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Freitag, 8. Oktober 2010
Ich schreibe wie...
Konnte natürlich auch nicht widerstehen und habe den Schreibtest bei der FAZ gemacht. - Das Ergebnis? Himmelschreiend!
O nein! Nicht ausgerechnet wie der!

Thomas Mann


Als Lackmustest und Gegenprobe ein anderer Abschnitt aus dem gleichen Text. Das Testergebnis, obwohl kaum vorstellbar, noch schlimmer. Geradezu Niederschmetternd!

Friedrich Schiller


Eine Ehrenrettung mußte her. Darum noch einen dritten Abschnitt eingereicht und - nach der neuesten Preisverleihung - befürchtet, es könne am Ende gar ein Vargas Llosa dabei herauskommen. Aber es werden ja nur deutsche Autoren berücksichtigt. Darum ging's endlich glimpflicher aus. The final result:

Uwe Johnson


1 Text, 1 Test, 3 (dermaßen unterschiedliche) Ergebnisse. Daraus folgt: Computerlogarithmen taugen zu einer stilistischen Textanalyse etwa so viel wie zum Übersetzen, nämlich gar nicht. Danke, FAZ, für diesen Augenöffner.

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Donnerstag, 19. August 2010
Das Reisen und “der herzlos gefräßige Popanz des ‘Staates’”
Reisen war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die vielen natürlich längst nicht so selbstverständlich wie heute. In seiner enzyklopädischen Schilderung jener Welt von gestern hielt der Wiener Stefan Zweig, der immerhin Sohn eines reichen Textilfabrikanten und einer Bankierstochter war, fest: “Während meiner ersten zwanzig Jahre habe ich so gut wie nichts von der wundervollen Umgebung Wiens gesehen”, von dem, was noch ferner lag, ganz zu schweigen. Umso ausgiebiger holte Zweig das Reisen später nach, besuchte Ceylon, Indien und Südostasien, Kanada, die USA und Kuba, alles noch vor dem Ersten Weltkrieg. Reisebeschränkungen scheinen kaum existiert zu haben, sofern man das nötige Kleingeld besaß. Zweig hatte es, und ihm waren das Privileg und die dadurch erreichbare Freiheit zumindest im Rückblick ganz bewußt:
“Wir haben mehr Freiheit im staatsbürgerlichen Sinne genossen als das heutige Geschlecht... Wir vermochten kosmopolitischer zu leben, die ganze Welt stand uns offen.”
Wir halten ja gemeinhin unsere eigene Zeit für die mit den größten Reisemöglichkeiten jemals, und im Hinblick darauf, was finanziell erreichbar ist, trifft das für die große Masse auch sicher zu. Wenn ich aber an das mittlerweile errichtete Maß an Kontrollen und Schikanen beim Reisen denke, kann ich über die Freizügigkeit damals, wie Zweig sie kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rückblickend im englischen Exil schilderte, nur fast ungläubig staunen:
“Wir konnten reisen ohne Paß und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte, niemand examinierte uns auf Gesinnung, auf Herkunft, Rasse und Religion. Wir hatten tatsächlich – ich leugne es keineswegs – unermeßlich mehr individuelle Freiheit”. (Die Welt von gestern, S.111)
Reisen ohne Paß – das soll man heute besser nicht versuchen, wenn man nicht aus einem Schengen-Land kommt oder den EU-Raum überschreiten will. Damals war es möglich, und auch Ernst Jünger machte Ende der Zwanziger Jahre von dieser Freiheit Gebrauch, obwohl schon zunehmend ein anderer Geist fast überall Einzug hielt. Dazu ein letztes Mal Stefan Zweig:
“Europa wird für Jahrzehnte nicht mehr sein, was es vor dem Ersten Weltkrieg gewesen... gibt es doch keine Nation in unserer kleinen Welt des Abendlandes, die nicht unermeßlich viel ihrer einstigen Lebenslust und Unbefangenheit verloren hätte... Die Russen, die Deutschen, die Spanier, sie alle, sie alle wissen nicht mehr, wieviel an Freiheit und Freude der herzlos gefräßige Popanz des ‘Staates’ ihnen aus dem Mark der innersten Seele gesogen.”
Die Kritik am modernen Staat teilte Jünger mit Zweig, auch wenn sie politisch in völlig verschiedenen Lagern standen, doch wurde Jüngers politische Publizistik zugunsten einer nationalen Revolution gegen Ende der Zwanziger Jahre stiller, er erkannte Widersprüche im rechten Lager und Unvereinbarkeiten, und er sah bereits 1929 die Machtübernahme der Nazis klar voraus. Im September dieses Jahres schrieb er einen Brief an Bruno von Salomon, damals Chefredakteur der Zeitung der schleswig-holsteinischen "Landvolkbewegung", der wenig später aber der KPD beitrat und in Spanien in den Internationalen Brigaden gegen Franco und für die Republik kämpfen sollte. Ihm schrieb Jünger am 10.9.29: “Es ist sehr gut, daß die Gegensätze bereits sichtbar werden, die den Nationalismus in unserem Sinne von der extremen Rechten trennen. Ohne Zweifel wird diese einmal ans Ruder kommen”.
Nein, es hieße den Bogen überspannen, wenn man behauptete, Jünger sei aus Gründen politischer Frustration auf Reisen gegangen, aber Elemente eines Rückzugs aus dem politischen Engagement und einen Weg zu erhöhter Reflexion und Selbstbesinnung enthalten seine ersten Reisen durchaus, und es ist wohl auch keine rein zufällige Koinzidenz, daß er gerade in und seit jenem Jahr ‘29 häufiger ins Ausland reiste, 1929 nach Frankreich und nach Italien und Sizilien, 1931 auf die Balearen, 1932 nach Jugoslawien, 1935 nach Norwegen, 1936 zu Schiff über Marokko und die Kanaren nach Brasilien, 1938 Rhodos.
Zuhause in Deutschland geriet er während dieser Zeit immer mehr in Gegensatz zu den Nationalsozialisten, weil er sich expressis verbis weigerte, sich von Goebbels Propagandamaschine vereinnahmen zu lassen. Kaum hatte die NSDAP die Regierungsgewalt übernommen, veranstaltete die Polizei in Jüngers Berliner Wohnung eine Durchsuchung. “Es war eine wohltätige Impfung, eigentlich mehr ein acte de présence der neuen Autorität”, spielte Jünger sein Erschrecken herunter, doch anschließend verbrannte er sicherheitshalber “Tagebücher seit 1919, Gedichte, Briefwechsel... Man mußte Ballast abwerfen.”
Anfang Dezember ‘33 verließen die Jüngers Berlin und tauchten nach Goslar in die tiefste Provinz ab. “Ich habe augenblicklich ein hohes Stadium der Langeweile erreicht”, notierte er dort in seinem Briefjournal. “Im übrigen fand ich Berlin so amüsant wie die Residenz des Königs Pest.” Doch auch im langweiligen Goslar ließ ihn das Regime nicht in Ruhe, 1934 fand auch dort eine Hausdurchsuchung statt, eine dritte 1940 in Kirchhorst. Wie von ihm nicht anders zu erwarten, ließ sich Jünger aber nicht einschüchtern. Als das Parteiblatt der regierenden Nazis, der mächtige Völkische Beobachter, einen Text von ihm ohne seine Genehmigung abdruckte, schrieb er an die Redaktion: “Es muß der Eindruck entstehen, daß ich Ihrem Blatte als Mitarbeiter angehöre. Dies ist keineswegs der Fall... Mein Bestreben läuft nicht darauf hinaus, in der Presse möglichst oft genannt zu werden, sondern darauf, daß über die Art meiner politischen Substanz auch nicht die Spur einer Unklarheit entsteht.”
Das war mehr als deutlich. Und in den Neubearbeitungen seiner bereits erschienenen Schriften war die Tendenz nicht weniger eindeutig. In einer Neuauflage der Stahlgewitter 1934 hat Jünger u.a. den früher enthaltenen Satz: “Deutschland lebt, und Deutschland soll nicht untergehen” und weitere dieser Art gestrichen. Er kommentierte die Streichungen 1940 in einem Brief an einen Freund aus seinem Bunker am Westwall: “Mein Ehrgeiz, soweit er sich auf militärische Dinge richtet, ist heute erloschen; und damit lebe ich in einem Zustande der Selbstgenügsamkeit. Ich bin zufrieden, wenn man mich weder bedrückt noch auszeichnet, und fechte aus einem Bedürfnis nach Sauberkeit. Wo gefochten wird, darf man noch hoffen, am wenigsten jenen Menschen zu begegnen, deren Nähe mir so widrig ist. Ich habe schon das Wort ‘deutsch’ aus allen meinen Büchern gestrichen, damit ich es nicht mit jenen teilen muß.”
Am 14. Februar 1933 schloß der neue preußische Kultusminister Rust (NSDAP) Heinrich Mann und Käthe Kollwitz aus der Preußischen Akademie der Künste aus, weil sie einen Wahlkampfaufruf für ein Zusammengehen von SPD und KPD unterzeichnet hatten. Am 28. Februar 1933 brannte in Berlin der Reichstag. Noch am gleichen Tag erließ die gerade gewählte Regierung Hitler eine “Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Akte”, in der die Grundrechte der Weimarer Republik weitgehend aufgehoben wurden. Am 23. März folgte das Ermächtigungs-“Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich”, am 31. desselben Monats verabschiedete die Regierung das 1. Gleichschschaltungsgesetz, das auch gleich für eine deutliche Nazifizierung der Preußischen Akademie genutzt wurde. Wer von den Mitgliedern keine Erklärung unterschrieb, der Akademie „unter Anerkennung der veränderten Lage“ zur Verfügung zu stehen, wurde zum Austritt gedrängt. Anfang November ‘33 wählte eine sogenannte “neue Garde” von Akademie- und Parteimitgliedern Ernst Jünger in die Akademie. Mit seiner Antwort auf die erfreute Mitteilung ließ er sich eine Woche Zeit. Am 16. November ‘33 teilte er dann schriftlich mit: “Ich beehre mich Ihnen mitzuteilen, daß ich die Wahl in die Deutsche Akademie der Dichtung nicht annehmen kann... Im besonderen fühle ich mich verpflichtet, meine Anschauung über das Verhältnis zwischen Rüstung und Kultur, die ich im 59. Kapitel meines Werkes über den Arbeiter niedergelegt habe, auch in meiner persönlichen Haltung zum Ausdruck zu bringen.”
Die betreffende Stelle im Arbeiter lautet: “Wie weit man auch zurückgehen möge, man wird schwerlich auf eine so peinliche Mischung von Abgedroschenheit und Überhebung stoßen, wie sie in den offiziellen Staatsansprachen mit ihrer unvermeidlichen Berufung auf die deutsche Kultur üblich geworden ist.”

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Sonntag, 15. August 2010
Das abenteuerliche Herz
Schuchowturm, Moskau 1922 Jenseits der Grenzen der Klarheit auf die Suche nach dem Wunderbaren gehen. Das nenne ich ein Programm, aus dem ein spannendes Buch hervorgehen kann. “Gegenstücke des Magnetbergs” will es finden, “geistige Zentren von so abweisender Kraft, daß sie dem gewöhnlichen Sinn unnahbarer und unbekannter als die Rückseite des Mondes sind”, und zu denen dem Erzähler ein alter Lehrer einst die Wege zeigte. Doch unbekannt sind viele Jahre später der Lehrer und die Wege zu ihm.
“Daß ich ihn fast ganz vergaß, liegt daran, daß er hinter sich die Spur zu löschen liebte wie ein Tier, das im innersten Dickicht haust... Auch Schuttplätze waren in das Viertel eingesprengt, in deren Zäune der bittersüße Nachtschatten seine Ranken flocht, während auf ihren Halden der Flughafer gilbte und der Stechapfel die weißen Kelchfähnchen im Abendwinde schaukelte. Noch waren hier weder Laternen noch Straßenschilder angebracht, und so kam es wohl, daß ich oft in die Irre ging. In der Erinnerung nun vergrößern sich diese Irrwege auf unentwirrbare Art, so daß es mir fast scheint, als ob er inmitten eines Archipels auf einer Insel gewohnt hätte, und zwar auf einer solchen, der kein Schiff sich zu nähern vermag, weil die Abweichung allen Berechnungen trotzt.”
(Wenn das keine schöne, rhythmische Prosa ist.)
“Unter der Schleife verstand er eine höhere Art, sich den empirischen Verhältnissen zu entziehen. So betrachtete er die Welt als einen Saal mit vielen Türen, die jeder benützt, und mit anderen, die nur wenigen sichtbar sind... Sie gleichen Fugen im groben Bau der Welt, die nur das feinste Vermögen zu durchgleiten vermag, und alle, die sie je durchschritten, erkennen sich an Zeichen von geheimer Art. Wer so die Schleife zu beschreiben weiß, genießt inmitten der riesigen Städte die herrliche Windstille der Einsamkeit. – Hier wird leichter gedacht; im unfaßbaren Augenblick erntet der Geist Früchte ein, die er sonst durch jahrelange Arbeit nicht gewinnt... Hier findet der Mensch die rechten Maße, an denen er sich zu prüfen hat, wenn er am Scheidewege steht.”
Ich denke, die Lage ist klar: da ist jemand auf dem Weg, weg aus der Alltagswirklichkeit seiner Gegenwart, und will sich gerade “den empirischen Verhältnissen” entziehen.
Wie er die Gegenwart damals empfand, hat Jünger gleich in mehreren seiner dunklen Capriccios im Abenteuerlichen Herzen beschrieben (“nächtliche Scherze, die der Geist ohne Regung wie in einer einsamen Loge, und nicht ohne Gefährdung genießt.”)
“Ich trat in ein üppiges Schlemmergeschäft ein, weil eine im Schaufenster ausgestellte, ganz besondere violette Art von Endivien mir aufgefallen war. Es überraschte mich nicht, daß der Verkäufer mir erklärte, die einzige Sorte Fleisch, für die dieses Gericht als Zukost in Frage käme, sei Menschenfleisch...
Es entspann sich eine lange Unterhaltung über die Art der Zubereitung, dann stiegen wir in die Kühlräume hinab... Die Hände, Füße und Köpfe waren in besonderen Schüsseln ausgestellt und mit kleinen Preistäfelchen besteckt. Als wir die Treppe wieder hinaufstiegen, machte ich die Bemerkung: ‘Ich wußte nicht, daß die Zivilisation in dieser Stadt schon so weit fortgeschritten ist‘.”
Zivilisation – damals nicht nur bei Jünger keineswegs positiv besetztes Wort, sondern in Deutschland seit Kant und besonders bei Spengler programmatisch negativer Gegenbegriff zu Kultur: Zivilisationen „sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit […] Sie sind ein Ende” (Untergang des Abendlands), das Ende der Kultur. Zivilisation, darunter verstand man in Deutschland besonders die äußerlichen Errungenschaften von Fortschritt und Technik, die mit den Menschen etwas ganz anderes anstellten, als sie zu Freiheit und Kultur zu bringen. “Wie eine rasende Pest hatte die Mechanisierung des Menschen Europa zur Wüste gewandelt”, brachte Jünger bereits 1923 in seiner Erzählung Sturm sein Fazit der Moderne und ihres Kulminationspunkts, des Weltkriegs, auf den Punkt. 1932 beschrieb er in einem seltsam befremdlichen Essay mit dem Titel Der Arbeiter die Lebensbedingungen von Menschen, die entindivualisiert und zu Teilen von Maschinen zugerichtet worden waren: “Typen”. Im Abenteuerlichen Herzen kehren ähnliche Gedanken in literarischem Gewand als Nachtstücke wieder. Man lese darin nur einmal In den Wirtschaftsräumen, in denen ein Rad “mit langsamen, ruckartigen Drehungen” Treibriemen und Blasebälge antreibt, die Feuer in Schmiedeessen fachen, während Menschen vor der Folterung stehen. Oder das Lied der Maschinen:
“Hier empfand ich wieder, was man hinter dem Triebwerk des Flugzeugs empfindet, wenn die Faust den Gashebel nach vorne stößt und das schreckliche Gebrüll der Kraft, die der Erde entfliehen will, sich erhebt; oder wenn man nächtlich sich durch zyklopische Landschaften stürzt, während die glühenden Flammenhauben der Hochöfen das Dunkel zerreißen und inmitten der rasenden Bewegung dem Gemüte kein Atom mehr möglich scheint, das nicht in Arbeit ist. Hoch über den Wolken und tief im Inneren der funkelnden Schiffe, wenn die Kraft die silbernen Flügel und eisernen Rippen durchströmt, ergreift uns ein stolzes und schmerzliches Gefühl – das Gefühl, im Ernstfall zu stehen. Das Bild dieses Ernstfalles ist schwer zu fassen, weil die Einsamkeit zu seinen Bedingungen gehört, und stärker noch wird es verschleiert durch den kollektiven Charakter unserer Zeit.”
Schuchowturm Das erinnert nicht von ungefähr an Marinettis zwanzig Jahre älteres Futuristisches Manifest: “Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.
Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.”


Aber Jünger steht der Entgrenzung der Technik alles andere als begeistert optimistisch gegenüber, er ist viel ambivalenter, denn Jünger und Marinetti trennt die Erfahrung des Weltkriegs. Gerade Kriegserlebnisse wie die Stille “unmittelbar nach der Erstürmung des ersten Grabens” beschreibt Jünger als Geburtsmomente eines “anschaulichen Skeptizismus”, der viel gefährlicher sei als der theoretische der Philosophen. Die Grundstimmung der oft surrealistischen Träume Jüngers ist düster, als äußerste “Schleife”, die jedem offenstehe, wird der Freitod genannt – “Und doch gibt es Augenblicke, in denen das Lied der Maschinen, das feine Summen der elektrischen Ströme, das Beben der Turbinen, die in den Katarakten stehen, und die rhythmische Explosion der Motore uns mit einem geheimeren Stolze als mit dem des Siegers ergreift.”

Als Jünger in den Zwanziger Jahren an der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens schrieb, bastelte zeitgleich in Jüngers Heimatstadt Hannover Schwitters an seinem Merzbau, und Wladimir Schuchow konstruierte in Moskau seinen ersten, ohne Vorbild dastehenden hyperboloiden Radiosendeturm. Die Welt befand sich nach den katastrophalen Zusammenbrüchen im Gefolge des Ersten Weltkriegs in vielen Bereichen im Umbruch, in der Phase der Revolution, der Experimente. Das Alte war als morsch, brüchig und überlebt in sich zusammengefallen oder weggefegt worden, Aufbruch war das Gebot der Stunde, in der Entwicklung von Technik ebenso wie im Gesellschaftlichen, ohne daß die Menschen im einzelnen schon genau wußten, wo es nun langgehen sollte, und fast chaotisch alle möglichen Richtungen ausprobierten.
“In unserer Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst streiten wir als ›Wilde‹, nicht Organisierte gegen eine alte, organisierte Macht. Der Kampf scheint ungleich; aber in geistigen Dingen siegt nie die Zahl, sondern die Stärke der Ideen. Die gefürchteten Waffen der ›Wilden‹ sind ihre neuen Gedanken; sie töten besser als Stahl und brechen, was für unzerbrechlich galt.”
So hatte Franz Marc schon vor dem Krieg in seinem Almanach Der Blaue Reiter ganz repräsentativ für viele Zweifelnde und Denkende und für seine Zeit geschrieben und die Hoffnung formuliert, “daß abseits all dieser im Vordergrunde stehenden Gruppen der ›Wilden‹ manche stille Kraft in Deutschland um dieselben fernen und hohen Ziele ringt, und Gedanken irgendwo im stillen reifen, von denen die Rufer im Streite nichts wissen.” Jünger darf man im Bereich der Literatur durchaus zu den Wilden der Epoche zwischen den Weltkriegen zählen. “Der Abenteurer ist ein Kontrast des Lebens; wir atmen schneller, der Tod rückt näher”, schrieb er damals.
Doch weil ihm die Veränderungen nicht schnell genug oder bald in die falsche Richtung zu gehen schienen, tat er, was man in solchen Situationen tut, er zog sich aus dem aktiven politischen Leben zurück und machte sich auf die Suche, zog mehrfach um, ging auf Reisen, auf die Reisen eines abenteuerlichen Herzens.

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Freitag, 30. Juli 2010
"Die Sehnsucht nach der großen Gefahr"
“Paris, 27. Mai 1944
Alarme, Überfliegungen. Vom Dache des Raphael sah ich zweimal in Richtung von Saint-Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen... Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird.”
(Am nächsten Morgen, dem Pfingstsonntag, beendete er “die erste Gesamtlesung der Bibel, mit der ich am 3. September 1941 begann.”) Jüngers selbst noch in den Tagebüchern in kristallinen Granit gemeißelte Prosa hinterläßt manchmal den Eindruck, er habe auch beim Schreiben die Uniform oder Gehrock und Vatermörder nicht ausgezogen, aber ich glaube, zumindest für den Jünger vor dem Zweiten Weltkrieg gilt, daß ihm seine stets formvollendet perfekte, kalt brillierende Sprache ein notwendiges Korsett, eine für den wild funkelnden Kristall seines Geistes notwendige Fassung gewesen ist. Denn im Grunde seines Herzens war (und blieb) Jünger ein aufbegehrender (später sich entziehender) Rebell und Abenteurer.
Schon als Junge entwickelte er sich aus Widerwillen gegen das autoritäre, Kadavergehorsam verlangende preußisch-wilhelminische Schulwesen zu einem verstockten, schlechten Schüler, den die Eltern mehrfach gezwungenermaßen von der Schule nahmen, die er selbst nur als “Presse” bezeichnete. Über die gnadenlose Anpassungs- und Unterdrückungsmaschinerie des Schulwesens seiner Kindheit schrieb er noch mit über achtzig Jahren den Erziehungsroman Die Zwille, in dem sich Kapitel mit Überschriften wie “Die Daumenschraube” finden.
Diese Prägung durch die preußischen Schulanstalten bestimmten zum Teil auch das Bild, das er sich von seinem die Familie patriarchalisch streng regierenden Vater machte. Mit 17 erfolgte der Ausbruch. Von dem Kost- und Schulgeld für ein halbes Jahr kaufte er sich einen Revolver, Stanleys Geheimnisse des dunklen Erdteils und eine Eisenbahnfahrkarte nach Frankreich. In Verdun meldete er sich zur Fremdenlegion. Von Marseille erfolgte die Verschiffung nach Oran und der Weitermarsch zum Ausbildungslager in Siddi-Bel-Abbès. Von dort versuchte Jünger zu desertieren, um auf eigene Faust ins “wilde Afrika” zu entkommen, doch wurde er geschnappt und eingebunkert. Der Vater bat unter Hinweis auf die Minderjährigkeit des Sohnes das Auswärtige Amt um eine diplomatische Intervention, und einen Monat nach dessen Flucht telegraphierte er:
“Franzoesische Regierung hat deine Entlaszung verfuegt. Lasz dich photographieren.”

Der nächste Ausbruch erfolgte kein Jahr später, doch teilte Jünger ihn diesmal mit sehr, sehr vielen jungen Männern seiner Generation: “Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr”, hielt er in den Stahlgewittern das Motiv vieler fest, die sich wie er bei den Mobilmachungen zum Ersten Weltkrieg freiwillig meldeten. “Ein rascher Ausflug ins Romantische sollte es sein”, gab Stefan Zweig in der Welt von Gestern die anfängliche Stimmung wieder. Herausgehoben haben Jünger aus den Millionen Kriegsfreiwilliger sein unbestreitbarer persönlicher Mut als Stoßtruppführer in den Schützengräben und die Kaltblütigkeit, mit der er noch in den vordersten Linien stets seine Notizbücher führte. “Ich glaubte ins Herz getroffen zu sein”, beschreibt er eine seiner eigenen Verwundungen.
“Im Stürzen sah ich die weißen, glatten Kiesel im Lehm der Straße; ihre Anordnung war sinnvoll, notwendig wie die der Sterne und verkündete große Geheimnisse. Das war vertraut und wichtiger als das Gemetzel, das mich umgab.”
Er überlebte diese Verwundung ebenso wie etliche weitere, als letzte einen Lungenschuß, den er im August 1918 erhielt. “In diesem Kriege, in dem bereits mehr Räume als einzelne Menschen unter Feuer genommen wurden, hatte ich es immerhin erreicht, daß elf von diesen Geschossen auf mich persönlich gezielt waren”, zog er in den Tagebüchern bei Kriegsende eigenwillig Bilanz.
Daß ein Mann, der so aus den “Stahlgewittern” des Weltkriegs hervorging, auch später unerschrocken blieb, kann man sich vorstellen; und so ließ er sich auch von aufsteigenden politischen Gewalthabern nicht leicht ins Bockshorn jagen. Wie er sich die Nazigrößen vom Leib hielt und sich von ihnen trotz anfänglich zum Teil in gleiche Stoßrichtung zielender Einstellungen nicht vereinnahmen ließ, nachdem er einmal ihre Schuftigkeit erkannt hatte, gehört meiner Meinung nach zu seinem mutigsten Verhalten.
Ebenfalls Mut erforderten seine teils abrupten Wendungen als Schriftsteller. Zunächst einmal die Entscheidung, statt einer gesicherten Laufbahn als Berufsoffizier plötzlich auf die ungesicherte Existenz eines freiberuflichen Schriftstellers umzusatteln. Immerhin hatte er sich bereits einen gewissen Namen als Kriegsschriftsteller gemacht, doch mit seinem ersten literarischen Werk stieß er sehenden Auges genau diese Leserschaft provozierend vor den Kopf. Programmatisch sein Titel:


Leser, die es aufschlugen, fanden darin statt einer weiteren Fortsetzung kriegerischer Abenteuer auf einmal ganze Kapitel über “Das Rotschwänzchen” oder “Violette Endivien” und seitenlange, glühende Beschreibungen von Zinnien und anderen Zimmerpflanzen.
“Den tiefsten Eindruck erwecken diese Blumen dort, wo sie die Farben glühender Metalle nachahmen, und das vor allem bei jenen Arten, die sich zu Kolben ausstrecken. Zwar fehlt ihnen das Grelle, Raketenhafte, das manche Hyazinthen, und vor allem die Kniphofia, auszeichnet, doch dafür prägen sich die späten Formen der Glut in ihnen aus, bei denen die Wärme das Licht überwiegt. Dann scheint sie ein glühender Rausch zu umzittern, oder es geht das bunte Glosten frisch gegossener Metallkerne von ihnen aus. In mannigfaltigen Spielarten spinnt sich das Motiv des langsam erkaltenden Erzes aus, indem helle Randfarben konzentrisch abdunkeln. Dergleichen Anblicke rufen eine lebhafte und fast schmerzliche Freude hervor, indem das Herz durch glühende Berührung an die Verwandtschaft mit der Erde erinnert wird.”
Fast mystisch glüht der kühle Kriegsberichterstatter in solch rauschhaften Blütenträumen auf, und sein Biograph hat das ganze Büchlein als “Generalangriff auf das cartesianische Denken” bezeichnet. Jünger selbst beschrieb, was ihn damals ritt, in einem Sizilischen Brief an den Mann im Mond so: “Wer vom Zweifel geschmeckt hat, dem ist bestimmt, nicht diesseits, sondern jenseits der Grenzen der Klarheit nach dem Wunderbaren auf Suche zu gehen.” – Ein Grenzgänger, einer, der Grenzerfahrungen suchte, ist Jünger in vielem sein Leben lang geblieben; am augenfälligsten vielleicht in seinen Drogenexperimenten, in denen er noch als Endfünfziger mit dem Erfinder des LSD auf ein paar Trips ging.

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Samstag, 24. Juli 2010
“... mit meiner Wildheit identisch.”
Jünger hätten solch archaisch-elementare Geschichten wie die Kinder der Finsternis gefallen, ihr Ausgraben uralter magischer Praktiken und Rituale, alter Heilzauber, die Erdverbundenheit, das aus all dem hervortretende scheinbar Überzeitliche, das das Akzidentielle der flüchtigen, häßlichen Gegenwartsphänomene transzendiert, der uralte, unwandelbare Kern hinter den Oberflächenerscheinungen, all das hätte ihn sicher sympathetisch angesprochen. Genau danach hat er sich als einer unter Zigtausenden entwurzelter Kriegsheimkehrer nach 1918 auf die Suche gemacht. Er war mit dem höchsten militärischen Orden, dem Pour le mérite, dekoriert worden, und seine Kriegstagebücher In Stahlgewittern, zu deren Bearbeitung für den Druck ihn der Vater zwecks Beschäftigungstherapie überredet hatte, wurden ein überraschender Bucherfolg, aber er selbst steckte nach dem verlorenen Krieg und der Abschaffung des Kaiserreichs samt allen verbürgt geglaubten Wertvorstellungen orientierungslos in einer tiefen geistigen und Selbstfindungskrise. “Ich bin nun 25 Jahre alt geworden und habe beschlossen, mich etwas resoluter in die Hand zu nehmen. Ich bin reichlich zersplittert”, schrieb er in seiner, was Gefühlsdinge und innere Zustände anging, stets reichlich unterkühlten Art nach mehr als einem Jahr depressiven Herumhängens, übermäßigen Trinkens und Selbstmordgedanken 1920 an die Eltern. Er war inzwischen wieder Offizier, quittierte aber 1923 den Dienst, nahm halbherzig ein Studium auf, Biologie, das er zwei Jahre später schon wieder abbrach, um sich als Publizist und Schriftsteller zu versuchen. Literatur und Krieg gehörten für ihn zusammen, schreibt sein Biograph Paul Noack (dessen Buch mein kurzer Abriß hier die Fakten entnimmt) über diese Phase, “weil beide den zivilisatorischen Firnis zerschlugen und ein anderes, ursprünglicheres Dasein freisetzten. Aus ihm erwächst jenes starke, durch nichts gezügelte, mit sich selbst identische Bewußtsein.”
"Wie ein Stück Eisen, zu welcher Form es immer verarbeitet sei, rein als Eisen in seinen Atomen mit sich identisch bleibt und den Wechsel der Stile in einem zeitloseren Sinne überdauert”, schrieb Jünger im Anklang an ein Wort Rimbauds, “so fühle ich mich mit meiner Wildheit identisch.”
Nichts war ihm in dieser inneren Verfassung verhaßter als die bürgerliche Gesellschaft und der “Riesen-Gemeinheits-Betrieb der Neuzeit”, wie es selbst ein Thomas Mann 1918 in seinem Tagebuch ausdrückte. Politisch-publizistisch geriet Jünger in ein oft mehr als bedenkliches bellizistisch-nationalistisches Fahrwasser, veröffentlichte seinen ersten politischen Artikel 1923 im Völkischen Beobachter, aber vor einem Freundeskreis, zu dem der Nationalbolschewist Ernst Niekisch ebenso gehörte wie der Anarchist Erich Mühsam oder der Kriegsgegner Ernst Toller, der für die Münchner Räterepublik eine Rote Armee aufgebaut hatte, hielt er Vorträge über Anarchie und Chaos. Selbst Tucholsky zollte ihm in mehreren Artikeln widerwillig öffentlich Anerkennung. Die politischen Einstellungen befanden sich in jenen Zwanziger Jahren in einer viel ungeklärteren Gemengelage, als man sich das aus unserer nachzeitlichen Perspektive so vorstellt. Der marxistische Sozialwissenschaftler Fritz Sternberg zum Beispiel, der mit Jünger bekannt war, erinnerte sich später, daß er in der Silvesternacht 1932 bei Bertolt Brecht zuhause mit Arnolt Bronnen und Ernst von Salomon auf einen erfolgreichen, unblutigen Rechtsputsch angestoßen habe. 1929 traf man sich zu unbürgerlichem Salon in der Wohnung von Jüngers Bruder Friedrich Georg. Niekisch kam mit seinem Illustrator A. Paul Weber (!), Otto Strasser vom “sozialrevolutionären” Flügel der NSDAP war ebenfalls zu Gast, Ernst Rowohlt brachte seinen amerikanischen Autor Thomas Wolfe mit, und Strassers ehemaliger politischer Zögling Goebbels humpelte auch herein.
Zu der Zeit war Jünger auch mit Hitler bekannt. 1923 hat er ihn bei einer Rede in einem Münchner Zirkus persönlich gehört. “Es war keine Rede, es war ein Elementarereignis”, hat er zwanzig Jahre später noch dazu gesagt und präzisiert: “Er zog Kräfte aus dem Unbestimmten, sammelte und reflektierte sie wie ein Hohlspiegel; er war ein Traumfänger.” 1926 hat Hitler dem bekannten Autor der Stahlgewitter mehrere Briefe geschrieben. “Er hatte auch einen Sitz im Reichstag für mich vorgesehen”, hat Jünger später dazu erläutert, aber er hat weder damals noch später je auf solche Annäherungsversuche reagiert. Goebbels, der Jünger ebenfalls umgarnte, war darüber nachhaltig verärgert. Jünger scheute sich nicht einmal, Goebbels öffentlich zu brüskieren. Als er zu einer Veranstaltung eingeladen war, auf der der inzwischen Reichstagsabgeordnete Goebbels sprechen sollte, stand Jünger während dessen Rede auf und verließ den Raum. Er “begab sich in eine nahe Weinstube, wo er hoffte, des üblen Nachgeschmacks der Goebbelsschen Worte mit Hilfe eines guten Trunkes Herr werden zu können”, hat Niekisch darüber festgehalten. “Später stellte sich auch Goebbels dort ein und zeigte sich tief beleidigt, ja empört.”
Jünger scherte das nicht, er hielt die Nazis damals für banale Kleingeister, die er bereits zu verachten begann. Zu welchen Vernichtungen die Banalität des Bösen noch imstande sein sollte, hat er an den Nazis anfangs nicht erkannt, das änderte sich nach ihrem Machtantritt (den er bereits 1929 voraussagte) allerdings rasch. Dazu braucht man nur seine im ersten Halbjahr 1939 geschriebenen Marmorklippen (und erst recht die späteren Tagebücher) zu lesen. Vorerst wandte sich Jünger Ende der Zwanziger Jahre zunehmend angeödet und angewidert von der Politik und von der bürgerlichen Gegenwart ab.
"Die Einsicht, daß ich in der Politik nichts zu tun habe, verdanke ich Adolf Hitler, er war mein politischer Mentor ex negativo... inmitten der von ihm entfachten Begeisterungsstürme fühlte ich, ganz abgesehen von ihrem Anlaß, ihrer Richtung und ihrem Inhalt, daß ich damit nichts zu tun hatte.”
(E. Jünger: Ausgehend vom Brümmerhof, 1974)

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Donnerstag, 1. Juli 2010
Der Entomologe
“Ich spreche natürlich von der Welt der großen Städte”, hielt Miller über sein Schreiben im Wendekreis des Krebses fest, “von der Welt der Männer und Frauen, denen die Maschine den letzten Tropfen Saft ausgepreßt hat.” Und wenig später, wir befinden uns im Jahr 1933, überfällt ihn die Vision einer neu heraufdämmernden Ära:
"The earth is moving out of its orbit, the axis has shifted; from the north the snow blows down in huge knife-blue drifts... A new day is dawning, a metallurgical day, when the earth shall clink with showers of bright yellow ore... at the periphery the light waves bend and the sun bleeds like a broken rectum. – More and more the world resembles an entomologist‘s dream.”
Nur wenige Jahre später sollte wirklich ein Entomologe, ein Käferbetrachter, seinen Einzug oder, genauer, seinen Einmarsch in Paris halten.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen Anfang September 1939 hatten, wie bekannt, die Westmächte England und Frankreich Hitlers Deutschem Reich den Krieg erklärt, ohne allerdings ernsthafte Kampfhandlungen aufzunehmen. Erst ein halbes Jahr später kam es zu einem militärischen Wettlauf zwischen Engländern und Deutschen um die Besetzung Norwegens, das die Wehrmacht binnen eines Monats zu ihren Gunsten entschied. Daraufhin befahl Hitler am 10. Mai 1940 den Angriff auf die Beneluxländer und Frankreich. Bei dem auf alliierter Seite für unmöglich gehaltenen deutschen Vorstoß durch die Ardennen („Les Ardennes sont impérmeables aux chars!“) führte auch ein schon im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Hauptmann seine Kompanie hinter den schnellen Panzerspitzen nach Westen. Am 23. Mai 1940 überschritt seine Infanterieeinheit die Grenze nach Luxemburg, zwei Tage später kampierten sie im belgischen Ardennenstädtchen Neufchâteau. “Die Stadt macht einen anarchischen Eindruck. Der größte Teil der Einwohner ist geflüchtet... Ich teilte Nachtstreifen zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein und unterrichtete die Mannschaft nochmals darüber, daß kein Grad der Zerstörung Übergriffe in Dingen des Eigentums rechtfertigen kann”, trug er in das Tagebuch ein, das er führte, so oft ihm der Vormarsch Zeit dazu ließ.
Einer seiner Offiziere hat später ergänzt, der Kompaniechef habe ihm damals eingeschärft: “Betreten Sie stets jedes Haus, als sei es Ihr eigenes, und denken Sie an die Möglichkeit, daß Sie in die gleiche Lage wie diese Unglücklichen kommen können.”
Am nächsten Tag passierten sie die Grenze zu Frankreich und erreichten Sedan, wo zwei Wochen vorher 60.000 Mann eines deutschen Armeekorps unter General Guderian auf einer Pontonbrücke die Maas überschritten hatten.
Das Ganze ist ein ungeheures Foyer des Todes, dessen Durchschreitung mich gewaltig erschütterte. In einem früheren Abschnitt meiner geistigen Entwicklung versenkte ich mich oftmals in Visionen einer völlig ausgestorbenen und menschenleeren Welt, und ich will nicht bestreiten, daß diese dunklen Träumereien mir Genuß bereiteten. Hier sehe ich die Idee verwirklicht und möchte glauben, daß, wenn auch die Soldaten fehlten, der Geist sehr bald gestört sein würde –
ich fühlte schon in diesen beiden Tagen, wie der Anblick der Vernichtung an seinen Angeln hob.”
cc) Wikipedia Mitte Juni, Paris war gerade von deutschen Truppen eingenommen worden, erreichte das Regiment des Hauptmanns das Dorf Montmirail in der Champagne, cirka hundert Kilometer östlich von Paris. “Montmirail ist das Schloß von Larochefoucauld, und es bedeutet für mich, zu dessen eiserner Ration seit langem auch die ‘Maximen‘ zählen, einen Akt der geistigen Dankbarkeit, zu erhalten, was zu erhalten ist. Daher ließ ich es gleich unter Bewachung stellen und begann mit der Aufräumung”, notierte der literarisch interessierte Infanteriehauptmann. Als der Abschluß des Waffenstillstands zwischen der Regierung Pétain und dem Deutschen Reich bekannt wurde, lag seine Kompanie in der geographischen Mitte Frankreichs, in Bourges.
“Das Haus, das ich bezogen habe, ist insofern angenehm, als es nur eine Gartenfront besitzt und schwer zu finden ist. Es liegt am Ufer der Yèvre, eines stillen und reich verzweigten Flüßchens, von dessen Grunde die Wasserpflanzen leuchten und das von überhängenden Bäumen beschattet ist. Vor der Veranda grünt ein Rasenplatz; er ist von dichten Büschen eingefaßt und gegen das Wasser durch eine Rampe von Schwertlilien geschirmt... In diesem stillen, wie von einer Wildnis eingerahmten Garten nehme ich mittags lesend ein Sonnenbad, und abends nach dem Essen befahre ich das Flüßchen, in dem Forellen spielen, mit dem Kanu.”
In dieser Idylle der Etappe kam er auch endlich dazu, seine unterwegs aufgesammelten Funde zu sortieren, die ihn vielleicht mehr als vieles andere erkennen ließen, daß er sich in einem fremden Land befand.
“Was mich betrifft, so lese ich manches davon auch an den Insekten ab, an ihren neuen Formen und an der Art, in der sich das Verhältnis der Gattungen verschiebt. Übrigens ordnete ich heute einige Prisen ein, die ich auf dem Vormarsch aufgriff.”
Moment! Da kämpfen auf einem riesigen Schlachtfeld, das von Rhein, Maas und Mosel bis an den Atlantik reicht, mehr als 5 Millionen Soldaten mit dem damals modernsten Vernichtungsgerät in einem verheerenden, bis dahin unvorstellbar rasant voranschreitenden Krieg, in dem in nur fünf Wochen mehr als 500.000 Soldaten fallen oder verwundet werden, da werden ganze Städte, wie Rotterdam, in Schutt und Asche gebombt mit Tausenden von zivilen Opfern, überall entlang der Vormarschstraßen herrschen Chaos und Vernichtung, stehen rauchende Trümmer, liegen verwesende tote Menschen und Tiere; und mittendrin sammelt ein Offizier auf dem Vormarsch Käfer und Schmetterlinge. Kann man sich das vorstellen? Ist das nicht zu grotesk und absurd, um wahr zu sein?
“Das Paradoxe solcher Geschäfte inmitten der Katastrophen ist mir nicht entgangen, doch fand ich es zugleich beruhigend – es verrät sich darin ein Vorrat an Stabilität, selbst der zivilisatorischen Verhältnisse. Außerdem habe ich seit 1914 im gefährlichen Raum zu arbeiten gelernt.” – Arbeiten. Meint er damit das “Handwerk des Krieges” oder das Käfersammeln? Leidet da jemand an einer posttraumatischen Belastungsstörung, oder ist er ein kaltschnäuziger Hund? Oder ist er tatsächlich so kaltblütig?
Persönlicher Mut bis zur Verwegenheit ist tatsächlich das Letzte, was man diesem Mann absprechen kann. Am Mittag seines 45. Geburtstags Ende März 1940 waren im Bereich seiner Kompanie, die noch am Westwall in Stellung lag, zwei Frontneulinge leichtsinnig aus der Deckung zum Rheinufer hinabgegangen und unter Feuer genommen worden. “Die beiden Artilleristen blieben auf der grünen Böschung liegen, die weithin sichtbar ist. Nachdem ich den Ort besichtigt hatte, beschloß ich, die beiden zu bergen... ich fühlte mich dazu aufgelegt.” Trotz heftigen Dauerbeschusses durch ein überschweres Maschinengewehr gelang es ihm, den einen von den beiden verletzt, aber noch lebend zu bergen. (Wenig später erhielt er zu seinen Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg für diesen mutigen Einsatz noch das Eiserne Kreuz verliehen. Auf seine Handlungen und Haltungen, die vielleicht noch sehr viel mehr Mut verlangten, komme ich später zu sprechen.) Immer wieder gab er in seinen Schriften der Überzeugung, die er nicht zuletzt in den Menschenmassen verschlingenden Materialschlachten des I. Weltkriegs gewonnen hatte, Ausdruck, daß auch der Einzelne nicht nur Erleidender eines Schicksals ist, sondern durch seine Haltung, seine Handlungen und vor allem durch seine geistige Einstellung die Verhältnisse um sich selbst mitgestaltet. Verwundet wurde er oft genug, allein im I. Weltkrieg elfmal, aber trotzdem (oder gerade deswegen) glaubte er offenbar an so etwas wie seine Aura persönlicher Unbesiegbarkeit, so lange er die entsprechende Haltung bewahrte. “Lehrreich” fand er den Vorfall, als ein französischer Soldat “im Priesterwalde, 1917 im Morgennebel, die Handgranate nach mir warf. Das bestärkte mich in dem Entschluß, mich niemals zu ergeben, dem ich bereits im Weltkrieg treu geblieben bin. In jeder Waffenstreckung liegt auch ein unverbesserlicher Akt, von dem die Urkraft des Kämpfers betroffen wird.”
Und noch im Frieden hielt er im Tagebuch für sich fest, es sei “sehr wichtig, daß man bei verdächtigen Renkontres, etwa wenn man im Wald angesprochen wird, die Sicherheit bewahrt. In unserer Eigenschaft als Menschen verfügen wir über Hoheitssiegel, die schwer zu brechen sind, wenn wir sie nicht selbst beschädigen... Man muß nur wissen, wie Marius, daß man unverletzlich ist.”
Der Zwischenfall am Rhein (und die anschließende Auszeichnung) machte ihm “übrigens die Spanne besonders deutlich, die für mich zwischen dem Ersten und diesem Zweiten Weltkrieg liegt. Damals die hohen Orden für die Erlegung von Gegnern, heute das Bändchen für einen Rettungsgang”, schrieb er am 23.6.40 ins Tagebuch. “Das Geheimnisvolle an solchem Wechsel liegt darin, daß er Veränderungen in unserem Innern entspricht - wir bilden uns die Welt, und was wir erleben, ist nicht dem Zufall untertan. Die Dinge werden durch unseren Zustand angezogen und ausgewählt: die Welt ist so, wie wir beschaffen sind. Jeder von uns vermag also die Welt zu ändern – das ist die ungeheure Bedeutung, die den Menschen verliehen ist. Und daher ist es auch so wichtig, daß wir an uns arbeiten.”
Der Appell klingt wie eine fast magische Beschwörung, vor allem wenn man weiß, daß der gleiche Mann eine Studie vorgelegt hat, in der er, wie Henry Miller oder die Futuristen, das 20. Jahrhundert als eine Epoche der Maschinisierung des gesamten Lebens zeichnete, die den Menschen weitgehend entindividualisiere. (Der Völkische Beobachter geiferte in seiner Rezension vom 23.10.1932, der Autor gerate allmählich in die “Sphäre der Kopfschüsse”.) Nichtsdestotrotz hat er den Appell, an sich zu arbeiten, immer wieder auch an sich selbst gerichtet, und in wesentlichen Dingen war er längst nicht mehr derselbe Mann, der wie Millionen andere voller Abenteuerlust freiwillig in den Ersten Weltkrieg gezogen war. Den Zweiten hat er niedergedrückt und voller Befürchtungen kommen gesehen. “Alle Zeichen deuten auf Krieg in kurzer Zeit”, notierte er ein halbes Jahr vor dem Überfall auf Polen und hielt danach oft genug Träume (von seiner eigenen Hinrichtung etwa) und Stimmungen in seinem Tagebuch fest, die deutlich genug von Sorge und Gedrücktheit bis hin zur Depression künden. Sein Tagebuch bleibt ihm “im totalen Staat das letzte mögliche Gespräch”, wie er später im Vorwort festhielt. “Das sind Notizen auf der Fahrt durch Meere, in denen der Sog des Malstroms fühlbar wird und Ungeheuer auftauchen.” Ausgerechnet die Wehrmacht scheint ihm fast als so etwas wie eine Zuflucht vor den Ungeheuern vorgekommen zu sein, und er mag sie für sich paradoxerweise als so etwas wie das ruhige Auge im Sturm empfunden haben. Jedenfalls solange der “Sitzkrieg” am Westwall noch nicht in Bewegung geraten war. “Mein Ehrgeiz, soweit er sich auf militärische Dinge richtet, ist heute erloschen; und damit lebe ich in einem Zustand der Selbstgenügsamkeit”, schrieb er im März 1940 einem Freund aus dem Gefechtsstand, seiner “Auwaldhütte” am Altrhein bei Iffezheim. Und ohne Rücksicht auf die Zensur der Feldpost fuhr er fort:
“Ich fechte aus einem Bedürfnis nach Sauberkeit. Wo gefochten wird, darf man noch hoffen, am wenigsten jenen Menschen zu begegnen, deren Nähe so widrig ist. Ich habe schon das Wort ‘deutsch‘ aus allen meinen Büchern gestrichen, damit ich es nicht mit jenen teilen muß.”

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Sonntag, 23. Mai 2010
and dynamite it was
Man beachte die Zeile ganz unten auf dem Umschlag der Originalausgabe:
“Not to be imported into Great Britain or the U.S.A.”
Zusammen mit der Banderole: ”Ne doit pas étre exposé en étalage ou en vitrine” hatte der Verleger selbst, Jack Kahane, Besitzer des in Paris ansässigen englischsprachigen Verlags Obelisk Press, die Warnung gleich vorweg ohne jede behördliche Auflage anbringen lassen. Tatsächlich verbot der US-Zoll die Einfuhr des Buchs. Der amerikanische Dichter Karl Shapiro erzählte in seiner Einleitung zur ersten amerikanischen Ausgabe, daß Miller kurz nach seinem Erscheinen von Frankreich nach England reisen wollte, aber von den Hafenbehörden dort festgesetzt und mit dem nächsten Schiff zurückgeschickt wurde. Vier Jahre später, nachdem die ersten Exemplare des zunächst schwer verkäuflichen Buchs als Schmuggelware doch in den USA aufgetaucht waren, wurde Tropic of Cancer in den Vereinigten Staaten als obszön gerichtlich verboten.
Na klar, Miller hatte es drauf angelegt, er wollte ein radikales Buch schreiben, und er wollte nichts auslassen und verschweigen. Am 25. August 1932 schrieb er seinem New Yorker Freund Emil Schnellock: "I start tomorrow on the Paris book: first person, uncensored, formless – fuck everything!"
And so he did, nicht bloß alles, sondern auch (fast) jede, und dabei beobachtete und beschrieb er jede Einzelheit.

“The eternal preoccupation: cunt... what do you think the crazy bitch had done to herself? She had shaved it clean... not a speck of hair on it. Did you ever have a woman who shaved her twat?
It‘s repulsive, ain‘t it?
And the more I looked at it the less interesting it became. It only goes to show you there‘s nothing to it after all, especially when it‘s shaved. It‘s the hair that makes it mysterious. That‘s why a statue leaves you cold. Only once I saw a real cunt on a statue - that was by Rodin.”

(Dies auch als kleiner Kommentar eines großen Connaisseurs zu einer in den letzten Jahren um sich greifenden Modeerscheinung. -
It‘s the hair that makes it mysterious.)


Daß eine so explizite Sprache in der damaligen Zeit natürlich Anstoß erregen mußte, war Miller von Anfang an klar.
“ I think it will cause a riot, and, at the same time, prove a seller -- just because it is sensational in character”, schrieb er dem Freund im Juli ‘32. Aber sensationell und ultimativ sollte es nicht bloß in Hinsicht auf sexuelle Freizügigkeit sein. Ursprünglich hatte Miller den Titel The Last Book vorgesehen. Mit ihm sollte alles gesagt, kein weiteres Buch mehr nötig und möglich sein. Denn das Ende stand sowieso bevor. So dachte er damals wohl tatsächlich, denn um diese Zeit war Spenglers Untergang des Abendlands seine Bibel. Und das letzte Buch der Bibel ist die Apokalypse. Das Buch, an dem er schrieb, “is to be a new Bible - The Last Book... We will exhaust the age. After us not another book”, heißt es im Wendekreis des Krebses zu Beginn. Endzeitstimmung also; damals nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs natürlich nicht unüblich und weit verbreitet. Bei Miller aber äußert sie sich nicht resignativ, sondern aggressiv:

“The age demands violence, but we are getting only abortive explosions. Revolutions are nipped in the bud, or else succeed too quickly. Passion is quickly exhausted. Men fall back on ideas, comme d‘habitude. Nothing is proposed that can last more than twenty-four hours... For a hundred years or more the world, our world, has been dying. And not one man, in these last hundred years or so, has been crazy enough to put a bomb up the asshole of creation and set it off. The world is rotting away, dying piecemeal. But it needs the coup de grâce, it needs to be blown to smitherens.”

Die Änderung des Titels streicht das Kranke der Zeit und der Welt noch heraus. Allein klimatisch indiziert er Schwüle, den Beginn der feucht und morbid dampfenden Tropen. Seiner damaligen Geliebten, Freundin und Mäzenin Anais Nin schrieb er: “Cancer also means for me the disease of civilization, the extreme point of realization along the wrong path — hence the necessity to change one’s course and begin all over again.” Letzteres wird aus der Bedeutung des Krebses als Sternzeichen verständlich: “CANCER = House of Birth + Death”, steht über einem damals in Paris entworfenen, aber nie vollendeten anderen Manuskript Millers. “There was always the astrological implication too”, erklärte er 1956 in einem Radiointerview “a symbolic title I had chosen for a number of reasons, primarily because the cancer is the crab, and the crab has the power, or the ability to walk backwards, forwards, sideways, any direction do you see. I liked that symbol, you know? […] Able to go any direction at will, do you see.”
Sich ganz nach Belieben in jede erdenkliche Richtung zu bewegen, ist natürlich genau das, was der Erzähler in seinem inneren Monolog oder stream of consciousness unaufhörlich tut. Aber das Bild vom Krebs als Krankheit taucht ebenso immer wieder auf, gleich zu Beginn als “cancer of time”, die uns auffrißt, oder später in gleicher Weise auf die Stadt gemünzt:
Paris “grows inside you like a cancer, and grows and grows until you are eaten away.”


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Dienstag, 18. Mai 2010
Wendekreis des Krebses

I am living at the Villa Borghese. There is not a crumb of dirt anywhere, nor a chair misplaced. We are all alone here and we are dead.
The cancer of time is eating us away.
I have no money, no resources, no hopes. I am the happiest man alive.

Seit Jahren habe ich keinen so starken Romananfang gelesen. Und es ist der Anfang eines Debütromans. Henry Miller: Tropic of Cancer.

1891 kam Miller als Sohn eines aus Bayern eingewanderten Schneiders in New York zur Welt. Gut zehn Jahre zuvor war als Gratispassagier des Norddeutschen Lloyd ein 22 Jahre junger Mann namens Knut Pedersen aus Norwegen in New York gelandet. Einer von 29.000 norwegischen Auswanderern jenes Jahres. Aber er blieb nicht einer unter 29.000, und er blieb nicht in den USA. Zurück in Norwegen schrieb er in einer Art “halluzinatorischem Raptus” (W. Baumgartner) die ersten fünfzig Seiten eines Romans, die Edvard Brandes anonym in seiner Kopenhagener Avantgardezeitschrift Ny Jord (“Neue Erde”) veröffentlichte. Im Jahr vor Millers Geburt erschien der ganze Roman und wurde sofort ein Skandalerfolg: Sult, Hunger. Sein Autor nannte sich inzwischen Knut Hamsun.
Miller hat Sult gelesen, unzweifelhaft. Oft genug spielt er auf das Hunger-Motiv an und damit herum, in gewiß nicht zufälliger Häufung öfters im Zusammenhang mit Literatur. “We need good titles. We need meat – slices and slices of meat – juicy tenderloins, porterhouse steaks, kidneys, mountain oysters, sweetbreads”, phantasiert der Erzähler, der nicht offen zugeben will, daß er ausgehungert durch die Straßen von Paris streift, ehe er auf seine literarischen Ambitionen zurückkommt:
“I‘m going to remember this title and I‘m going to put down everything that goes down in my noodle – caviar, rain drops, axle grease, vermicelli, liverwurst...”
An anderer Stelle gibt er mit seiner angeblich unzerstörbaren Gesundheit an und revidiert dann: “When I say ‘health‘ I mean optimism, to be truthful... Carl finds it disgusting, this optimism. ‘I have only to talk about a meal‘, he say, ‘and you‘re radiant!‘ It‘s a fact. A meal! That means something to go on – a few solid hours of work, an erection possibly. I don‘t deny it. I have health, good solid, animal health. The only thing that stands between me and a future is a meal.” Als hätte das nicht der namenlose Held sagen können, der hungernd durch die Straßen von Kristiania streunte. Aber Miller hat nicht nur “Hunger” gelesen und im Paris der damaligen Weltwirtschaftskrise vielleicht wirklich ab und zu Hunger geschoben, er hungerte auch nach Literatur und soll sie pfundweise verschlungen haben. Strindberg war ganz bestimmt ebenfalls darunter, aber Miller hatte den Mut, die beiden Giganten aus dem Norden nicht nur aufzugreifen, sondern sie gleich in seinem ersten Roman fortzusetzen und über sie hinauszugehen, ganz im Sinn seiner darin verkündeten Poetik:

“Art consists in going the full length. If you start with the drums you have to end with dynamite”

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Sonntag, 21. Februar 2010
Mädchen mit Turkmenenaugen
Der Wunsch nach Frühling war natürlich verfrüht. Heute ist der Haag bei feuchtkaltem Frost in dichtesten, vom Meer in Schwaden heranwehenden Nebel gehüllt, die berüchtigte zeevlam. Statt eines ausgedehnten Dünen- und Strandspaziergangs habe ich daher endlich ein Buch gelesen, das schon seit langem auf meiner Liste stand, einen kurzen, aber verstörenden Roman von nicht mehr als 150 Seiten.
Verstörend vor allem wegen seines selbstquälerischen und selbstzerstörerischen Erzählers, verstörend wegen der endlosen Spiegelungen und Widerspiegelungen der immergleichen Elemente in scheinbar ewig wiederkehrenden und doch leicht variierten Konstellationen eines andauernd in sein Gegenteil umklappenden Vexierbilds, und verstörend natürlich auch, weil ich mir so leicht keinen Reim auf dieses Buch machen kann. Es wurde in den Dreißiger Jahren im Iran geschrieben, doch sein Autor ging mit dem Manuskript nach Indien und veröffentlichte dort 1936 in Bombay nicht mehr als 50 hektographierte Exemplare mit dem Eindruck:
“Druck und Vertrieb im Iran verboten.”

Der Ich-Erzähler ist ein völlig zurückgezogen lebender Mensch, seine einzige Tätigkeit das Bemalen von Federkästen mit dem immergleichen Motiv: einem Mädchen mit “schräggeschnittenen Turkmenenaugen”, das einem buckligen Alten eine blaue Winde überreicht. Ob er diese Szene jemals wirklich beobachtet hat oder ob sie nur seiner Einbildung entspringt, ob er sie geträumt hat, ob sie ein visionäres Bild von prägender Eindringlichkeit war, das er fortan obsessiv auf seine unbedeutenden Federkästen malen mußte, oder ob er schon immer diesem “lächerlichen Beruf” nachgegangen ist - all das bleibt mehr oder weniger im Ungewissen, weil die Gesetze von Raum und Zeit in dieser Erzählung aufgehoben sind wie im Traum.

“Als ich sie [gemeint ist das Mädchen] verlor, zog ich mich aus dem Bund der Menschen, der Dämonen, der Glücklichen zurück... Mein ganzes Leben spielte sich zwischen den vier Wänden meines Zimmers ab... Schon immer habe ich mein Leben zwischen diesen vier Wänden zugebracht.” Hat er, obwohl längst erwachsen und bereits älter und kränkelnd, noch immer versorgt von seiner Amme und verheiratet mit deren Tochter, die ihn aber niemals in seinem Zimmer, das er nicht verläßt, aufsucht, sondern zumindest in seiner Vorstellung mit jedem Vorbeikommenden herumhurt, sogar mit dem zahnlosen, verlotterten Alten, den er auf seine Federkästen malt, hat er also sein Zimmer wirklich nie verlassen, ist seine Suche nach dem Mädchen lediglich phantasiert, ebenso wie möglicherweise seine Frau? Oder sind das Mädchen und die Frau ein und dieselbe Person, ebenso wie er einmal in dem zahnlosen Alten sich selbst zu sehen glaubt? Wird er von seiner Frau tatsächlich ständig gedemütigt, und flieht er darum, unfähig sich gegen sie zur Wehr oder von ihr abzusetzen, in seine Tag- und Nachtträume? Oder geht er tatsächlich eines Nachts zu ihr, läßt sich in ihre Umarmung ziehen und versinkt in ihr bis zur Selbstauflösung, bis er sie in einem bestialischen Akt mit dem Fleischermesser zerstückelt? Oder ist auch das nur eine orgiastische Gewaltphantasie?

“Es gibt im Leben Wunden, die wie die Lepra, langsam, in der Einsamkeit an der Seele zehren. Diese Qualen kann man niemandem mitteilen. Denn die andern glauben an solche Leiden nicht”, heißt es ganz zu Anfang, und darum schreibt er vorsätzlich auch nicht für andere. “Ob mir nun die andern glauben oder nicht, ist mir völlig gleichgültig. Ich habe nur eine Angst: daß ich morgen sterben könnte, ohne mich selbst erkannt zu haben. Denn im Lauf meines Lebens habe ich erfahren müssen, daß ein verheerender Graben mich von den andern trennt. - Ich bin neugierig, ich möchte den Versuch wagen: Ich möchte sehen, ob wir uns besser kennenlernen können. Denn seitdem ich jede Verbindung zu den andern Menschen abgebrochen habe, möchte ich wissen, wer ich bin.”
Und so tritt er denn seine Reise in das eigene Innere an, die dem aufklärerischen Vorsatz des nosce te ipsum zum Trotz immer mehr eine phantasmagorische Reise ans Ende der (inneren) Nacht wird, rücksichtslos ebenso gegen alles, was sie aufhält, wie gegen sich selbst.
“[Mich] konnten weder die Moscheen mit der Stimme des Vorbeters noch die rituellen Waschungen, bei denen man immer mehr Auswurf herausspuckt, geschweige denn das Buckeln vor dem Allmächtigen, mit dem man sich noch dazu auf Arabisch unterhalten muß, in irgendeiner Weise beeindrucken.”
Nachdem das Hindernis des (Aber-)glaubens erst aus dem Weg geräumt ist, wird auch die heimliche Lust am eigenen Leiden und Gedemütigtwerden ebenso offen eingestanden wie ihr sadistisches Gegenteil.

“Ich kam zu einer Schlächterei, und dort sah ich einen alten Mann, der dem alten Trödler vor unserem Haus ähnlich war. Er hatte einen Schal um den Hals gebunden; in der Hand hielt er ein Messer. Mit geröteten Augen, so rot, als habe man ihm die Lider zerschnitten, starrte er mich an. Ich wollte ihm das Messer aus der Hand nehmen, da fiel sein Kopf ab und rollte auf den Boden. Von furchtbarer Angst überwältigt, ergriff ich die Flucht. Ich rannte durch die Gassen. Alle Menschen, die ich sah, waren so, wie sie dastanden, verdorrt. Ich fürchtete mich, zurückzublicken. Als ich zu dem Haus meines Schwiegervaters gelangte, sah ich den Bruder meiner Frau, den kleinen Bruder der Dirne, vor dem Haus auf der Treppe sitzen. Ich griff in die Tasche, holte zwei Fladen heraus und wollte sie ihm in die Hand legen. Doch kaum hatte ich ihn berührt, da fiel sein Kopf ab und rollte auf den Boden...
Am Ufer des Himmel standen dichte, gelbe Wolken, vermischt mit dem Tod. Sie lasteten mit ihrem Gewicht auf der ganzen Stadt.
Am Tod gemessen, scheinen mir Religion, Glaube, Überzeugung schwach und kindisch. - Nur der Tod lügt nicht! Seine Gegenwart vernichtet jeden Aberglauben.
Ich wünschte inständig, mir meine Kindheit in Erinnerung zu rufen. Aber sobald dieser Wunsch in Erfüllung ging, empfand ich dieselben Qualen, die ich schon damals ertragen mußte... die fortwährende Bedrohung durch den Tod, der alle Gedanken mit seinen Füßen zertritt, ohne auch nur die leiseste Hoffnung auf eine Rückkehr zu dulden! Es war schauderhaft.”

Der Roman heißt Buf-e Kur, “Die blinde Eule” und stammt von dem Teheraner Bankangestellten Sadeq Hedayat, der sich 1951 in Paris das Leben nahm. Er soll den Beginn der modernen iranischen Literatur markieren.

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Dienstag, 26. Januar 2010
Gluggaveður
(isl., Fensterwetter, bezeichnet eine sonnige Wetterlage, bei der es allerdings zu kalt oder zu stürmisch ist, um sich länger im Freien aufzuhalten)

Sitze also gerade um die Mittagszeit am Fenster und lese. Gedichte. Wie das folgende:
Wollte in den “Gelben Seiten” unter UROLOGIE
nachschlagen und traf als erstes auf “Sackkarren”
Kein Gedicht? Doch, ein vorsätzliches sogar.
Einfach werden - radikal.
Kompliziert, das war einmal.
Weil,... Subtilität
kaum ein Leser noch versteht.
Ist das deutlich genug?
Oder wollen (müssen) wir noch ein paar weitere Zentimeter
unter Niveau gehen?
Auch so einer, um den es richtig schade war: Peter Rühmkorf.

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