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Dienstag, 1. Dezember 2009
“Überdiss hat sie eine ser interessante Figur”
Bei Hölderlins Waltershausen-Projekt läuft von Anfang einiges schief. Die Straße von Erlangen nach Bamberg gilt durch wegelagernde Räuberbanden in den Wäldern als so unsicher, daß man der Postkutsche Husaren als bewaffnete Begleitung mitgeben muß. Erst weit nach Mitternacht trifft sie in Bamberg ein. Nach Coburg führt der Weg am zweiten Weihnachtstag durch das “himmlische Tal, das von der Itze durchflossen wird”, aber Hölderlin sieht überall Anzeichen politischer Unruhe, in Coburg ist gerade die Miliz von den Bürgern verdroschen worden. In Nürnberg hätten sie “den Patriziern vom Aufhängen etwas zu verstehen gegeben.”
Um 3 Uhr in der Frühe fährt Hölderlin mit “Extrapost” von Coburg ab und trifft am Abend ziemlich durchgerüttelt und zerschlagen endlich in Waltershausen ein. Wo ihn auf dem Schloß niemand erwartet.

Charlotte von Kalb Die Schloßherrin, Reichsfreiin Charlotte von Kalb (geb. Marschalk von Ostheim) mit den großen blauen, aber extrem kurzsichtigen Augen, die Schiller, Hölderlin und Jean Paul, aber nie ihren Mann träumerisch ansehen, weilt noch auf Weihnachtsbesuch in Jena und hat niemanden informiert, daß sie inzwischen einen neuen Hauslehrer verpflichtet hat. (Die Kommunikation mit ihrem Mann, dem aus französischen Diensten entlassenen Major Heinrich von Kalb, ist nicht sonderlich gut und innig.) Der noch amtierende Hofmeister hat keine Ahnung, daß er bereits entlassen ist. “Der Major tröstet mich so gut er kann über die gespannte Lage”, schreibt Hölderlin noch am 30. Dezember in einem langen Brief an Stäudlin.
Gleich im neuen Jahr, nach der Abreise des alten Hofmeisters, nimmt der neue die Erziehung des neunjährigen Fritz in die Hand, oder auch nicht, denn Hölderlin versteht sich als alles, nur nicht als Zuchtmeister alten Schlages. Im Herbst, als sich seine erste Anstellung bei den von Kalbs anbahnte, hat der Dreiundzwanzigjährige seinem Halbbruder Karl geschrieben:
“Ich hange nicht mehr so warm an einzelnen Menschen. Meine Liebe ist das Menschengeschlecht... Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte, denn dies ist meine seligste Hoffnung, unsere Enkel werden besser sein als wir, die Freiheit muß einmal kommen, und die Tugend wird besser gedeihen in der Freiheit heiligem erwärmenden Lichte als unter der eiskalten Zone des Despotismus. Wir leben in einer Zeitperiode, wo alles hinarbeitet auf bessere Tage. Diese Keime von Aufklärung... werden sich ausbreiten... Dies ist das heilige Ziel meiner Wünsche, und meiner Tätigkeit - dies, daß ich in unserm Zeitalter die Keime wecke, die in einem künftigen reifen werden... Ich möchte ins Allgemeine wirken... Bildung, Besserung des Menschengeschlechts”!
In dem neunjährigen Fritzchen sollten aber bald ganz andere Keime sprießen, und der zu den Domestiken zählende Hauslehrer bekam mit dem renitenten Adelssöhnchen seine liebe Not.

Schon im März schreibt Hölderlin an seinen von ihm selbst erkorenen Mentor Schiller, der ihm den Kontakt zu seiner ehemals vertrautesten Freundin Charlotte von Kalb vermittelt hat:
“Meinen Zögling zum Menschen zu bilden, das war und ist mein Zweck. Überzeugt, daß alle Humanität, die nicht mit andern Worten Vernunft heißt, des Namens nicht wert ist, dacht ich in meinem Zögling nicht frühe genug sein Edelstes entwickeln zu können. Im schuldlosen Naturstande konnt er schon jetzt nimmer sein, und war auch nimmer drin.”
Die Mutter und die Freunde bekommen aber zunächst anderes zu lesen: “Mein Unterricht hat den besten Erfolg. Es ist gar keine Rede davon, daß ich auch nur einmal die gewaltsame Methode zu brauchen nötig hätte”, heißt es an die Mutter. “Mein Junge ist recht guter Art, ehrlich, fröhlich, lenksam, mit gut zusammenstimmenden, auf keine Art exzentrischen Geisteskräften”, schreibt er dem Freund Ludwig Neuffer, derzeit Hilfsgeistlicher und Erzieher am Stuttgarter Waisenhaus.
Auch sonst scheint es Hölderlin auf Schloß Waltershausen anfangs recht gut zu gefallen, die Hausherrin, die im März auf das Schloß mit dem von Balthasar Neumann prunkvoll ausgebauten Rokokosaal zurückkehrt, hält große Stücke auf ihn, und außerdem gibt es da nun noch ihre Gesellschafterin, “eine Dame von seltenem Geist und Herzen... Überdiss hat sie eine ser interessante Figur”, teilt Hölderlin seiner Schwester mit. “Überdiss” ist die Dame, mit Namen Wilhelmine Kirms, zwei Jahre jünger als Hölderlin, aber schon Witwe. Und sie leiht sich von ihm Kants neueste Schrift aus. Wie könnte man leichter Hölderlins Interesse auf sich ziehen? Eine Frau, die Kant liest! Ein wahrhaft “seltener Geist” für den von Kant Begeisterten, und als sie ihm auch noch ihr seltenes Herz und die interessante Figur öffnet, ist es um ihn geschehen. Um sie dann allerdings auch bald. Gegen Jahresende löst Frau von Kalb plötzlich das Dienstverhältnis und schickt die Kirmsin vom Schloß ins thüringische Meiningen. Warum?

Schloß Waltershausen

Pierre Bertaux ist in seinem großen Hölderlin-Buch von 1978, das u.a. Peter Weiss‘ Hölderlin-Drama inspiriert hat, dieser Affäre mit detektivischer Akribie nachgegangen.
Fest steht, daß um jene Zeit, gegen Jahresende 1794, Wilhelmine Kirms ihrer Dienstherrin etwas beichten mußte, weil es sich nicht sehr viel länger verheimlichen ließ: sie trug etwas unter der Schürze. Es ist nicht bekannt, ob sie Frau von Kalb auch gesagt hat, wer der Urheber der Schwangerschaft sei. Sonderlich viele Männer kamen dafür an dem mit Hölderlins Worten “ziemlich einsamen” Ort nicht in Frage. Hat womöglich der vierzigjährige Major von Kalb, schneidiger Veteran des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs, seinen militärischen Rauhbeincharme oder seine Macht als Dienstherr ausgenutzt? Die Hölderlin-Forschung und v.a. Bertaux haben auf einen anderen hinweisende Indizien zusammengetragen. Das vielleicht wichtigste und zugleich diskreteste von ihnen: Unmittelbar nach der Entlassung Wilhelmines folgt Charlotte von Kalb dem vorausgeschickten Sohn Fritz und seinem Lehrer Friedrich nach Jena. Zwei Anstandswochen läßt sie dort verstreichen, vorgeblich in dem Versuch, das inzwischen problematisch gewordene Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler in der veränderten Umgebung noch einmal zu bessern, doch nach Ablauf dieser zwei Wochen bekommt auch Hölderlin die Entlassungspapiere und kehrt nie wieder nach Waltershausen zurück.
Was war an Hölderlins Beziehung zu seinem Zögling so schwierig geworden? In einem neuerlichen Brief an Neuffer äußert er sich über seine Lehrertätigkeit: “Ich muß doch wohl gewissenhaften, oft sehr angestrengten Bemühungen Erfolg wünschen. Es muß mir also wehe tun, wenn dieser Erfolg beinah gänzlich mangelt, durch die sehr mittelmäßigen Talente meines Zöglings, und durch eine äußerst fehlerhafte Behandlung in seiner frühen Jugend, und andere Dinge, womit ich Dich verschonen will.”
Erst nach seiner Entlassung, am 19. Januar 1795, verschont er den Freund nicht länger: “Ich litt mehr, lieber Neuffer! als ich schreiben mochte. Ich sah, wie sich das Kind mit jedem Tage mehr verdarb... ich wagte meine Gesundheit durch fortgesetzte Nachtwachen, denn das machte sein Übel nötig.” Neuffer und den Zeitgenossen war damit genug gesagt. Das kleine Früchtchen Fritzchen betätigte sich anscheinend allabendlich fleißig der bekanntlich schädlichen Onanie, die damaligen Pädagogen zufolge zu Epilepsie oder Stumpfsinn oder auch Rückenmarksschwindsucht u.ä.m. führt. Als verantwortungsbewußter Erzieher suchte Hölderlin diese verderbliche Sucht mit allen erdenklichen Mitteln zu verhindern und ruinierte sich durch Schlafmangel Geduld und Nerven und verhielt sich am Ende dem Jungen gegenüber so hart, daß die besorgte Mutter mit beiden unter ihrer Aufsicht nach Weimar ging und den gescheiterten Erzieher nach erfolgloser Probezeit zum Schutz des Kindes “in gegenseitigem Einverständnis” entließ. Fortgesetzte Onanie als Kündigungsgrund.

Bertaux fand das auch nicht sehr überzeugend und las die Briefe noch einmal genauer. In dem Hölderlins an Neuffer gleich nach der Entlassung steht noch: “In Waltershausen hatt ich im Hause eine Freundin, die ich ungerne verlor, eine junge Witwe aus Dresden, die jetzt in Meiningen Gouvernante ist. Sie ist ein äußerst verständiges, festes und gutes Weib, und sehr unglücklich durch eine schlechte Mutter. Es wird Dich interessieren, wenn ich Dir ein andermal mehr von ihr sage, und ihrem Schicksal.”
Das tat Hölderlin leider nicht, aber nur eine Woche später bat er seine Mutter brieflich um Geld und zwar, obwohl ihn die Frau von Kalb in ihrem “ganzen edlen Sinn” “noch mit Gelde auf ein Vierteljahr” versehen hatte, um keine unbedeutende Summe, nämlich “sieben bis zehn Carolin”, was umgerechnet über hundert Gulden oder mehr als zwei Drittel seines Jahresgehalts in Waltershausen ausmachte. Wozu brauchte Hölderlin, der sich immer schwer tat, von seiner Mutter Geld aus seinem väterlichen Erbteil zu erbitten, diese Summe? Auch diesmal entschuldigte er sich, er hätte nicht um so viel gebeten, “wenn ich nicht noch einen kleinen Posten in Meiningen zu bezahlen hätte.” - In Meiningen, sieh an.
Im Juli desselben Jahres brachte Wilhelmine Kirms in Meiningen ein kleines Mädchen zur Welt, das auf den Namen Louise getauft wurde. Der Name des Vaters war in den Bekanntenkreisen der Familie von Kalb ein offenes Geheimnis. Zwei Jahre später, Hölderlin lebte in Frankfurt heimlich sein seliges Verhältnis mit Susette Gontard, schrieb der Frankfurter Kaufmann Ernst Schwendler der mit ihm befreundeten Hofrätin Heim in Meiningen: “Hölderlein habe ich vor 14 Tagen in einem Concert gefunden... und lange mit ihm gesprochen, nur nicht von der Kirms. Ich glaube ohnedies, daß er mich vielleicht, wenn er vermutet, daß ich etwas davon weiß, lieber 10 Meilen weiter gewünscht hat.”

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Aufklärung
nenne ich das! Hölderlin und das richtige Leben. Meiner Bequemlichkeit wegen: Haben Sie für mich den Titel des Bertaux-Buches?

Bei der Gelegenheit: Eine interessante Erzählung, gleichwohl mit gänzlich anderer Perspektive, hat Hellmut G. Haasis geschrieben – Hölderlin im Funkhaus.

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Friedrich Hölderlin
heißt das Buch von Pierre Bertaux ebenso schlicht wie anspruchsvoll. 1978 erstmals bei Suhrkamp erschienen, seit 1981 dann auch als suhrkamp taschenbuch (Nr. 686), und knappe 730 Seiten stark. Ich wünsche Ihnen, daß es noch lieferbar ist. Die zentrale Hypothese, H. habe seine geistige Verwirrung mehr als dreißig Jahre lang nur simuliert, um in Ruhe gelassen zu werden und politischer Verfolgung zu entgehen, ist zwar nach wie vor kaum glaubhaft, aber das Buch ist ein sehr anregendes, stellenweise leidenschaftliches Plädoyer, das wahrlich aus intimer Vertrautheit mit Hölderlin und seinem Werk geschrieben wurde.

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Bei Suhrkamp
befindet es sich im Angebot, als Insel-Taschenbuch.

Ich danke Ihnen.

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