parthien in einer weiten Landschaft überraschen, und entzücken... Die Situation des H. v. Kalb am Zweibrückischen Hofe, wo er eine Carriere machen dürfte, wenn der Curfürst v. d. Pfalz sterben sollte, läßt sie vielleicht 10 biß 15 Jahre über ihren Aufenthalt frey gebieten... Hier ist wie es scheint schon ziemlich über mich, und mich und Charlotten gesprochen worden. Wir haben uns vorgesetzt, kein Geheimniß aus unserem Verhältniß zu machen”.Sie ist fast krank vor Erwartung und gelähmt vor Wiedersehensangst, er hat sie damals verlassen, aber schon in der ersten Stunde ihres Beisammenseins fühlt es sich so an, als seien sie nie getrennt gewesen. Sicher, der Bereich des Erotischen kann sehr weitgespannt sein, und Sexualität ist nur eine Möglichkeit unter vielen, um zwischen zwei Menschen Nähe herzustellen. Aber wer nach diesen Äußerungen Schillers immer noch unbedingt meinen will, das von ihm selbst hier explizit so genannte Verhältnis zu Charlotte von Kalb sei nur ein rein platonisches gewesen, der verschließt sich doch sehenden Auges der lectio facilior.
Diese Weimarer Briefe an seinen wirklich vertrauten Freund Körner gehören überhaupt zu den aufschlußreicheren der Zeit, denn in ihnen nennt Schiller was ihm begegnet und widerfährt ziemlich unverblümt beim Namen. “Dieser Tage habe ich in großer adlicher Gesellschaft einen höchst langweilig Spaziergang machen müssen. Das ist ein nothwendiges Übel, in das mich mein Verhältniß mit Charlotten gestürzt hat – und wieviel flache Creaturen kommen einem da vor.” (12.8.87) Viel Klatsch breitet der erhabene Klassiker (der er damals aber natürlich noch nicht ist) in ihnen aus, und er vergißt nie zu erwähnen, was über ihn selbst geredet wird, denn das wurde ihm im kleinen Weimar natürlich umgehend hinterbracht. Umgekehrt ist er sich auch selbst nicht zu schade, rechte Klatschgeschichten über die anderen Weimarer Celebritäten zu verbreiten oder sie zu karikieren.
Wieland: “Sein Äuseres hat mich überrascht. Was er ist hätte ich nicht in diesem Gesichte gesucht – doch gewinnt es sehr durch den Augenblicklichen Ausdruck seiner Seele, wenn er mit Wärme spricht... Sehr gerne hört er sich sprechen, seine Unterhaltung ist weitläufig und manchmal fast biß zur Pedanterei vollständig, wie seine Schriften, sein Vortrag nicht fließend, aber seine Ausdrücke bestimmt. Er sagte übrigens viel alltägliches, hätte mir nicht seine Person, die ich beobachtete, zu thun gegeben, ich hätte oft Langeweile fühlen können.” (24.7.87)
Im gleichen Brief über die 48jährige Herzogin Anna Amalia (ja, genau die, nach der die unter ihrer Regentschaft gegründete Weimarer Bibliothek benannt wurde): “Sie selbst hat mich nicht erobert. Ihre Physiognomie will mir nicht gefallen. Ihr Geist ist äuserst borniert, nichts interessiert sie, als was mit Sinnlichkeit zusammenhängt”.
“Am vorigen Sontag war ich zu Bertuch zu einem sehr weitläuftigen Soupeer geladen, wo ich mich unter einer höchst abgeschmackten Menschenklasse, den Räthen und Räthinnen von Weimar, sehr übel berathen fand. In einer solchen Dürre des Geistes war Bertuch für mich ein wohlthuendes Wesen und das ist viel gesagt... Nächst ihm gefällt mir Bode noch ziemlich, aber ich traue ihm eben so wenig.” (14.9.87)
“Ueber die hiesigen Menschen hat mir Bode manche und drollige Aufschlüsse gegeben. Ich erzählte ihm meine jetzige Lage mit Wieland. Das wäre ganz in der Ordnung sagte er. Klopstok habe ihn nach Wieland einmal gefragt, darauf habe er ihm folgende Antwort gegeben. Er wünsche Wielands wegen, daß er auf eine halbe Stunde Jesus Christus beim jüngsten Gericht seyn dürfe. – Was würde er dann thun,“ fragte Klopstock. – Wieland müsse vor ihm, alle seine Schriften unter dem Arm, erscheinen, um sein Urtheil zu hören. – Sind Sie Herr Wieland aus Weimar, würde er zu ihm sagen – Ja – Nun Herr Wieland, sehen sie, dahin ligt rechts und dorthin links. Gehen Sie nun wohin es ihnen beliebt – wohin es Ihnen beliebt; aber nehmen sie sich nur in Acht. Das sage ich ihnen. Geben Sie wohl acht! – Die Satyre ist sehr fein, wenn man Wieland kennt, sein Lavieren zwischen gut und Übel” (10.9.87).
“Von den hiesigen großen Geistern überhaupt kommen einem immer närrische Dinge zu Ohren. Herder und seine Frau leben in einer egoischen Einsamkeit und bilden zusammen eine Art von heiliger ZweiEinigkeit, von der sie jeden Erdensohn ausschließen. Aber weil beide stolz, beide heftig sind, so stößt diese Gottheit zuweilen unter sich selbst aneinander. Wenn sie also in Unfrieden gerathen sind, so wohnen beide abgesondert in ihren Etagen, und Briefe laufen Treppe auf, Treppe nieder, biß sich endlich die Frau entschließt in eigner Person in ihres Ehgemals Zimmer zu treten, wo sie eine Stelle aus seinen Schriften recitiert, mit den Worten: „Wer das gemacht hat, muß ein Gott seyn, und auf den kann niemand zürnen“ – Dann fällt ihr der besiegte Herder um den Hals und die Fehde hat ein Ende.” (29.8.87)
Als Person aber macht Herder wiederholt einen angenehmen, guten und klugen Eindruck auf ihn, viel positiver als der langweilige und auch noch eitle Wieland. “Herder würde mir von allen der liebste seyn, wenn Herder aus sich heraustreten könnte um der Freund eines Freunds zu seyn. Beim ersten Anblicke und vollends bei einem warmen Gespräch ist es der liebenswürdigste Mensch unter dem Himmel. Dein ganzes Herz will ihm entgegen fliegen aber man sagt dass er es immer wieder zurückzuwerfen weiß.” (14.9.87)
Von Göthe (so schreibt Schiller ihn selbst) kaum etwas, denn der ist gar nicht da, sondern verlustiert sich gerade auf seiner Italienreise im römischen Salon der gefeierten Malerin Angelika Kauffmann, der, laut Herder, “vielleicht kultiviertesten Frau Europas”, und ärgert sich höchstens einmal über die “Literatoren, wie sie hier in Abbétracht herumwandern”. Am schlimmsten war die Konversation mit ihnen, “wenn Dante zur Sprache kam. Ein junger Mann von Stande und Geist und wirklichem Anteil an jenem außerordentlichen Manne nahm meinen Beifall und Billigung nicht zum besten auf, indem er ganz unbewunden versicherte, jeder Ausländer müsse Verzicht tun auf das Verständnis eines so außerordentlichen Geistes, dem ja selbst die Italiener nicht in allem folgen könnten.”
Ach ja, wer würde sie nicht wiedererkennen, unsere stets sympathisch uneitlen italienischen Freunde.
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Freitag, 11. Dezember 2009
Aus 2 mach 3, mach 4... Zahlen- und andere Spiele
“Aber das Herz nimmt keine Rücksicht auf unsere äußere Lage und Schillers Gemüt war besonders so sehr für die Liebe geschaffen, dass es ihm Bedürfnis war, an jedem Ort, wo er länger verweilte, einen Gegenstand seiner Neigung zu suchen. Er hatte sich in Mannheim schon längst an den wackeren Buchhändler Schwan eng angeschlossen, und pflegte wohl aus den Schauspielen die eben fertig gewordenen Szenen ihm vorzulesen, mit besonderem Nachdruck, wenn seine Tochter zugegen war. Margaretha Schwan wird als ein sehr schönes Mädchen geschildert, mit großen, ausdrucksvollen Augen, von sehr lebhaftem Geist und ausgezeichneter Bildung, mehr zur Welt, Literatur und Kunst, als zur stillen Häuslichkeit hingezogen. In dem gastfreien, von Literaturfreunden viel besuchten Haus ihres Vaters hatte sie die Kunst gelernt, ihre Vorzüge geltend zu machen. Sie war damals neunzehn Jahr alt, und besorgte das Hauswesen, da ihre Mutter kurz vorher gestorben war. Durch jene literarischen Unterhaltungen, bei denen aber der Vater immer zugegen war, oder auf Lustpartien in die Umgegend, lernten sich die jungen Leute näher kennen. Als nun Schillers Phantasie für Lotte von Wolzogen allmählich verschwunden war, da trat, aber erst im Herbst 1784 und dem folgenden Winter, die interessante „Schwanin“ seinem Herzen nahe und immer näher.” (Karl Hoffmeister: Schillers Leben, 1846)Die in einem Brief an Henriette von Wolzogen beiläufig erwähnte “Schwanin” bedeutete Schiller zeitweilig also doch mehr als nur eine “vortrefliche Person” für ein paar “angenehme Stunden”. Doch ebenso rasch wie er für sie entflammte, erlosch sein Interesse auch wieder, nachdem er im Frühling 1785 nach Leipzig übergesiedelt war. Brieflich hielt er von dort aus zwar noch bei ihrem Vater um die Hand der jungen Frau an, aber der Buchhändler schrieb betrübt an den Rand: “Laura in Schillers Resignation ist niemand anders als meine älteste Tochter. Ich gab derselben diesen Brief zu lesen und sagte Schillern er möchte sich gerade an meine Tochter wenden. Warum aus der Sache nichts geworden, ist mir ein Räthsel geblieben. Glücklich wäre Schiller mit meiner Tochter nicht gewesen.”
Das Rätsel läßt sich wohl leicht aufklären: Der aufgehende Stern am Dichterhimmel hatte mittlerweile anderweitige Ambitionen und Optionen. Denn eine andere machte ihm inzwischen Avancen, und zwar eine Dame von Stand und keine Buchhändlerstochter, zudem eine Dame, der man nachsagte, über bedeutenden Reichtum zu verfügen.
Anfang Juni 1784 hatte Schiller Henriette von Wolzogen von einer neuen Bekanntschaft Mitteilung gemacht: “Vor einem Monat waren Hr. und Fr. v. Kalb hier, und machten mir in ihrer Gesellschaft einige sehr angenehme Tage. Die Frau besonders zeigt sehr viel Geist, und gehört nicht zu den gewönlichen FrauenzimmerSeelen. Sie ließen mich wenig von ihrer Seite... Jezt sind sie weiter nach Landau – haben aber versprochen, öftere Besuche hier abzulegen.” Und das taten sie denn bald auch. Zumindest Frau von Kalb. Da es angeblich nicht gern gesehen war, wenn Offiziersfrauen in der Garnison ihrer Männer wohnten, nahm Frau von Kalb noch 1784 Wohnung in Mannheim, das lag ja nur etwa 50 Kilometer oder sechs Stunden mit der Postkutsche von Landau, der Garnison ihres Mannes, entfernt, aber nur wenige Hundert Meter von Schillers Unterkunft. Sie war erst ein Jahr verheiratet und ging mit Hölderlins späterem Schüler Fritz schwanger, war aber mit ihrem Mann alles andere als glücklich. Ebenso wie Henriette von Wolzogen war Charlotte von Kalb eine geborene Marschalk von Ostheim, ihr Stammgut Waltershausen lag nur 25 Kilometer südlich von Bauerbach, die beiden Cousinen waren befreundet, und so hatte Charlotte von Kalb sicher schon vorher von Schiller gehört. Nachdem ihr Bruder Friedrich als letzter männlicher Erbe des Waltershausener Familienzweigs 1782 bei einem Duell an der Göttinger Universität ums Leben gekommen war, hatte sie ein Jahr später “den Bruder ihres Schwagers, Heinrich von Kalb, ohne Wunsch und Neigung auf Betreiben anderer geheiratet, und nun schwanden ihr die Tage ohne Einsicht noch Absicht hin“, wie es Fritz Jonas, Herausgeber von Schillers Briefen, mitfühlend formulierte. Während ihr Mann am liebsten in Kameradenkreisen pokulierte, hielt ihr Schiller am Kindbett Händchen. Daß das selbst dem groben Klotz von Kalb zu denken gab, mag aus einem recht eigentümlichen Zusatz in seiner Geburtsanzeige an den eigenen Vater hervorgehen: “heut Nachmittag halb 3 Uhr wurde meine Frau von einem sehr großen, muntern, hübschen und der Familie ähnlich sehenden Buben glücklich entbunden.” -
“Daß das Verhältnis [zwischen Schiller und Ch. von Kalb] schon im Herbst 1784 erotisch gefärbt ist, läßt sich im Hinblick auf Charlottes unglückliche Ehe zumindest vermuten”, vermutet auch Peter-André Alt in seiner Schillerbiographie. Jedenfalls ließ sie seinetwegen ihre Beziehungen spielen und verschaffte ihm Zutritt zu hochadligen Gesellschaften, auf denen er aus seinen Manuskripten vorlesen durfte. Nach einer solchen Lesung in der landgräflich-hessischen Darmstädter Residenz ernannte der anwesende Herzog Carl August von Sachsen-Weimar Schiller auf seine “leise Bitte” hin zum “Weimarischen Rat”, was immerhin eine öffentliche Anerkennung bedeutete.
Seine finanziellen Probleme löste es in keiner Weise, und als seine sich häufenden Schulden Schiller an den Rand des Schuldturms brachten, erinnerte er sich einiger junger Leute, die ihm einmal ein Paket mit kleinen Zeichen ihrer Verehrung geschickt hatten. Im Februar 1785 ging der Theaterdichter in glühenden Worten auf eine von ihnen zuvor ausgesprochene Einladung ein.
“Unterdessen... fliege ich zu Ihnen, meine Theuersten, und weiß, daß ich in diesem Augenblik der Glüklichere bin. Jezt erst fange ich an, meine Phantasie, die unruhige Vagabundin, wieder lieb zu gewinnen, die mich aus dem traurigen Einerlei meines hiesigen Auffenthalts so freundschaftlich weg, und zu Ihnen führt... O meine Besten, Ihre freiwillig mir entgegenkommende Liebe hat einen merkwürdigen Einfluß auf die wirkliche Lage meines Herzens gehabt... und diese 12 Tage ist eine Revolution mit mir und in mir vorgegangen, die dem gegenwärtigen Briefe mehr Wichtigkeit gibt, als ich mir habe träumen lassen – die Epoche in meinem Leben macht. Ich kann nicht mehr in Mannheim bleiben. In einer unnennbaren Bedrängniß meines Herzens schreibe ich Ihnen, meine Besten. Ich kann nicht mehr hier bleiben... Mit dem Theater hab ich meinen Contract aufgehoben; also die oekonomische Rüksicht meines hiesigen Aufenthalts bindet mich nicht mehr. Außerdem verlangt es meine gegenwärtige Connexion mit dem guten Herzog von Weimar, daß ich selbst dahin gehe und persönlich für mich negotiire, so armselig ich mich auch sonst bei solcherlei Geschäften benehme. Aber vor allem anderen lassen Sie michs frei heraussagen, meine Theuersten, und lächeln Sie auch meinetwegen über meine Schwächen – ich muß Leipzig und Sie besuchen. O meine Seele dürstet nach neuer Nahrung – nach besseren Menschen... Meine poetische Ader stokt, wie mein Herz für meine bisherigen Zirkel vertroknete. Sie müssen sie wieder erwärmen. Bei Ihnen will ich, werde ich alles doppelt, dreifach wieder seyn, was ich ehemals gewesen bin, und mehr als das alles, o meine Besten, ich werde glüklich seyn. Ich wars noch nie. Weinen Sie um mich, daß ich ein solches Geständniß thun muß... Werden Sie mich wohl aufnehmen?... Ich bin fest entschlossen, wenn die Umstände mich nur entfernt begünstigen, Leipzig zum Ziel meiner Existenz, zum beständigen Ort meines Auffenthalts zu machen.”Zwei Wochen später schiebt er noch eine unbedeutende Mitteilung aus den häßlichen Niederungen der materiellen Existenz nach:
“Ob ich gegen Sie offen seyn darf, wird vermuthlich keine Frage mehr seyn. Ich bin es, und das ist vielleicht das erste und entschiedendste Unterpfand meiner ausgezeichneten Freundschaft”, schreibt er am 28.2.85 nach Leipzig. “Wenn ich neben der leidenschaftlichen Begierde Sie und Ihre Lieben von Angesicht zu Angesicht zu sehen, und in Ihrem Zirkel zu existieren, noch eine Ursache meiner Leipziger Reise in Anschlag bringen darf, so ist es diese, theils mich mit dem Herzog v. Weimar auf einen gewissen Fuß zu arrangieren, theils durch das bestmöglichste Employ meiner Arbeiten meine Umstände in Ordnung zu bringen... Sehen Sie bester Freund welche wichtige Veranlassung mein Finanzsystem hergibt daß ich nach Leipzig reise – die Wünsche meines Herzens, welche früher entschieden als jene alle, nicht mitgerechnet. Aber ich kann Mannheim nicht verlassen, ohne wenigstens 100 Dukaten verschleudern zu müssen... Ich glaube mein theurer, ich habe Sie jezt mit meiner ganzen Situation bekannt genug gemacht. Jezt meine Bitte. Ist es nicht möglich daß Sie mir (auf Ihren oder meinen Nahmen – von Buchhändlern oder von andern Juden) ohngefehr 300 Thaler Vorschuß verschaffen können?”Ist der Kerl nicht unglaublich? So viel Chuzpe muß man erst einmal aufbringen. Aber Frechheit siegt bekanntlich, und Schiller bekam das Geld tatsächlich und zog - die zärtlichen Empfindsamkeiten der Freifrau von Kalb auf einmal hintanstellend - im April 1785 nach Leipzig um, dem “Ziel seiner Existenz” und “beständigen Ort seines Auffenthalts”. Dann weiter nach Dresden.
Wo es ihm zunächst so gut ging, daß es die berühmte Hymne An die Freude aus ihm hervorschleuderte, wo er im Kreis der beiden jungen Brautpaare, die ihn bei sich wohnen ließen und auch sonst aushielten, aber auch bald gewisse emotionale Defizite verspürte, bis er im Karneval einen Maskenball besuchte, der ihn anschließend zu sehr viel schlechteren Reimen hinriß:
Mein erster Anblick war – Betrug.Als Henriette von Arnim, die schwarzäugige Zigeunerin vom Maskenball, die im wirklichen Leben als Kammerzofe am Dresdner Hof diente, ihm dann tatsächlich bald ein paar Wahrheiten offenbarte, konnte Schiller damit ausgesprochen schlecht umgehen. In dem ersten von ihr erhaltenen Brief gestand sie, daß es vor (oder außer) ihm schon einen anderen Mann bei ihr gegeben habe, und im zweiten und letzten wirft sie ihm seine mit zweierlei Maß rechnende Reaktion aus gekränkter Eitelkeit vor:
Doch unsern Bund, geschlossen unter Scherzen
Bestätigte die Sympathie der Herzen
Ein Blick war uns genug;
Und durch die Larve, die ich trug,
Las dieser Blick in meinem Herzen
Das warm in meinem Busen schlug!
Der Anfang unsrer Freundschaft war nur – Schein!
Die Fortsetzung soll Wahrheit sein.
“Sie rechnen mir das, zum Verbrechen an, was Sie sich doch auch schon vorzuwerfen hätten. Freilich sich selbst rechnen Sie nichts zum Vorwurf, was aber bei mir Staats Verbrechen heißt [...] jede Stelle Ihres Briefes beweist mir daß bei Ihnen der Stolz noch sehr über die Liebe herrscht; denn [...] das wissen Sie nur zu gut, daß Sie bei mir zuerst Liebe erweckt haben, und aus Gefälligkeit taten Sie vielleicht als wenn Sie auch etwas empfänden, nun aber sind Sie es überdrüssig, Ihre Zeit an so ein armseliges Geschöpf (wie ich in Ihren Augen sein mag) zu verschwenden, und wollen nun nach und nach an den Rückzug denken.”
Der wurde ihm jedenfalls von den Freunden, besonders von Minna Körner immer wieder dringend nahegelegt. “Von jetzt an fehlte Schiller jeden Abend an unserem Teetische; ich dachte es mir gleich, wo er seine Abende zubringe und sagte es ihm auf den Kopf zu. Er machte kein Geheimnis daraus, gestand mir sogar zu, dass er sich in allem Ernste um [ihre] Hand ... bewerbe”, schrieb Minna Jahre später Schillers Schwägerin und erster Biographin, Karoline von Wolzogen. “Da mir die Leichtfertigkeit der Mutter und ihrer Tochter nicht unbekannt war, ließ ich es an Warnungen nicht fehlen; es war vergeblich. Unser Freund war ganz toll und blind verliebt, und selbst nachdem ich ihm die Überzeugung verschafft hatte, dass er nicht der Alleinbegünstigte in jener Familie sei, ließ er sich nicht abwendig machen.”
In den Augen der guten Dresdener Gesellschaft war Henriette von Arnim also eine Leichtfertige oder Kokotte. Auch suggerierte Minna Körner Schiller, vor allem Henriettes Mutter würde ihn nur benutzen, um wohlsituiertere Heiratskandidaten für die Tochter endlich aus der Reserve zu locken. Um ihn ein wenig abzukühlen, besorgte sie Schiller ein anderes Quartier außerhalb der Stadt. Das ganze Frühjahr über seufzte er über die seiner Kreativität feindliche Einsamkeit in dem von dichten Wäldern umstandenen Kaff Tharandt, bis ihm der Geduldsfaden riß. Er wollte raus aus dieser Wäldereinsamkeit, am besten dorthin, wo der Bär steppte oder der Papst boxte, und wo konnte das anders sein als in - Berlin? New York, Rio, Tokyo? Quatsch, Weimar.
Von dort lag ihm neuerdings auch eine Einladung vor, von einer gewissen Freifrau von Kalb.
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Mittwoch, 9. Dezember 2009
Trigonometria: sive de solutione triangulorum
Daß unsere verehrten Herrn Klassiker keineswegs ein so gipsernes Leben führten, wie es ihre Abgußsammlungen antiker Statuen vermuten lassen, ist ja längst kein Geheimnis mehr, und Göthes abwechslungsreiches Liebesleben zum Beispiel hinlänglich bekannt. Schiller gilt gemeinhin als asketischer, aber wenn man nur ein wenig in den Briefen aus der Zeit liest, fragt man sich schon, wie seine späteren Biographen dieses Bild überhaupt aufbauen konnten.
Kaum hatte nämlich der frisch gebackene Regimentsarzt Friedrich Schiller Ende 1780 die Militärakademie auf der Solitude verlassen, sprach sich in Stuttgart schon herum, daß der 22jährige ein stürmisches Verhältnis mit seiner Vermieterin, der 30jährigen Witwe Luise Vischer, unterhielt, ein "verwahrlostes Weib, eine wahre Mumie", erregte sich sein Freund Johann Wilhelm Petersen (der, überhaupt tugendhaft, 1782 anonym eine Geschichte der deutschen National-Neigung zum Trunke verfaßte). Schiller hat die Vischerin bekanntlich in seinen ekstatisch-schwülstigen Gedichten an Laura besungen:
Ich will hier ja keine Chronique scandaleuse führen, aber man könnte fast den Eindruck bekommen, als hätten gerade solche “Gemeinschaftserlebnisse” Schillers Phantasie nachhaltig geprägt.
Als er sich nach seiner Flucht aus Württemberg vor den Häschern seines Landesherrn verstecken mußte, bot ihm die verwitwete Mutter seines Akademiekameraden Wilhelm von Wolzogen ein heimliches Asyl auf ihrem Gut Bauerbach am Osthang der Rhön (10 km vom thüringischen Meiningen), und nicht nur das, Henriette von Wolzogen steckte dem ewig Klammen auch fortgesetzt Geld zu, insgesamt nicht weniger als 540 Gulden, die sie sich, gegen veritable Zinsen versteht sich, teilweise selbst bei Geldverleihern borgen mußte und die Schiller nie zurückzahlte. Ob sie das alles nur aus “mütterlicher Fürsorge” tat, darf wohl bezweifelt werden.
Anfang Januar 1783 traf Henriette von Wolzogen in Begleitung ihrer erst 16jährigen Tochter Charlotte in Thüringen ein. Schiller begleitete Mutter und Tochter ins nahe gelegene Walldorf, wo Henriettes Bruder, der Oberforstmeister Dietrich Marschalk von Ostheim, lebte. Zurück in Bauerbach, schrieb Schiller Henriette von Bauerbach noch in der Nacht des 4. Januar 1783 einen Brief: “Ich kam ganz wohlbehalten von Masfeld hier an. Aber meine Prophezeihung wurde wahr. Seit Ihrer Abwesenheit bin ich mir selbst gestolen. Es geht uns mit grosen lebhaften Entzükkungen, wie demjenigen der lange in die Sonne gesehen. Sie steht noch vor ihm, wenn er das Auge längst davon weggewandt. Es ist für jede geringere Stralen verblindet.”
Bis zu Frau von Wolzogens Abreise am 24. Januar wohnte Schiller mehr oder weniger beständig mit in Walldorf. “So kann ich also doch mit dem Schiksal zufrieden seyn, weil ich Sie die kurze Zeit Ihres Hierseyns doch recht genießen kann”, schrieb er ihr am 10. Januar beim Wäschewechseln aus Bauerbach. Sieht so aus, als habe sich der feurige junge Dichter einmal mehr als Witwentröster betätigt.
Das aber hinderte ihn keineswegs, sich gleichzeitig in das reizende Fräulein Tochter zu verlieben, und zwar so heftig, daß er die Frau Mutter im gleichen Brief praktisch schon verabschiedete: “Aber die Zeit eilt so schnell meine Beste, und das Nächstmal dass ich Sie sehe kommt schon der Abschied wieder. Zwar kein Abschied auf Lange, doch ein Abschied und welche Empfindungen man dabei zu erwarten hat, weis ich aus der Erfahrung. Es ist schröklich ohne Menschen ohne ein mitfühlende Seele zu leben, aber es ist auch eben so schröklich sich an irgend ein Herz zu hängen, wo man, weil doch auf der Welt nichts Bestand hat, nothwendig einmal sich losreissen, und verbluten mus.”
Beim nächsten Besuch von Mutter und Tochter im Mai hängt sein Herz nicht an niemandem, sondern an beiden: “Da siz ich, reibe mir die Augen, will zu Ihnen, und besinne mich, daß ich den Kaffé allein trinken mus – aber mein Herz ist zwischen Ihnen und unsrer Lotte”. Am Tag zuvor hat er Lottes Bruder Wilhelm geschrieben: “Sie haben mir Ihre Lotte anvertraut, die ich ganz kenne. Ich danke Ihnen für diese grose Probe Ihrer Liebe zu mir [...] Glauben Sie meiner Versicherung, Bester Freund, ich beneide Sie um diese liebenswürdige Schwester. Noch ganz wie aus den Händen des Schöpfers, unschuldig, die schönste weichste empfindsamste Seele, und noch kein Hauch des allgemeinen Verderbnißes am lautern Spiegel ihres Gemüts – so kenn ich Ihre Lotte, und wehe demjenigen, der eine Wolke über diese unschuldige Seele zieht!” (27.5.1783)
Drei Tage später ist wieder die Mutter an der Reihe: “Dass ich bei Ihnen bleibe und wo möglich begraben werde, versteht sich. Ich werde es auch wol bleiben laßen, mich von Ihnen zu trennen, da mir drei Tage schon unerträglich sind. Nur das ist die frage wie ich bei Ihnen auf die Dauer meine Glükseligkeit gründen kann. Aber gründen will ich sie, oder nicht leben”.
Schiller hat die Ärmste in der Folgezeit wirklich einem üblen Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Auf solche Treueschwüre folgen Versicherungen, er könne sich keine bessere (insgeheim wohl: Schwieger-)mutter (!) wünschen als sie; Schiller bastelt sich also zumindest in seiner Phantasie ein hübsches Dreiecksverhältnis, in dem er sein Begehren abwechselnd auf die Tochter und auf die Mutter richtet. Aus Mannheim, wohin er ans Theater zurückgekehrt ist, schürt er wiederum ihre Eifersucht: “mit den Schauspielern lebe ich höflich und aufgemuntert, sonst äuserst zurükgezogen”; ansonsten mache er sich rar, “ich attaschiere mich sehr delikat. Von Frauenzimmern kann ich das nemliche Sagen – sie bedeuten hier sehr wenig, und die Schwanin ist beinahe die einzige, eine Schauspielerin ausgenommen, die eine vortrefliche Person ist. Diese und einige andre machen mir zuweilen eine angenehme Stunde, denn ich bekenne gern, dass mir das schöne Geschlecht von Seiten des Umgangs gar nicht zuwider ist.” (13.11.1783)
Der zunächst ach so Dankbare, der sich anscheinend der Zuneigung seiner Gönnerin recht sicher ist, wandelt sich unterdessen vom Bittsteller zum herablassenden Schnösel, der ihr wie mit größter Selbstverständlichkeit Bestellungen schickt, die sie, natürlich auf ihre Kosten, für ihn besorgen soll: “Haben Sie die Güte und Befördern den Einschluß durch einen Expressen nach der Solitude... Außerdem bitte ich Sie, einstweilen die Auslage für mich zu machen, und, nebst etlichen Buch Briefpostpapier, welches ich hier zu Land nicht zu bekommen weis, 2 oder 4 Pfund Maroccoschnupftobak der mir schon 6 Monate nicht zu Nase gekommen, vom Kaufmann Merklin oder Bailing ausnehmen zu lassen.” (8.5.1783)
Im Juni des nächsten Jahres erfolgt der entscheidende Versuch und Vorstoß:
Eine Antwort blieb allerdings aus, und das war natürlich auch eine Antwort. Zum Herbst scheint Frau von Wolzogen ihm dann die Rechnung (seiner aufgelaufenen) Schulden präsentiert zu haben, denn er schrieb am 8. Oktober einigermaßen entsetzt: “Ihr Brief, meine Theuerste, und die Situation, in welcher ich mich mit Ihnen befinden muß, hat eine schrekliche Wirkung auf mich gemacht. Unglükliches Schiksal, das unsre Freundschaft so stören mußte, das mich zwingen mußte, in Ihren Augen etwas zu scheinen, was ich niemals gewesen bin, und niemals werden kann, niederträchtig und undankbar. Urtheilen Sie selbst, meine beste, wie weh es mir thun muß, auch nur einen Augenblik in der Liste derjenigen zu stehen, die an Ihnen zu Betrügern geworden sind... Wie oft und gern wäre ich in den Bedrängnissen meines Herzens, in der Bedürfniß nach Freundschaft zu Ihnen meine Theuerste geflogen, wenn nicht eben die schrekliche Empfindung meiner Ohnmacht Ihren Wunsch zu erfüllen, und meine Schulden zu entrichten, mich wieder zurükgeworfen hätten. Der Gedanke an Sie, der mir jederzeit soviel Freude machte, wurde mir durch die Erinnerung an mein Unvermögen, eine Quelle von Marter...” blah, blah, blah...
Der Rest sind noch drei, vier unverbindliche Briefe von seiner Seite, in denen er ihr Luftschlösser über die Rückzahlung seiner Schulden vorgaukelte, sowie “der lieben Lotte wünsch ich Glück”. Sie hat es wohl kaum gefunden. Am 5. August 1788 starb Henriette von Wolzogen mit nur 42 Jahren an den Folgen einer Brustkrebsoperation. Im Dezember des gleichen Jahres willigte Charlotte in eine Versorgungsehe mit dem Regierungsrat August Franz Friedrich Rühle von Lilienstern auf Schloß Bedheim bei Hildburghausen. 1794 starb auch sie, an der Geburt ihres zweiten Kindes, erst 28 Jahre alt.
Kaum hatte nämlich der frisch gebackene Regimentsarzt Friedrich Schiller Ende 1780 die Militärakademie auf der Solitude verlassen, sprach sich in Stuttgart schon herum, daß der 22jährige ein stürmisches Verhältnis mit seiner Vermieterin, der 30jährigen Witwe Luise Vischer, unterhielt, ein "verwahrlostes Weib, eine wahre Mumie", erregte sich sein Freund Johann Wilhelm Petersen (der, überhaupt tugendhaft, 1782 anonym eine Geschichte der deutschen National-Neigung zum Trunke verfaßte). Schiller hat die Vischerin bekanntlich in seinen ekstatisch-schwülstigen Gedichten an Laura besungen:
Meine Laura! nenne mir den Wirbel,Wohl eher eine rhetorische Frage, denn Schiller galt damals als rüder Draufgänger, der - enthüllte Spiegel Online letztens mit einem Auszug aus Volker Hages Buch Vom Feuerkopf zum Klassiker - dem "thierischen Genuss" nicht abgeneigt war; von "Sprüngen mit Soldatenweibern, auch en compagnie" war sogar die Rede (und es hört sich doch auf Französisch noch etwas feiner an als im heute gebrauchten englischen Ausdruck. Der Idiot in Lars von Triers Idioterne nennt es auf Dänisch begeistert gruppeknall).
Der an Körper Körper mächtig reißt!...
Aus den Schranken schwellen alle Sehnen,
Seine Ufer überwallt das Blut,
Körper will in Körper über stürzen,
Lodern Seelen in vereinter Gluth...
Meine Muse fühlt die Schäferstunde,
Wenn von deinem wollustheißen Munde
Silbertöne ungern fliehn...
Waren, Laura, diese Lustsekunden
Nicht ein Diebstahl jener Götterstunden?
Ich will hier ja keine Chronique scandaleuse führen, aber man könnte fast den Eindruck bekommen, als hätten gerade solche “Gemeinschaftserlebnisse” Schillers Phantasie nachhaltig geprägt.
Als er sich nach seiner Flucht aus Württemberg vor den Häschern seines Landesherrn verstecken mußte, bot ihm die verwitwete Mutter seines Akademiekameraden Wilhelm von Wolzogen ein heimliches Asyl auf ihrem Gut Bauerbach am Osthang der Rhön (10 km vom thüringischen Meiningen), und nicht nur das, Henriette von Wolzogen steckte dem ewig Klammen auch fortgesetzt Geld zu, insgesamt nicht weniger als 540 Gulden, die sie sich, gegen veritable Zinsen versteht sich, teilweise selbst bei Geldverleihern borgen mußte und die Schiller nie zurückzahlte. Ob sie das alles nur aus “mütterlicher Fürsorge” tat, darf wohl bezweifelt werden.
Anfang Januar 1783 traf Henriette von Wolzogen in Begleitung ihrer erst 16jährigen Tochter Charlotte in Thüringen ein. Schiller begleitete Mutter und Tochter ins nahe gelegene Walldorf, wo Henriettes Bruder, der Oberforstmeister Dietrich Marschalk von Ostheim, lebte. Zurück in Bauerbach, schrieb Schiller Henriette von Bauerbach noch in der Nacht des 4. Januar 1783 einen Brief: “Ich kam ganz wohlbehalten von Masfeld hier an. Aber meine Prophezeihung wurde wahr. Seit Ihrer Abwesenheit bin ich mir selbst gestolen. Es geht uns mit grosen lebhaften Entzükkungen, wie demjenigen der lange in die Sonne gesehen. Sie steht noch vor ihm, wenn er das Auge längst davon weggewandt. Es ist für jede geringere Stralen verblindet.”
Bis zu Frau von Wolzogens Abreise am 24. Januar wohnte Schiller mehr oder weniger beständig mit in Walldorf. “So kann ich also doch mit dem Schiksal zufrieden seyn, weil ich Sie die kurze Zeit Ihres Hierseyns doch recht genießen kann”, schrieb er ihr am 10. Januar beim Wäschewechseln aus Bauerbach. Sieht so aus, als habe sich der feurige junge Dichter einmal mehr als Witwentröster betätigt.
Das aber hinderte ihn keineswegs, sich gleichzeitig in das reizende Fräulein Tochter zu verlieben, und zwar so heftig, daß er die Frau Mutter im gleichen Brief praktisch schon verabschiedete: “Aber die Zeit eilt so schnell meine Beste, und das Nächstmal dass ich Sie sehe kommt schon der Abschied wieder. Zwar kein Abschied auf Lange, doch ein Abschied und welche Empfindungen man dabei zu erwarten hat, weis ich aus der Erfahrung. Es ist schröklich ohne Menschen ohne ein mitfühlende Seele zu leben, aber es ist auch eben so schröklich sich an irgend ein Herz zu hängen, wo man, weil doch auf der Welt nichts Bestand hat, nothwendig einmal sich losreissen, und verbluten mus.”
Beim nächsten Besuch von Mutter und Tochter im Mai hängt sein Herz nicht an niemandem, sondern an beiden: “Da siz ich, reibe mir die Augen, will zu Ihnen, und besinne mich, daß ich den Kaffé allein trinken mus – aber mein Herz ist zwischen Ihnen und unsrer Lotte”. Am Tag zuvor hat er Lottes Bruder Wilhelm geschrieben: “Sie haben mir Ihre Lotte anvertraut, die ich ganz kenne. Ich danke Ihnen für diese grose Probe Ihrer Liebe zu mir [...] Glauben Sie meiner Versicherung, Bester Freund, ich beneide Sie um diese liebenswürdige Schwester. Noch ganz wie aus den Händen des Schöpfers, unschuldig, die schönste weichste empfindsamste Seele, und noch kein Hauch des allgemeinen Verderbnißes am lautern Spiegel ihres Gemüts – so kenn ich Ihre Lotte, und wehe demjenigen, der eine Wolke über diese unschuldige Seele zieht!” (27.5.1783)
Drei Tage später ist wieder die Mutter an der Reihe: “Dass ich bei Ihnen bleibe und wo möglich begraben werde, versteht sich. Ich werde es auch wol bleiben laßen, mich von Ihnen zu trennen, da mir drei Tage schon unerträglich sind. Nur das ist die frage wie ich bei Ihnen auf die Dauer meine Glükseligkeit gründen kann. Aber gründen will ich sie, oder nicht leben”.
Schiller hat die Ärmste in der Folgezeit wirklich einem üblen Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Auf solche Treueschwüre folgen Versicherungen, er könne sich keine bessere (insgeheim wohl: Schwieger-)mutter (!) wünschen als sie; Schiller bastelt sich also zumindest in seiner Phantasie ein hübsches Dreiecksverhältnis, in dem er sein Begehren abwechselnd auf die Tochter und auf die Mutter richtet. Aus Mannheim, wohin er ans Theater zurückgekehrt ist, schürt er wiederum ihre Eifersucht: “mit den Schauspielern lebe ich höflich und aufgemuntert, sonst äuserst zurükgezogen”; ansonsten mache er sich rar, “ich attaschiere mich sehr delikat. Von Frauenzimmern kann ich das nemliche Sagen – sie bedeuten hier sehr wenig, und die Schwanin ist beinahe die einzige, eine Schauspielerin ausgenommen, die eine vortrefliche Person ist. Diese und einige andre machen mir zuweilen eine angenehme Stunde, denn ich bekenne gern, dass mir das schöne Geschlecht von Seiten des Umgangs gar nicht zuwider ist.” (13.11.1783)
Der zunächst ach so Dankbare, der sich anscheinend der Zuneigung seiner Gönnerin recht sicher ist, wandelt sich unterdessen vom Bittsteller zum herablassenden Schnösel, der ihr wie mit größter Selbstverständlichkeit Bestellungen schickt, die sie, natürlich auf ihre Kosten, für ihn besorgen soll: “Haben Sie die Güte und Befördern den Einschluß durch einen Expressen nach der Solitude... Außerdem bitte ich Sie, einstweilen die Auslage für mich zu machen, und, nebst etlichen Buch Briefpostpapier, welches ich hier zu Land nicht zu bekommen weis, 2 oder 4 Pfund Maroccoschnupftobak der mir schon 6 Monate nicht zu Nase gekommen, vom Kaufmann Merklin oder Bailing ausnehmen zu lassen.” (8.5.1783)
Im Juni des nächsten Jahres erfolgt der entscheidende Versuch und Vorstoß:
“Nunmehr, meine Beste, kann ich Ihnen mit freiem unbefangenem Herzen wieder schreiben, da Sie mich aufs neu Ihrer Freundschaft versichern, und die meinige nicht zurükstoßen [...] Ich kann nicht läugnen, dass mir die Zeit meines Hierseyns schon manches Angenehme und Schmeichelhafte widerfahren ist, aber es gieng doch nie biß auf den Grund meines Herzens, und dieses blieb noch immer kalt, und leer. Krankheit und Überhäufung von Geschäften goßen zuviel Bitteres in mein bisheriges Leben, und nie nie werde ich jene frohen heitern Augenblike zurükrufen können, die ich die Zeit meines Aufenthalts in Bauerbach so reichlich genoß. Wenn ich jezt ernsthaft über meine Schiksale nachdenke, so finde ich mich seltsam und sonderbar geführt. Nie kann ich ohne Bewegung der Seele an den Spaziergang in Ihrem Wald zurükdenken, wo es beschlossen wurde, dass ich eine Zeitlang verreißen sollte. Wer hätte damals gedacht, dass ein ohngefehrer Gedanke soviel, soviel in meinem Schiksal verändern würde? – und doch hat dieser Gedanke vielleicht für mein ganzes Leben entschieden [...] Sie werden lachen, liebste Freundin, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich mich schon eine Zeitlang mit dem Gedanken trage, zu heuraten. Nicht als wenn ich hier schon gewählt hätte, im geringsten nicht, ich bin in diesem Punkt noch so frei, wie vorhin – aber eine öftere Überlegung, dass nichts in der Welt meinem Herzen die glükliche Ruhe, und meinem Geist die zu Kopfarbeiten so nötige Freiheit, und stille leidenschaftslose Muße verschaffen könne, hat diesen Gedanken in mir hervorgebracht. Mein Herz sehnt sich nach Mittheilung, und inniger Theilnahme. Die stillen Freuden des häußlichen Lebens würden, müßten mir Heiterkeit in meinen Geschäften geben, und meine Seele von tausend wilden Affekten reinigen, die mich ewig herumzerren. Auch mein überzeugendes Bewußtseyn, dass ich gewiß eine Frau glüklich machen würde, wenn anders innige Liebe und Antheil glüklich machen kann, dieses Bewußtseyn hat mich schon oft zu dem Entschlusse hingerissen. Fände ich ein Mädchen, das meinem Herzen theuer genug wäre! oder könnte ich Sie beim Wort nehmen, und Ihr Sohn werden. Reich würde freilich Ihre Lotte nie – aber gewiß glüklich.”Damit ist es heraus, aus sicherer Entfernung oder genügender innerer Distanz wirft Schiller das Steuer herum und wirbt bei der reiferen Frau, der er monatelang die Cour gemacht hat, um die Hand der (nichtsahnenden) Tochter. Oder? Hat sich Schiller in seinen kühnsten Träumen sogar ausgemalt, das Verhältnis zu beiden Damen von Wolzogen durch eine Heirat dauerhaft etablieren zu können?
Eine Antwort blieb allerdings aus, und das war natürlich auch eine Antwort. Zum Herbst scheint Frau von Wolzogen ihm dann die Rechnung (seiner aufgelaufenen) Schulden präsentiert zu haben, denn er schrieb am 8. Oktober einigermaßen entsetzt: “Ihr Brief, meine Theuerste, und die Situation, in welcher ich mich mit Ihnen befinden muß, hat eine schrekliche Wirkung auf mich gemacht. Unglükliches Schiksal, das unsre Freundschaft so stören mußte, das mich zwingen mußte, in Ihren Augen etwas zu scheinen, was ich niemals gewesen bin, und niemals werden kann, niederträchtig und undankbar. Urtheilen Sie selbst, meine beste, wie weh es mir thun muß, auch nur einen Augenblik in der Liste derjenigen zu stehen, die an Ihnen zu Betrügern geworden sind... Wie oft und gern wäre ich in den Bedrängnissen meines Herzens, in der Bedürfniß nach Freundschaft zu Ihnen meine Theuerste geflogen, wenn nicht eben die schrekliche Empfindung meiner Ohnmacht Ihren Wunsch zu erfüllen, und meine Schulden zu entrichten, mich wieder zurükgeworfen hätten. Der Gedanke an Sie, der mir jederzeit soviel Freude machte, wurde mir durch die Erinnerung an mein Unvermögen, eine Quelle von Marter...” blah, blah, blah...
Der Rest sind noch drei, vier unverbindliche Briefe von seiner Seite, in denen er ihr Luftschlösser über die Rückzahlung seiner Schulden vorgaukelte, sowie “der lieben Lotte wünsch ich Glück”. Sie hat es wohl kaum gefunden. Am 5. August 1788 starb Henriette von Wolzogen mit nur 42 Jahren an den Folgen einer Brustkrebsoperation. Im Dezember des gleichen Jahres willigte Charlotte in eine Versorgungsehe mit dem Regierungsrat August Franz Friedrich Rühle von Lilienstern auf Schloß Bedheim bei Hildburghausen. 1794 starb auch sie, an der Geburt ihres zweiten Kindes, erst 28 Jahre alt.
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Samstag, 5. Dezember 2009
Bloß weg! Ein Beitrag zum Schillerjahr
Charlotte von Kalb an Friedrich Schiller
1794, im August: “Das einzige Wesen, welches manchmal unzufrieden mit Hölderlin ist - ist er selbst.”
25. Oktober: Hölderlin ist sehr empfindlich... Ich vermute, Hölderlin ist etwas überspannt.”
9. Dezember: “Seine Empfindlichkeit ist grenzenlos, und man meint wirklich, daß eine Verworrenheit des Verstandes diesem Betragen zu Grunde liegt.”
Adolf Beck, der Herausgeber von Hölderlins Briefen in der Stuttgarter Ausgabe der Werke, vermutete stimmig zur allgemeinen Überzeugung von Hölderlins späterem Wahnsinn, an der von Charlotte von Kalb angesprochenen Überempfindlichkeit und Erregtheit Hölderlins könne ein “früher Schub der Krankheit (Schizophrenie) mitgewirkt haben”. Bertaux erinnert demgegenüber daran, daß der Dezember 1794 genau der Zeitpunkt war, zu dem Wilhelmine Kirms Hölderlin davon in Kenntnis gesetzt haben dürfte, daß er bald Vater werden würde. Kein Wunder, daß der gerade erst frisch von der Hochschule gekommene und so mittellose Privatlehrer, daß er keineswegs zu einer Heirat und der Versorgung von Frau und Kind im Stande war (falls er überhaupt an Heirat dachte), Panik schob.
Gut einen Monat später ist Hölderlin seinen Job bei Charlotte von Kalb los. Nicht zuletzt auf sein eigenes Betreiben. Zunächst frohlockt er, nach außen. An den Tübinger Stubenkameraden Hegel schreibt er am 26. Januar 1795: “Ich... kehrte nun in vollem Frieden nach Jena zurück, in eine Unabhängigkeit, die ich im Grunde jetzt im Leben zum erstenmale genieße... Schiller nimmt sich meiner sehr an... Goethen hab ich gesprochen, Bruder!”
Dabei hat er sich bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Olympier einen peinlichen Fauxpas geleistet, der kaum wiedergutzumachen war. Er hat den Geheimen Rat und Weimaraner Minister und Theaterleiter, den bekanntesten Dichter Deutschlands, Wolfgang von Goethe, nicht erkannt. Hölderlin selbst hat die Episode Neuffer so geschildert:
Kaum ein Semester hält er es in Jena aus. Sobald der Sommer kommt, fliegt der Vogel davon. Mitte Juni ist er in Heidelberg, wo er Johann Gottfried Ebel kennenlernt, dann zurück bei der Mutter im heimatlichen Nürtingen am Neckar. Man fragt sich, warum, denn in seinen Briefen von dort schreibt er schon im Sommer vor allem von “Maladie und Verdruß”.
Über die Gründe seines Weggangs aus Jena wird viel spekuliert. Natürlich wird wiedermal ein “früher Schub” der sich dadurch ankündigenden Geisteskrankheit bemüht. Konkreter sind eventuelle politische Befürchtungen. Hölderlin wohnte seit März zusammen mit seinem neuen Freund Isaac von Sinclair, den er bei Fichte kennengelernt hatte, in einem Gartenhaus am Hang des Hausbergs über der Stadt. Ende Mai wird der politisch radikale Revolutionsanhänger Sinclair als Rädelsführer von Studentenkrawallen verhaftet und der Universität verwiesen. Vielleicht bekommt sein Mitbewohner Hölderlin kalte Füße. In seinen Briefen finden sich darauf keine Hinweise, wohl aber auf einen anderen Umstand. Unmittelbar nach Sinclairs Verhaftung macht er sich in Jena tatsächlich erst einmal aus dem Staub und begibt sich auf einen “Spaziergang”: von Jena über Halle nach Dessau, dann über Leipzig zurück, gute 300 Kilometer, in einer Woche. M.a.W. Hölderlin spazierte täglich mehr als 40 Kilometer (und nicht in Wanderschuhen von Meindl oder Scarpa). Der lange als zum Umpusten ätherisches Sensibelchen Geschilderte war körperlich topfit und ausdauernd und gehört zu den ganz großen Spaziergängern unter den Dichtern, der immer wieder zu langen Wanderungen aufbrach, wenn ihn etwas umtrieb. Dazu später vielleicht einmal mehr. Hier nur der Hinweis auf einen Reflex im dichterischen Werk. Friedrich Schiller verwarf im gleichen Jahr ‘95 sein eigenes Verdikt gegen die Verwendung antiker Versmaße mit seiner Elegie Der Spaziergang. Kurz darauf muß Hölderlin den Plan zu einer ersten eigenen Elegie gefaßt haben. Ihr Titel: Der Wanderer.
An Neuffer schrieb er anläßlich seines Spaziergangs ins Sächsische:
Ihr Verehrer
M. Hölderlin”
Was hat der Verehrte darauf geantwortet? - Nichts.
Anfang September schickt Hölderlin einen zweiten Brief. “Es ist mir oft wie einem Exulanten, wenn ich mich der Stunden erinnere, da Sie sich mir mitteilten.” Auch darauf erhält er keine Antwort, Schiller ist sauer und schmollt. In seinem Musenalmanach 1796 erscheinen die Beiträge, die Hölderlin ihm dafür eingereicht hat, nicht. Stattdessen druckt er in seinen Horen ein eigenes Gedicht mit dem wohl auf Hölderlin gemünzten Titel Einem jungen Freund / als er sich der Weltweisheit widmete. Wie der Titel vermuten läßt, ein sehr mahnendes Gedicht, in dem er den “jungen Freund” mehrfach eindringlich fragt, ob dieser auch Mut und Stärke genug in sich fühle,
Hölderlin schreibt erst im nächsten Sommer und dann fast ein Jahr nach der Veröffentlichung von Schillers Gedicht im November 1796 wieder: “Verehrungswürdigster! Es macht mich oft traurig, daß ich Ihnen nimmer, wie ich sonst wohl durfte, ein Wort aus meiner Seele sagen kann, aber Ihr gänzlich Verstummen gegen mich macht mich wirklich blöde.”
Darauf endlich läßt sich der Herr Professor, ganz Dichterfürst, dazu herab, dem “lieben Freund” ein paar gutgemeinte Ratschläge für künftige Gedichte auf den Weg zu geben: “fliehen Sie wo möglich die philosophischen Stoffe... Auch vor einem Erbfehler deutscher Dichter will ich Sie noch warnen, der Weitschweifigkeit nämlich... Dieses tut Ihrem Gedicht an Diotima nicht wenig Schaden.”
Nachdem auch der Musenalmanach auf das Jahr 1797 ohne Beiträge von Hölderlin erscheint, schickt er Schiller im Juni dieses Jahres einen neuerlichen Brief mit dem ersten Band des Hyperion, zwei neuen Gedichten und einer gut verpackten Riposte: “Ich habe Mut und eignes Urteil genug, um mich von andern Kunstrichtern und Meistern unabhängig zu machen... aber von Ihnen dependier ich unüberwindlich; und weil ich fühle, wie viel ein Wort von Ihnen über mich entscheidet, such ich manchmal, Sie zu vergessen”.
Die Absetzbewegung von Schiller, die mit der überraschenden Abreise aus Jena begonnen hat, wird hier deutlich genug formuliert.
Eins der beiden mitgeschickten Gedichte ist Der Wanderer. Und der Adressat, der bewunderte Poet und Kunstrichter, der gerade erst so trefflich Über naive und sentimentalische Dichtung zu urteilen wußte? Er fragt einen anderen nach seiner Einschätzung, an dessen Urteil ihm gelegen sein muß: Göthe. “Sagen [Sie] mir in ein paar Worten, wie Ihnen die Arbeit vorkommt, und was Sie sich von dem Verfasser versprechen. Ueber Produkte in dieser Manier habe ich kein reines Urteil.”
Göthe antwortet gleich am nächsten Tag (28.6.97): “Denen beyden mir überschickten Gedichen... bin ich nicht ganz ungünstig... Ich möchte sagen, in beyden Gedichten sind gute Ingredienzien zu einem Dichter, die aber allein keinen Dichter machen. Vielleicht täte er am besten, wenn er einmal ein ganz einfaches Idyllisches Faktum wählte”.
Schiller am 30. Juni beflissen: “Es freut mich, daß Sie meinem Freunde und Schutzbefohlenen nicht ganz ungünstig sind. Das Tadelnswürdige an seiner Arbeit ist mir sehr lebhaft aufgefallen, aber ich wußte nicht recht, ob das Gute auch Stich halten würde... Aufrichtig, ich fand in diesen Gedichten viel von meiner eigenen sonstigen Gestalt, und es ist nicht das erstemal, daß mich der Verfasser an mich mahnte (!) - Sein Zustand ist gefährlich, da solchen Naturen so gar schwer beyzukommen ist.” Göthe entwarnt, wie wohl erhofft, und lobhudelt zurück: “Eine ähnliche Richtung ist wohl nicht zu verkennen, allein sie haben weder die Fülle, noch die Stärke, noch die Tiefe Ihrer Arbeiten.”
Ohne Hölderlin zu fragen, macht sich Schiller daran, den Wanderer nach Göthes Maßgabe idyllisch zu verniedlichen und druckt ihn so in den Horen. Hölderlins Dank fällt ziemlich zweischneidig aus: “Glauben Sie, daß ich diese Ehre zu schätzen weiß!” Darauf folgt höflich die endgültige Absage.
1794, im August: “Das einzige Wesen, welches manchmal unzufrieden mit Hölderlin ist - ist er selbst.”
25. Oktober: Hölderlin ist sehr empfindlich... Ich vermute, Hölderlin ist etwas überspannt.”
9. Dezember: “Seine Empfindlichkeit ist grenzenlos, und man meint wirklich, daß eine Verworrenheit des Verstandes diesem Betragen zu Grunde liegt.”
Adolf Beck, der Herausgeber von Hölderlins Briefen in der Stuttgarter Ausgabe der Werke, vermutete stimmig zur allgemeinen Überzeugung von Hölderlins späterem Wahnsinn, an der von Charlotte von Kalb angesprochenen Überempfindlichkeit und Erregtheit Hölderlins könne ein “früher Schub der Krankheit (Schizophrenie) mitgewirkt haben”. Bertaux erinnert demgegenüber daran, daß der Dezember 1794 genau der Zeitpunkt war, zu dem Wilhelmine Kirms Hölderlin davon in Kenntnis gesetzt haben dürfte, daß er bald Vater werden würde. Kein Wunder, daß der gerade erst frisch von der Hochschule gekommene und so mittellose Privatlehrer, daß er keineswegs zu einer Heirat und der Versorgung von Frau und Kind im Stande war (falls er überhaupt an Heirat dachte), Panik schob.
Gut einen Monat später ist Hölderlin seinen Job bei Charlotte von Kalb los. Nicht zuletzt auf sein eigenes Betreiben. Zunächst frohlockt er, nach außen. An den Tübinger Stubenkameraden Hegel schreibt er am 26. Januar 1795: “Ich... kehrte nun in vollem Frieden nach Jena zurück, in eine Unabhängigkeit, die ich im Grunde jetzt im Leben zum erstenmale genieße... Schiller nimmt sich meiner sehr an... Goethen hab ich gesprochen, Bruder!”
Dabei hat er sich bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Olympier einen peinlichen Fauxpas geleistet, der kaum wiedergutzumachen war. Er hat den Geheimen Rat und Weimaraner Minister und Theaterleiter, den bekanntesten Dichter Deutschlands, Wolfgang von Goethe, nicht erkannt. Hölderlin selbst hat die Episode Neuffer so geschildert:
“Bei Schiller war ich schon einigemale, das erstemal eben nicht mit Glück. Ich trat hinein, wurde freundlich begrüßt, und bemerkte kaum im Hintergrunde einen Fremden, bei dem keine Miene, auch nachher lange kein Laut etwas besonders ahnden ließ. Schiller nannte mich ihm, nannt' ihn auch mir, aber ich verstand seinen Namen nicht. Kalt, fast ohne einen Blick auf ihn begrüßt ich ihn, und war einzig im Innern und Äußern mit Schillern beschäftigt; der Fremde sprach lange kein Wort. Schiller brachte die Thalia, wo ein Fragment von meinem Hyperion u. mein Gedicht an das Schicksal gedruckt ist, u. gab es mir. Da Schiller sich einen Augenblick darauf entfernte, nahm der Fremde das Journal vom Tische, wo ich stand, blätterte neben mir in dem Fragmente, u. sprach kein Wort. Ich fühlt' es, daß ich über und über rot wurde. Hätt' ich gewußt, was ich jetzt weiß, ich wäre leichenblaß geworden. Er wandte sich darauf zu mir, erkundigte sich nach der Frau von Kalb, nach der Gegend und den Nachbarn unseres Dorfs, u. ich beantwortete das alles so einsylbig, als ich vielleicht selten gewohnt bin. Aber ich hatte einmal meine Unglücksstunde. Schiller kam wieder, wir sprachen über das Theater in Weimar, der Fremde ließ ein paar Worte fallen, die gewichtig genug waren, um mich etwas ahnden zu lassen. Aber ich ahndete nichts. Der Maler Majer aus Weimar kam auch noch. Der Fremde unterhielt sich über manches mit ihm. Aber ich ahndete nichts. Ich ging, u. erfuhr an demselben Tage im Klub der Professoren, was meinst Du? daß Goethe diesen Mittag bei Schiller gewesen sei. Der Himmel helfe mir, mein Unglück, u. meine dummen Streiche gut zu machen, wenn ich nach Weimar komme.”Aber Göthe scheint ihm die Sache nicht weiter übel zu nehmen. “Er unterhielt mich so sanft und freundlich, daß mir recht eigentlich das Herz lachte”, schreibt Hölderlin später an Hegel. Es geht ihm also bestens, sollte man meinen, er hat Geld und die allerbesten Verbindungen, sein Idol Schiller persönlich nimmt Gedichte von ihm in seine Zeitschrift auf, lädt ihn gar zur Mitarbeit ein und empfiehlt Cotta, den Hyperion zum Druck anzunehmen, Hölderlin geht also nicht nur mit den bekanntesten Geistesgrößen des Landes persönlich um (“Herder war auch herzlich”), er lebt auch, frei und materieller Nöte vorläufig enthoben, im damaligen geistigen Zentrum Deutschlands und hört an der Universität das Neuste vom Neusten, über das alle diskutieren: Fichtes philosophische Vorlesungen über Religion, Recht und Moral. Alles in allem sitzt er im Schlaraffenland für einen ambitionierten jungen Hochschulabsolventen, der als Dichter in die Höhe will. Und, schwups, ist er weg.
Kaum ein Semester hält er es in Jena aus. Sobald der Sommer kommt, fliegt der Vogel davon. Mitte Juni ist er in Heidelberg, wo er Johann Gottfried Ebel kennenlernt, dann zurück bei der Mutter im heimatlichen Nürtingen am Neckar. Man fragt sich, warum, denn in seinen Briefen von dort schreibt er schon im Sommer vor allem von “Maladie und Verdruß”.
Über die Gründe seines Weggangs aus Jena wird viel spekuliert. Natürlich wird wiedermal ein “früher Schub” der sich dadurch ankündigenden Geisteskrankheit bemüht. Konkreter sind eventuelle politische Befürchtungen. Hölderlin wohnte seit März zusammen mit seinem neuen Freund Isaac von Sinclair, den er bei Fichte kennengelernt hatte, in einem Gartenhaus am Hang des Hausbergs über der Stadt. Ende Mai wird der politisch radikale Revolutionsanhänger Sinclair als Rädelsführer von Studentenkrawallen verhaftet und der Universität verwiesen. Vielleicht bekommt sein Mitbewohner Hölderlin kalte Füße. In seinen Briefen finden sich darauf keine Hinweise, wohl aber auf einen anderen Umstand. Unmittelbar nach Sinclairs Verhaftung macht er sich in Jena tatsächlich erst einmal aus dem Staub und begibt sich auf einen “Spaziergang”: von Jena über Halle nach Dessau, dann über Leipzig zurück, gute 300 Kilometer, in einer Woche. M.a.W. Hölderlin spazierte täglich mehr als 40 Kilometer (und nicht in Wanderschuhen von Meindl oder Scarpa). Der lange als zum Umpusten ätherisches Sensibelchen Geschilderte war körperlich topfit und ausdauernd und gehört zu den ganz großen Spaziergängern unter den Dichtern, der immer wieder zu langen Wanderungen aufbrach, wenn ihn etwas umtrieb. Dazu später vielleicht einmal mehr. Hier nur der Hinweis auf einen Reflex im dichterischen Werk. Friedrich Schiller verwarf im gleichen Jahr ‘95 sein eigenes Verdikt gegen die Verwendung antiker Versmaße mit seiner Elegie Der Spaziergang. Kurz darauf muß Hölderlin den Plan zu einer ersten eigenen Elegie gefaßt haben. Ihr Titel: Der Wanderer.
An Neuffer schrieb er anläßlich seines Spaziergangs ins Sächsische:
“Ich war zu Ende des Winters nicht ganz gesund, aus Mangel an Bewegung, vielleicht auch, weil ich die Nektar- und Ambrosiakost, die man in Jena findet, noch nicht genug ertragen konnte; ich half mir durch einen Spaziergang”.Das von Chatwin später viel gepredigte Gehen als Therapie, Hölderlin hat es oft praktiziert. Interessant im Hinblick auf sein Weggehen ist aber auch seine ironische Erwähnung der (geistigen) “Nektar- und Ambrosiakost”, die er nicht vertrug. Dahinterstecken könnte, daß Hölderlin die vielen überragenden Köpfe in Jena für seine geistige Unabhängigkeit und seine eigene Kreativität bald zu dicht auf die Pelle rückten. Jedenfalls hat er Schiller gegenüber seinen plötzlichen Weggang aus Jena in dieser Richtung zu erklären versucht: “Es ist sonderbar, daß man sich sehr glücklich finden kann unter dem Einfluß eines Geistes... bloß durch seine Nähe”, schrieb er seinem väterlichen Gönner zunächst schmeichelnd am 23. Juli ‘95 aus Nürtingen. “Ich hätt es auch schwerlich mit all meinen Motiven über mich gewonnen, zu gehen”, heißt es dann weiter, “wenn nicht eben diese Nähe mich von der andern Seite so oft beunruhiget hätte. Ich war immer in Versuchung, Sie zu sehn, und sah Sie immer nur, um zu fühlen, daß ich Ihnen nichts sein konnte...
Ihr Verehrer
M. Hölderlin”
Was hat der Verehrte darauf geantwortet? - Nichts.
Anfang September schickt Hölderlin einen zweiten Brief. “Es ist mir oft wie einem Exulanten, wenn ich mich der Stunden erinnere, da Sie sich mir mitteilten.” Auch darauf erhält er keine Antwort, Schiller ist sauer und schmollt. In seinem Musenalmanach 1796 erscheinen die Beiträge, die Hölderlin ihm dafür eingereicht hat, nicht. Stattdessen druckt er in seinen Horen ein eigenes Gedicht mit dem wohl auf Hölderlin gemünzten Titel Einem jungen Freund / als er sich der Weltweisheit widmete. Wie der Titel vermuten läßt, ein sehr mahnendes Gedicht, in dem er den “jungen Freund” mehrfach eindringlich fragt, ob dieser auch Mut und Stärke genug in sich fühle,
dem Feind in dir selbst männlich entgegenzugehn,Einen Mentor wie Professor Friedrich Schiller von der Universität Jena desavouiert man nicht dadurch, daß man sich seiner Empfehlung für eine Arbeitsstelle bei einer guten Freundin nicht gewachsen zeigt, und erst recht macht man sich anschließend nicht eigenmächtig aus dem Staub. Da muß man es sich dann eben gefallen lassen, wenn der berühmte Dramatiker der Räuber (der sich selbst schon mehrfach auf französisch empfohlen hat) einem Mut und Stärke, Reife und Gesundheit bezweifelt.
Mit des Auges Gesundheit, des Herzens heiliger Unschuld
Zu entlarven den Trug, der dich als Wahrheit versucht?
Fliehe, bist du des Führers im eigenen Busen nicht sicher,
Fliehe den lockenden Rand, ehe der Schlund dich verschlingt.
Hölderlin schreibt erst im nächsten Sommer und dann fast ein Jahr nach der Veröffentlichung von Schillers Gedicht im November 1796 wieder: “Verehrungswürdigster! Es macht mich oft traurig, daß ich Ihnen nimmer, wie ich sonst wohl durfte, ein Wort aus meiner Seele sagen kann, aber Ihr gänzlich Verstummen gegen mich macht mich wirklich blöde.”
Darauf endlich läßt sich der Herr Professor, ganz Dichterfürst, dazu herab, dem “lieben Freund” ein paar gutgemeinte Ratschläge für künftige Gedichte auf den Weg zu geben: “fliehen Sie wo möglich die philosophischen Stoffe... Auch vor einem Erbfehler deutscher Dichter will ich Sie noch warnen, der Weitschweifigkeit nämlich... Dieses tut Ihrem Gedicht an Diotima nicht wenig Schaden.”
Nachdem auch der Musenalmanach auf das Jahr 1797 ohne Beiträge von Hölderlin erscheint, schickt er Schiller im Juni dieses Jahres einen neuerlichen Brief mit dem ersten Band des Hyperion, zwei neuen Gedichten und einer gut verpackten Riposte: “Ich habe Mut und eignes Urteil genug, um mich von andern Kunstrichtern und Meistern unabhängig zu machen... aber von Ihnen dependier ich unüberwindlich; und weil ich fühle, wie viel ein Wort von Ihnen über mich entscheidet, such ich manchmal, Sie zu vergessen”.
Die Absetzbewegung von Schiller, die mit der überraschenden Abreise aus Jena begonnen hat, wird hier deutlich genug formuliert.
Eins der beiden mitgeschickten Gedichte ist Der Wanderer. Und der Adressat, der bewunderte Poet und Kunstrichter, der gerade erst so trefflich Über naive und sentimentalische Dichtung zu urteilen wußte? Er fragt einen anderen nach seiner Einschätzung, an dessen Urteil ihm gelegen sein muß: Göthe. “Sagen [Sie] mir in ein paar Worten, wie Ihnen die Arbeit vorkommt, und was Sie sich von dem Verfasser versprechen. Ueber Produkte in dieser Manier habe ich kein reines Urteil.”
Göthe antwortet gleich am nächsten Tag (28.6.97): “Denen beyden mir überschickten Gedichen... bin ich nicht ganz ungünstig... Ich möchte sagen, in beyden Gedichten sind gute Ingredienzien zu einem Dichter, die aber allein keinen Dichter machen. Vielleicht täte er am besten, wenn er einmal ein ganz einfaches Idyllisches Faktum wählte”.
Schiller am 30. Juni beflissen: “Es freut mich, daß Sie meinem Freunde und Schutzbefohlenen nicht ganz ungünstig sind. Das Tadelnswürdige an seiner Arbeit ist mir sehr lebhaft aufgefallen, aber ich wußte nicht recht, ob das Gute auch Stich halten würde... Aufrichtig, ich fand in diesen Gedichten viel von meiner eigenen sonstigen Gestalt, und es ist nicht das erstemal, daß mich der Verfasser an mich mahnte (!) - Sein Zustand ist gefährlich, da solchen Naturen so gar schwer beyzukommen ist.” Göthe entwarnt, wie wohl erhofft, und lobhudelt zurück: “Eine ähnliche Richtung ist wohl nicht zu verkennen, allein sie haben weder die Fülle, noch die Stärke, noch die Tiefe Ihrer Arbeiten.”
Ohne Hölderlin zu fragen, macht sich Schiller daran, den Wanderer nach Göthes Maßgabe idyllisch zu verniedlichen und druckt ihn so in den Horen. Hölderlins Dank fällt ziemlich zweischneidig aus: “Glauben Sie, daß ich diese Ehre zu schätzen weiß!” Darauf folgt höflich die endgültige Absage.
Sie sagen, ich sollte Ihnen näher sein, so würden Sie mir sich ganz verständlich machen können; von Ihnen bedeutet mir ein solches Wort so viel! Aber glauben Sie, daß ich denn doch mir sagen muß, daß Ihre Nähe mir nicht erlaubt ist? Wirklich, Sie beleben mich zu sehr, wenn ich um Sie bin... Ich bin vor Ihnen wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesetzt hat. Man muß sie zudecken um Mittag. Sie mögen über mich lachen; aber ich spreche Wahrheit.Hier fragmentarisch ein paar Distichen des Wanderers aus Hölderlins eigener erster Reinschrift:
Hölderlin
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Dienstag, 1. Dezember 2009
“Überdiss hat sie eine ser interessante Figur”
Bei Hölderlins Waltershausen-Projekt läuft von Anfang einiges schief. Die Straße von Erlangen nach Bamberg gilt durch wegelagernde Räuberbanden in den Wäldern als so unsicher, daß man der Postkutsche Husaren als bewaffnete Begleitung mitgeben muß. Erst weit nach Mitternacht trifft sie in Bamberg ein. Nach Coburg führt der Weg am zweiten Weihnachtstag durch das “himmlische Tal, das von der Itze durchflossen wird”, aber Hölderlin sieht überall Anzeichen politischer Unruhe, in Coburg ist gerade die Miliz von den Bürgern verdroschen worden. In Nürnberg hätten sie “den Patriziern vom Aufhängen etwas zu verstehen gegeben.”
Um 3 Uhr in der Frühe fährt Hölderlin mit “Extrapost” von Coburg ab und trifft am Abend ziemlich durchgerüttelt und zerschlagen endlich in Waltershausen ein. Wo ihn auf dem Schloß niemand erwartet.
Die Schloßherrin, Reichsfreiin Charlotte von Kalb (geb. Marschalk von Ostheim) mit den großen blauen, aber extrem kurzsichtigen Augen, die Schiller, Hölderlin und Jean Paul, aber nie ihren Mann träumerisch ansehen, weilt noch auf Weihnachtsbesuch in Jena und hat niemanden informiert, daß sie inzwischen einen neuen Hauslehrer verpflichtet hat. (Die Kommunikation mit ihrem Mann, dem aus französischen Diensten entlassenen Major Heinrich von Kalb, ist nicht sonderlich gut und innig.) Der noch amtierende Hofmeister hat keine Ahnung, daß er bereits entlassen ist. “Der Major tröstet mich so gut er kann über die gespannte Lage”, schreibt Hölderlin noch am 30. Dezember in einem langen Brief an Stäudlin.
Gleich im neuen Jahr, nach der Abreise des alten Hofmeisters, nimmt der neue die Erziehung des neunjährigen Fritz in die Hand, oder auch nicht, denn Hölderlin versteht sich als alles, nur nicht als Zuchtmeister alten Schlages. Im Herbst, als sich seine erste Anstellung bei den von Kalbs anbahnte, hat der Dreiundzwanzigjährige seinem Halbbruder Karl geschrieben:
Schon im März schreibt Hölderlin an seinen von ihm selbst erkorenen Mentor Schiller, der ihm den Kontakt zu seiner ehemals vertrautesten Freundin Charlotte von Kalb vermittelt hat:
Auch sonst scheint es Hölderlin auf Schloß Waltershausen anfangs recht gut zu gefallen, die Hausherrin, die im März auf das Schloß mit dem von Balthasar Neumann prunkvoll ausgebauten Rokokosaal zurückkehrt, hält große Stücke auf ihn, und außerdem gibt es da nun noch ihre Gesellschafterin, “eine Dame von seltenem Geist und Herzen... Überdiss hat sie eine ser interessante Figur”, teilt Hölderlin seiner Schwester mit. “Überdiss” ist die Dame, mit Namen Wilhelmine Kirms, zwei Jahre jünger als Hölderlin, aber schon Witwe. Und sie leiht sich von ihm Kants neueste Schrift aus. Wie könnte man leichter Hölderlins Interesse auf sich ziehen? Eine Frau, die Kant liest! Ein wahrhaft “seltener Geist” für den von Kant Begeisterten, und als sie ihm auch noch ihr seltenes Herz und die interessante Figur öffnet, ist es um ihn geschehen. Um sie dann allerdings auch bald. Gegen Jahresende löst Frau von Kalb plötzlich das Dienstverhältnis und schickt die Kirmsin vom Schloß ins thüringische Meiningen. Warum?
Pierre Bertaux ist in seinem großen Hölderlin-Buch von 1978, das u.a. Peter Weiss‘ Hölderlin-Drama inspiriert hat, dieser Affäre mit detektivischer Akribie nachgegangen.
Fest steht, daß um jene Zeit, gegen Jahresende 1794, Wilhelmine Kirms ihrer Dienstherrin etwas beichten mußte, weil es sich nicht sehr viel länger verheimlichen ließ: sie trug etwas unter der Schürze. Es ist nicht bekannt, ob sie Frau von Kalb auch gesagt hat, wer der Urheber der Schwangerschaft sei. Sonderlich viele Männer kamen dafür an dem mit Hölderlins Worten “ziemlich einsamen” Ort nicht in Frage. Hat womöglich der vierzigjährige Major von Kalb, schneidiger Veteran des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs, seinen militärischen Rauhbeincharme oder seine Macht als Dienstherr ausgenutzt? Die Hölderlin-Forschung und v.a. Bertaux haben auf einen anderen hinweisende Indizien zusammengetragen. Das vielleicht wichtigste und zugleich diskreteste von ihnen: Unmittelbar nach der Entlassung Wilhelmines folgt Charlotte von Kalb dem vorausgeschickten Sohn Fritz und seinem Lehrer Friedrich nach Jena. Zwei Anstandswochen läßt sie dort verstreichen, vorgeblich in dem Versuch, das inzwischen problematisch gewordene Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler in der veränderten Umgebung noch einmal zu bessern, doch nach Ablauf dieser zwei Wochen bekommt auch Hölderlin die Entlassungspapiere und kehrt nie wieder nach Waltershausen zurück.
Was war an Hölderlins Beziehung zu seinem Zögling so schwierig geworden? In einem neuerlichen Brief an Neuffer äußert er sich über seine Lehrertätigkeit: “Ich muß doch wohl gewissenhaften, oft sehr angestrengten Bemühungen Erfolg wünschen. Es muß mir also wehe tun, wenn dieser Erfolg beinah gänzlich mangelt, durch die sehr mittelmäßigen Talente meines Zöglings, und durch eine äußerst fehlerhafte Behandlung in seiner frühen Jugend, und andere Dinge, womit ich Dich verschonen will.”
Erst nach seiner Entlassung, am 19. Januar 1795, verschont er den Freund nicht länger: “Ich litt mehr, lieber Neuffer! als ich schreiben mochte. Ich sah, wie sich das Kind mit jedem Tage mehr verdarb... ich wagte meine Gesundheit durch fortgesetzte Nachtwachen, denn das machte sein Übel nötig.” Neuffer und den Zeitgenossen war damit genug gesagt. Das kleineFrüchtchen Fritzchen betätigte sich anscheinend allabendlich fleißig der bekanntlich schädlichen Onanie, die damaligen Pädagogen zufolge zu Epilepsie oder Stumpfsinn oder auch Rückenmarksschwindsucht u.ä.m. führt. Als verantwortungsbewußter Erzieher suchte Hölderlin diese verderbliche Sucht mit allen erdenklichen Mitteln zu verhindern und ruinierte sich durch Schlafmangel Geduld und Nerven und verhielt sich am Ende dem Jungen gegenüber so hart, daß die besorgte Mutter mit beiden unter ihrer Aufsicht nach Weimar ging und den gescheiterten Erzieher nach erfolgloser Probezeit zum Schutz des Kindes “in gegenseitigem Einverständnis” entließ. Fortgesetzte Onanie als Kündigungsgrund.
Bertaux fand das auch nicht sehr überzeugend und las die Briefe noch einmal genauer. In dem Hölderlins an Neuffer gleich nach der Entlassung steht noch: “In Waltershausen hatt ich im Hause eine Freundin, die ich ungerne verlor, eine junge Witwe aus Dresden, die jetzt in Meiningen Gouvernante ist. Sie ist ein äußerst verständiges, festes und gutes Weib, und sehr unglücklich durch eine schlechte Mutter. Es wird Dich interessieren, wenn ich Dir ein andermal mehr von ihr sage, und ihrem Schicksal.”
Das tat Hölderlin leider nicht, aber nur eine Woche später bat er seine Mutter brieflich um Geld und zwar, obwohl ihn die Frau von Kalb in ihrem “ganzen edlen Sinn” “noch mit Gelde auf ein Vierteljahr” versehen hatte, um keine unbedeutende Summe, nämlich “sieben bis zehn Carolin”, was umgerechnet über hundert Gulden oder mehr als zwei Drittel seines Jahresgehalts in Waltershausen ausmachte. Wozu brauchte Hölderlin, der sich immer schwer tat, von seiner Mutter Geld aus seinem väterlichen Erbteil zu erbitten, diese Summe? Auch diesmal entschuldigte er sich, er hätte nicht um so viel gebeten, “wenn ich nicht noch einen kleinen Posten in Meiningen zu bezahlen hätte.” - In Meiningen, sieh an.
Im Juli desselben Jahres brachte Wilhelmine Kirms in Meiningen ein kleines Mädchen zur Welt, das auf den Namen Louise getauft wurde. Der Name des Vaters war in den Bekanntenkreisen der Familie von Kalb ein offenes Geheimnis. Zwei Jahre später, Hölderlin lebte in Frankfurt heimlich sein seliges Verhältnis mit Susette Gontard, schrieb der Frankfurter Kaufmann Ernst Schwendler der mit ihm befreundeten Hofrätin Heim in Meiningen: “Hölderlein habe ich vor 14 Tagen in einem Concert gefunden... und lange mit ihm gesprochen, nur nicht von der Kirms. Ich glaube ohnedies, daß er mich vielleicht, wenn er vermutet, daß ich etwas davon weiß, lieber 10 Meilen weiter gewünscht hat.”
Um 3 Uhr in der Frühe fährt Hölderlin mit “Extrapost” von Coburg ab und trifft am Abend ziemlich durchgerüttelt und zerschlagen endlich in Waltershausen ein. Wo ihn auf dem Schloß niemand erwartet.
Die Schloßherrin, Reichsfreiin Charlotte von Kalb (geb. Marschalk von Ostheim) mit den großen blauen, aber extrem kurzsichtigen Augen, die Schiller, Hölderlin und Jean Paul, aber nie ihren Mann träumerisch ansehen, weilt noch auf Weihnachtsbesuch in Jena und hat niemanden informiert, daß sie inzwischen einen neuen Hauslehrer verpflichtet hat. (Die Kommunikation mit ihrem Mann, dem aus französischen Diensten entlassenen Major Heinrich von Kalb, ist nicht sonderlich gut und innig.) Der noch amtierende Hofmeister hat keine Ahnung, daß er bereits entlassen ist. “Der Major tröstet mich so gut er kann über die gespannte Lage”, schreibt Hölderlin noch am 30. Dezember in einem langen Brief an Stäudlin.
Gleich im neuen Jahr, nach der Abreise des alten Hofmeisters, nimmt der neue die Erziehung des neunjährigen Fritz in die Hand, oder auch nicht, denn Hölderlin versteht sich als alles, nur nicht als Zuchtmeister alten Schlages. Im Herbst, als sich seine erste Anstellung bei den von Kalbs anbahnte, hat der Dreiundzwanzigjährige seinem Halbbruder Karl geschrieben:
“Ich hange nicht mehr so warm an einzelnen Menschen. Meine Liebe ist das Menschengeschlecht... Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte, denn dies ist meine seligste Hoffnung, unsere Enkel werden besser sein als wir, die Freiheit muß einmal kommen, und die Tugend wird besser gedeihen in der Freiheit heiligem erwärmenden Lichte als unter der eiskalten Zone des Despotismus. Wir leben in einer Zeitperiode, wo alles hinarbeitet auf bessere Tage. Diese Keime von Aufklärung... werden sich ausbreiten... Dies ist das heilige Ziel meiner Wünsche, und meiner Tätigkeit - dies, daß ich in unserm Zeitalter die Keime wecke, die in einem künftigen reifen werden... Ich möchte ins Allgemeine wirken... Bildung, Besserung des Menschengeschlechts”!In dem neunjährigen Fritzchen sollten aber bald ganz andere Keime sprießen, und der zu den Domestiken zählende Hauslehrer bekam mit dem renitenten Adelssöhnchen seine liebe Not.
Schon im März schreibt Hölderlin an seinen von ihm selbst erkorenen Mentor Schiller, der ihm den Kontakt zu seiner ehemals vertrautesten Freundin Charlotte von Kalb vermittelt hat:
“Meinen Zögling zum Menschen zu bilden, das war und ist mein Zweck. Überzeugt, daß alle Humanität, die nicht mit andern Worten Vernunft heißt, des Namens nicht wert ist, dacht ich in meinem Zögling nicht frühe genug sein Edelstes entwickeln zu können. Im schuldlosen Naturstande konnt er schon jetzt nimmer sein, und war auch nimmer drin.”Die Mutter und die Freunde bekommen aber zunächst anderes zu lesen: “Mein Unterricht hat den besten Erfolg. Es ist gar keine Rede davon, daß ich auch nur einmal die gewaltsame Methode zu brauchen nötig hätte”, heißt es an die Mutter. “Mein Junge ist recht guter Art, ehrlich, fröhlich, lenksam, mit gut zusammenstimmenden, auf keine Art exzentrischen Geisteskräften”, schreibt er dem Freund Ludwig Neuffer, derzeit Hilfsgeistlicher und Erzieher am Stuttgarter Waisenhaus.
Auch sonst scheint es Hölderlin auf Schloß Waltershausen anfangs recht gut zu gefallen, die Hausherrin, die im März auf das Schloß mit dem von Balthasar Neumann prunkvoll ausgebauten Rokokosaal zurückkehrt, hält große Stücke auf ihn, und außerdem gibt es da nun noch ihre Gesellschafterin, “eine Dame von seltenem Geist und Herzen... Überdiss hat sie eine ser interessante Figur”, teilt Hölderlin seiner Schwester mit. “Überdiss” ist die Dame, mit Namen Wilhelmine Kirms, zwei Jahre jünger als Hölderlin, aber schon Witwe. Und sie leiht sich von ihm Kants neueste Schrift aus. Wie könnte man leichter Hölderlins Interesse auf sich ziehen? Eine Frau, die Kant liest! Ein wahrhaft “seltener Geist” für den von Kant Begeisterten, und als sie ihm auch noch ihr seltenes Herz und die interessante Figur öffnet, ist es um ihn geschehen. Um sie dann allerdings auch bald. Gegen Jahresende löst Frau von Kalb plötzlich das Dienstverhältnis und schickt die Kirmsin vom Schloß ins thüringische Meiningen. Warum?
Pierre Bertaux ist in seinem großen Hölderlin-Buch von 1978, das u.a. Peter Weiss‘ Hölderlin-Drama inspiriert hat, dieser Affäre mit detektivischer Akribie nachgegangen.
Fest steht, daß um jene Zeit, gegen Jahresende 1794, Wilhelmine Kirms ihrer Dienstherrin etwas beichten mußte, weil es sich nicht sehr viel länger verheimlichen ließ: sie trug etwas unter der Schürze. Es ist nicht bekannt, ob sie Frau von Kalb auch gesagt hat, wer der Urheber der Schwangerschaft sei. Sonderlich viele Männer kamen dafür an dem mit Hölderlins Worten “ziemlich einsamen” Ort nicht in Frage. Hat womöglich der vierzigjährige Major von Kalb, schneidiger Veteran des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs, seinen militärischen Rauhbeincharme oder seine Macht als Dienstherr ausgenutzt? Die Hölderlin-Forschung und v.a. Bertaux haben auf einen anderen hinweisende Indizien zusammengetragen. Das vielleicht wichtigste und zugleich diskreteste von ihnen: Unmittelbar nach der Entlassung Wilhelmines folgt Charlotte von Kalb dem vorausgeschickten Sohn Fritz und seinem Lehrer Friedrich nach Jena. Zwei Anstandswochen läßt sie dort verstreichen, vorgeblich in dem Versuch, das inzwischen problematisch gewordene Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler in der veränderten Umgebung noch einmal zu bessern, doch nach Ablauf dieser zwei Wochen bekommt auch Hölderlin die Entlassungspapiere und kehrt nie wieder nach Waltershausen zurück.
Was war an Hölderlins Beziehung zu seinem Zögling so schwierig geworden? In einem neuerlichen Brief an Neuffer äußert er sich über seine Lehrertätigkeit: “Ich muß doch wohl gewissenhaften, oft sehr angestrengten Bemühungen Erfolg wünschen. Es muß mir also wehe tun, wenn dieser Erfolg beinah gänzlich mangelt, durch die sehr mittelmäßigen Talente meines Zöglings, und durch eine äußerst fehlerhafte Behandlung in seiner frühen Jugend, und andere Dinge, womit ich Dich verschonen will.”
Erst nach seiner Entlassung, am 19. Januar 1795, verschont er den Freund nicht länger: “Ich litt mehr, lieber Neuffer! als ich schreiben mochte. Ich sah, wie sich das Kind mit jedem Tage mehr verdarb... ich wagte meine Gesundheit durch fortgesetzte Nachtwachen, denn das machte sein Übel nötig.” Neuffer und den Zeitgenossen war damit genug gesagt. Das kleine
Bertaux fand das auch nicht sehr überzeugend und las die Briefe noch einmal genauer. In dem Hölderlins an Neuffer gleich nach der Entlassung steht noch: “In Waltershausen hatt ich im Hause eine Freundin, die ich ungerne verlor, eine junge Witwe aus Dresden, die jetzt in Meiningen Gouvernante ist. Sie ist ein äußerst verständiges, festes und gutes Weib, und sehr unglücklich durch eine schlechte Mutter. Es wird Dich interessieren, wenn ich Dir ein andermal mehr von ihr sage, und ihrem Schicksal.”
Das tat Hölderlin leider nicht, aber nur eine Woche später bat er seine Mutter brieflich um Geld und zwar, obwohl ihn die Frau von Kalb in ihrem “ganzen edlen Sinn” “noch mit Gelde auf ein Vierteljahr” versehen hatte, um keine unbedeutende Summe, nämlich “sieben bis zehn Carolin”, was umgerechnet über hundert Gulden oder mehr als zwei Drittel seines Jahresgehalts in Waltershausen ausmachte. Wozu brauchte Hölderlin, der sich immer schwer tat, von seiner Mutter Geld aus seinem väterlichen Erbteil zu erbitten, diese Summe? Auch diesmal entschuldigte er sich, er hätte nicht um so viel gebeten, “wenn ich nicht noch einen kleinen Posten in Meiningen zu bezahlen hätte.” - In Meiningen, sieh an.
Im Juli desselben Jahres brachte Wilhelmine Kirms in Meiningen ein kleines Mädchen zur Welt, das auf den Namen Louise getauft wurde. Der Name des Vaters war in den Bekanntenkreisen der Familie von Kalb ein offenes Geheimnis. Zwei Jahre später, Hölderlin lebte in Frankfurt heimlich sein seliges Verhältnis mit Susette Gontard, schrieb der Frankfurter Kaufmann Ernst Schwendler der mit ihm befreundeten Hofrätin Heim in Meiningen: “Hölderlein habe ich vor 14 Tagen in einem Concert gefunden... und lange mit ihm gesprochen, nur nicht von der Kirms. Ich glaube ohnedies, daß er mich vielleicht, wenn er vermutet, daß ich etwas davon weiß, lieber 10 Meilen weiter gewünscht hat.”
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Samstag, 28. November 2009
"Wie so anders ist's geworden"
Wer behauptet eigentlich, Hölderlin sei schwer bis unverständlich? Deutlicher als so kann man seine vergangenen und akuten Gemütszustände und eine selige neue Verliebtheit in einem Gedicht doch kaum erklären. In den Frankfurter Jahren 1796/97 war Hölderlin, den Umständen entsprechend, glücklich. Ganz anders als die Jahre zuvor: “Lange todt und tiefverschlossen”.
Seine Mutter hatte von Anfang an entschieden, daß "des Bürschle" einmal die geistliche Laufbahn einschlagen solle. Sein Vater, der als Gutsverwalter des Herzogs von Württemberg ein kleines Vermögen hinterlassen hatte, war bereits gestorben, als Hölderlin erst zwei Jahre alt war, und den Stiefvater, der ihm sehr nahe gestanden haben muß, verlor er mit neun. Noch zwanzig Jahre später führte er seinen “Hang zur Trauer” auf diesen Verlust zurück.
Mit 14 war er gegen die schriftliche Erklärung, sich “auf keine andere Profession, dann die Theologiam zu legen”, auf Kosten der Landeskirche in die Klosterschule zu Denkendorf aufgenommen worden, zwei Jahre später ins Kloster Maulbronn, dessen strenger Zucht er schon im Jahr darauf am liebsten ebenso entflohen wäre wie vorher Johannes Kepler und nach ihm Hermann Hesse, die ebenfalls in Maulbronn die Schulbank drückten. Aber die Mutter blieb unerbittlich. Auf das Kloster folgte das Theologiestudium im Tübinger Stift, für Hölderlin voller “Verdrüßlichkeiten, Schikanen, Ungerechtigkeiten”. Die Jahre im Stift brachten aber auch viele Denkanstöße gemeinsam mit Kommilitonen und bedeuteten eine Zeit hoher geistiger Regsamkeit. Wenn es wahr ist, daß Hölderlin zeitweilig gemeinsam mit Hegel und Schelling ein Zimmer belegte, dürfte es sich wohl um das geistig hochkarätigste Internatszimmer zumindest der deutschen Geistesgeschichte gehandelt haben.
Nach bestandenem Examen nicht als Vikar gleich in den Pfarrdienst einzutreten, akzeptierte die württembergische Landeskirche nur, wenn der Stipendiat eine entsprechende anderweitige Anstellung nachweisen konnte. Bei einem Besuch in Stuttgart hatte Hölderlin den wichtigen Verleger Gotthold Stäudlin kennengelernt und der einige seiner frühen Gedichte in seinen weit verbreiteten Musenalmanach fürs Jahr 1792 aufgenommen. Stäudlin war von Hölderlins Talent beeindruckt und wollte sich als Förderer für ihn verwenden. In zwei Briefen empfahl er ihn Schiller, der ebenfalls am württembergischen Erziehungsdrill krank geworden und vor ihm geflohen war. Schiller jedenfalls sah, was er tun konnte. Nach einem kurzen Vorstellungsbesuch Hölderlins in Ludwigsburg am 1. Oktober 1793 schrieb Schiller seiner guten Freundin Charlotte von Kalb, die ihn gebeten hatte, einen Lehrer und Erzieher für ihren neunjährigen Sohn Fritz zu suchen:
“Einen jungen Mann habe ich ausgefunden, der eben jetzt seine theologischen Studien in Tübingen vollendet hat, und dessen Kenntnissen in Sprachen und den zum Hofmeister erforderlichen Fächern alle die ich darüber befragt habe, ein gutes Zeugniß ertheilen. Er versteht und spricht auch das Französische und ist (ich weiß nicht, ob ich dies zu seiner Empfehlung oder zu seinem Nachtheile anführe) nicht ohne poetisches Talent, wovon Sie in dem Schwäbischen Musenalmanach vom Jahr 1794 Proben finden werden. Er heißt Hölderlin und ist Magister der Philosophie. Ich habe ihn persönlich kennen lernen und glaube, daß Ihnen sein Aeußeres sehr wohl gefallen wird. Auch zeigt er vielen Anstand und Artigkeit. Seinen Sitten giebt man ein gutes Zeugniß; doch völlig gesetzt scheint er noch nicht, und viele Gründlichkeit erwarte ich weder von seinem Wißen noch von seinem Betragen. Ich könnte ihm vielleicht hierin Unrecht thun, weil ich dieses Urtheil bloß auf die Bekanntschaft einer halben Stunde und eigentlich bloß auf seinen Anblick und Vortrag gründe; ich will ihn aber lieber härter als nachsichtiger beurtheilen, daß, wenn Ihre Erwartung ja getäuscht werden sollte, dieß zu seinem Vortheil geschehe. Mit den Bedingungen, die Sie ihm anbieten werden, ist er vollkommen zufrieden...“Weihnachten 1793 reiste Hölderlin über Nürnberg und “auf einem verdammt kalten und unsichern Wege” Bamberg voller Ehrgeiz und hochfliegender Erwartungen seiner ersten Anstellung als Hofmeister auf dem Schloß der von Kalbs im unterfränkischen Waltershausen entgegen.
Es konnte nur schiefgehen.
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Mittwoch, 25. November 2009
Alles eine Frage der Ballistik?
Wendepunkte, welcher Art auch immer, sind die gegebenen Orte, kurz innezuhalten. Verläßt etwas die heimische Abschußrampe, so steigt es auf seiner Flugbahn scheinbar unaufhaltsam in die Höhe, doch erreicht es irgendwann den Scheitelpunkt und steht dort für den einen Moment still, in dem seine Beschleunigungskraft und die Erdanziehung sich die Waage halten - dann neigt es sich und sinkt auf seiner ballistischen Kurve unaufhaltsam wieder der Erde zu. Der Scheitelpunkt aber gaukelt zuvor in seinen Sekundenbruchteilen des Kräftegleichgewichts ein Gefühl der von allem losgelösten Schwerelosigkeit vor, das einem Gefühl unbegrenzter Freiheit entspricht. Man fühlt sich, als sei man aller Kräfte ledig, die einen schieben und an einem ziehen, als habe man die Freiheit, in jede gewünschte Richtung zu schweben oder zu bleiben.
Wir schreiben die Wende zum Jahr 1800, eine Jahrhundertwende. Der Putschist Napoleon Bonaparte hat soeben nach seinem Staatsstreich als Erster Konsul die französische Revolution für gelungen und beendet erklärt und marschiert an der Spitze seiner Volksarmee gegen die Kräfte der Reaktion in Italien ein, im Vatikan besteigt nach Pius “dem Letzten” ein neuer Papst den Thron: Pius VII. Die französischen Truppen des neuen, bürgerlichen Zeitalters schlagen das österreichische Heer des alten Feudalabsolutismus bei Marengo und Hohenlinden, während Beethoven an der Wiener Hofburg seine erste Sinfonie aufführt. Alessandro Volta bereitet mit der Entwicklung der ersten Batterie die Nutzung der Elektrizität vor.
“Man kann wohl mit Gewißheit sagen, daß die Welt noch nie so bunt aussah wie jetzt”, hat kurz vorher ein verarmter junger Poet und Hauslehrer namens Friedrich Hölderlin seinem ins revolutionäre Frankreich geflohenen Freund Ebel geschrieben, der ihm eine Lehrerstelle bei der Bankiersfamilie Gontard in Frankfurt vermittelt hatte. “Aber so soll es sein! Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles Bisherige schamrot machen wird.”
Schamrot aber war vor allem Frau Gontard geworden, als ihr Mann hinter ihr andauerndes Liebesverhältnis zu dem noch nicht dreißigjährigen Hofmeister gekommen war. Hölderlin fliegt, muß das Haus und Frankfurt verlassen, trifft sich nur noch sporadisch und heimlich mit seiner über alles geliebten und verehrten “Diotima”. Sie steckt ihm Briefe durch die Gartenhecke zu, in denen sie schreibt: “Ich fühlte es lebhaft, daß ohne Dich mein Leben hinwelkt und langsam stirbt.” Tatsächlich erkrankt sie bald an Schwindsucht.
Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt
All uns nieder, das Leid beuget gewaltiger,
gibt Hölderlin ihrem Schmerz in seiner berühmten Ode mit dem Titel Lebenslauf Ausdruck. Dann fährt er fort:
Doch es kehret umsonst nicht
Unser Bogen, woher er kommt.
Im Jahr des Artilleristen Bonaparte der Lebenslauf als ballistische Kurve? Hölderlin sah allerdings wohl weniger den Bogen der Flugbahn als deren Verursacher vor sich, den Bogen, der Pfeile auf ihre Bahn schickt; denn der im Griechischen so gut Bewanderte kannte diese Metapher von Heraklit, den er auch gleich in der folgenden Strophe zitiert: Aufwärts oder hinab!
"Der Weg hinauf oder hinab ein und derselbe", lautet das 60. Fragment Heraklits, und das 51.: "Sie verstehen es nicht, wie es auseinanderstrebend ineinander geht: gegenstrebige Vereinigung wie beim Bogen und der Leier". Das Bild des Bogens geht also mindestens bis ins 5. vorchristliche Jahrhundert zurück, und das heraklitische “Eine in sich selber unterschiedene” hat Hölderlin schon im Hyperion zum “Wesen der Schönheit” erklärt. Im Lebenslauf aber herrschen andere Gesetze, und Hölderlin kleidet die Unerbittlichkeit der Kräfte, die auf Flugbahn und Leben einwirken, in die strenge Form und die harten Fügungen der asklepiadischen Ode.
Aufwärts oder hinab! herrschet in heil'ger Nacht,
Wo die stumme Natur werdende Tage sinnt,
Herrscht im schiefesten Orkus
Nicht ein Grades, ein Recht noch auch?
Dies erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich,
Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,
Daß ich wüßte, mit Vorsicht
Mich des ebenen Pfads geführt.
Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern',
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.
Kurz zischen wir himmelwärts, hinauf aus dem einen, ungeschiedenen Urgrund, und sobald wir über den Scheitelpunkt hinaus sind, geht‘s wieder abwärts, aber es läuft alles auf eins hinaus, verkünden Heraklit und Hölderlin. Ich glaube, nicht in tröstlicher Absicht, sondern eher in bennscher: Erkenne die Lage!
Hölderlin erkannte die seine ziemlich genau: 1804 schrieb er Hälfte des Lebens. Da war er 34 und auf dem Weg in die geistige Umnachtung. In der sollte er, zuweilen klarsichtige Gedichte schreibend, noch einmal mehr als 34 Jahre verbringen. Seine letzten Zeilen, wenige Tage vor seinem Tod am 7. Juni 1843 hingeschrieben:
Oft scheint die Innerheit der Welt umwölkt, verschlossen,
Des Menschen Sinn von Zweifeln voll, verdrossen,
Die prächtige Natur erheitert seine Tage
Und ferne steht des Zweifels dunkle Frage.
Hatte er seinen Frieden gefunden, oder stand die Frage des Zweifels zwar fern, aber immer noch vor ihm?
Mein Vater hätte heute seinen 90. Geburtstag feiern können, wenn er noch lebte. In seinem Gedenken stehen diese Zeilen. Seine Flugbahn zielte nicht so hoch hinauf wie die Hölderlins; dafür war sie stabiler und trug ein gutes Stück weiter.
Wendepunkte. Woran erkennen wir sie? An einem von leichtem Schwindel begleiteten Freiheitsgefühl vielleicht? Bevor sich der Druck der Schwerkraft mit anfangs kaum spürbarer Hand auf uns legt.
Wir schreiben die Wende zum Jahr 1800, eine Jahrhundertwende. Der Putschist Napoleon Bonaparte hat soeben nach seinem Staatsstreich als Erster Konsul die französische Revolution für gelungen und beendet erklärt und marschiert an der Spitze seiner Volksarmee gegen die Kräfte der Reaktion in Italien ein, im Vatikan besteigt nach Pius “dem Letzten” ein neuer Papst den Thron: Pius VII. Die französischen Truppen des neuen, bürgerlichen Zeitalters schlagen das österreichische Heer des alten Feudalabsolutismus bei Marengo und Hohenlinden, während Beethoven an der Wiener Hofburg seine erste Sinfonie aufführt. Alessandro Volta bereitet mit der Entwicklung der ersten Batterie die Nutzung der Elektrizität vor.
“Man kann wohl mit Gewißheit sagen, daß die Welt noch nie so bunt aussah wie jetzt”, hat kurz vorher ein verarmter junger Poet und Hauslehrer namens Friedrich Hölderlin seinem ins revolutionäre Frankreich geflohenen Freund Ebel geschrieben, der ihm eine Lehrerstelle bei der Bankiersfamilie Gontard in Frankfurt vermittelt hatte. “Aber so soll es sein! Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles Bisherige schamrot machen wird.”
Schamrot aber war vor allem Frau Gontard geworden, als ihr Mann hinter ihr andauerndes Liebesverhältnis zu dem noch nicht dreißigjährigen Hofmeister gekommen war. Hölderlin fliegt, muß das Haus und Frankfurt verlassen, trifft sich nur noch sporadisch und heimlich mit seiner über alles geliebten und verehrten “Diotima”. Sie steckt ihm Briefe durch die Gartenhecke zu, in denen sie schreibt: “Ich fühlte es lebhaft, daß ohne Dich mein Leben hinwelkt und langsam stirbt.” Tatsächlich erkrankt sie bald an Schwindsucht.
Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt
All uns nieder, das Leid beuget gewaltiger,
gibt Hölderlin ihrem Schmerz in seiner berühmten Ode mit dem Titel Lebenslauf Ausdruck. Dann fährt er fort:
Doch es kehret umsonst nicht
Unser Bogen, woher er kommt.
Im Jahr des Artilleristen Bonaparte der Lebenslauf als ballistische Kurve? Hölderlin sah allerdings wohl weniger den Bogen der Flugbahn als deren Verursacher vor sich, den Bogen, der Pfeile auf ihre Bahn schickt; denn der im Griechischen so gut Bewanderte kannte diese Metapher von Heraklit, den er auch gleich in der folgenden Strophe zitiert: Aufwärts oder hinab!
"Der Weg hinauf oder hinab ein und derselbe", lautet das 60. Fragment Heraklits, und das 51.: "Sie verstehen es nicht, wie es auseinanderstrebend ineinander geht: gegenstrebige Vereinigung wie beim Bogen und der Leier". Das Bild des Bogens geht also mindestens bis ins 5. vorchristliche Jahrhundert zurück, und das heraklitische “Eine in sich selber unterschiedene” hat Hölderlin schon im Hyperion zum “Wesen der Schönheit” erklärt. Im Lebenslauf aber herrschen andere Gesetze, und Hölderlin kleidet die Unerbittlichkeit der Kräfte, die auf Flugbahn und Leben einwirken, in die strenge Form und die harten Fügungen der asklepiadischen Ode.
Aufwärts oder hinab! herrschet in heil'ger Nacht,
Wo die stumme Natur werdende Tage sinnt,
Herrscht im schiefesten Orkus
Nicht ein Grades, ein Recht noch auch?
Dies erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich,
Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,
Daß ich wüßte, mit Vorsicht
Mich des ebenen Pfads geführt.
Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern',
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.
Kurz zischen wir himmelwärts, hinauf aus dem einen, ungeschiedenen Urgrund, und sobald wir über den Scheitelpunkt hinaus sind, geht‘s wieder abwärts, aber es läuft alles auf eins hinaus, verkünden Heraklit und Hölderlin. Ich glaube, nicht in tröstlicher Absicht, sondern eher in bennscher: Erkenne die Lage!
Hölderlin erkannte die seine ziemlich genau: 1804 schrieb er Hälfte des Lebens. Da war er 34 und auf dem Weg in die geistige Umnachtung. In der sollte er, zuweilen klarsichtige Gedichte schreibend, noch einmal mehr als 34 Jahre verbringen. Seine letzten Zeilen, wenige Tage vor seinem Tod am 7. Juni 1843 hingeschrieben:
Oft scheint die Innerheit der Welt umwölkt, verschlossen,
Des Menschen Sinn von Zweifeln voll, verdrossen,
Die prächtige Natur erheitert seine Tage
Und ferne steht des Zweifels dunkle Frage.
Hatte er seinen Frieden gefunden, oder stand die Frage des Zweifels zwar fern, aber immer noch vor ihm?
Mein Vater hätte heute seinen 90. Geburtstag feiern können, wenn er noch lebte. In seinem Gedenken stehen diese Zeilen. Seine Flugbahn zielte nicht so hoch hinauf wie die Hölderlins; dafür war sie stabiler und trug ein gutes Stück weiter.
Wendepunkte. Woran erkennen wir sie? An einem von leichtem Schwindel begleiteten Freiheitsgefühl vielleicht? Bevor sich der Druck der Schwerkraft mit anfangs kaum spürbarer Hand auf uns legt.
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