Damit soll der Besuch in Bargfeld besser sein Bewenden haben, sollen keine weiteren Details aus dem Leben der Schmidts hier ausgebreitet werden. De mortuis nihil nisi bene. Besonders in Berücksichtigung dessen, was der Meister einmal selbst über Seinesgleichen geschrieben hat:
«Der Künstler hat nur die Wahl, ob er als Mensch existieren will oder als Werk; im zweiten Fall besieht man sich den defekten Rest besser nicht».
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Kulinarische Köstlichkeiten in Bargfeld
„Ein altes Gartentor, mannshoch, verwittertes Holz. Der Weg davor ist unbefestigt, Wasser steht, versickert nicht. Der Weg führt in die Felder. Hinter dem Tor ein Gartenpfad, rechts ein kleines Haus, eher eine Hütte, mit grauen Brettern verschalt. Hier haben sie gewohnt, der Dichter Arno Schmidt und seine Frau Alice. Eine winzige Veranda, drei Korbsessel mit Armlehnen, grüne Häkelkissen. Davor, im Gras, die Näpfe für die Katzen. Eine Wasserpumpe. Das große Grundstück. Sträucher, Bäume, kurz gehaltenes Gras. Keine Blumenbeete.”
So begann am 29. April 2002 ein Feature über Arno Schmidt im NDR: "Lilli kauft Unterrock; ich Langenscheidt Italienisch-Deutsch"
„Ein Häuschen mit Garten,
nur klein, aber mein.
Was brauch ich denn mehr,
um zufrieden zu sein?
Eines Tages zieh ich ein,
in das Häuschen, schön und klein,
und mein Schatz wird sich dann freun,
immer bei mir zu sein...”
„Bei Schmidts gab‘s immer Nescafe oder Maxwell. Wenn ich kam, gab‘s Filterkaffee, das war für sie das höchste. Aber selbst hat sie sich den nie gekocht", erklärte Haushälterin Erika Knop dem NDR-Team. "Und dann kam der Bäcker und dann wurde Kuchen gekauft und dann gab‘s in der Woche noch ein Stück davon, das wurde dann aufgeröstet oder ein Brötchen getoastet oder Wurst warm gemacht, dann setzte er sich meistens dazu.”
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Leinölgelb nannte Schmidt mehrmals die obligatorische Farbe deutscher Ortsschilder, und Leinölgelb ist die Grundfarbe der Zürcher Kassette mit dem erzählerischen Werk Schmidts in acht Bänden aus dem Jahr 1985, also sechs Jahre nach seinem Tod erschienen. Den achten und letzten Band ziert ein Foto des Schmidtschen Gartentors. Daran gelehnt hat er - selten - Besucher empfangen, in Wellblechfrisur und Wellblechhosen und auf diesen hölzernen Gesundheitsklapperlatschen, die man in den Sechzigern trug. Heute sieht das Tor, mit Kette und Vorhängeschloß gesichert, so aus, als sei es auf ewig verschlossen. Irgendwie paßt das zu ihm und hätte ihm womöglich gefallen.
Kurz bevor er hinzog hat er in einem kleinen Radiobeitrag für den Südwestfunk seinen Lebenstraum („wenn man Geld hätte”) skizziert:
„Ein winziges Häuschen in der Heide (achttausend höchstens; nicht wie diese Bausparkassen...); im Ställchen eine Isetta; Eintausend erlesene Bücher... nichts mehr ums liebe Brot schreiben zu brauchen, keine ‘experimentelle’ Prosa mehr, keine feinsinnigen ‘Essays’, keine ‘Nachtprogramme’; an Uhren werden nur die lautlosen geduldet, die mit Sand und Sonne... Den Mond untergehen sehen, über Wieseneinsamkeiten, ganz rot würde das silberne Wesen geworden sein, wenn es einsank in Dunstband und Kiefernborte”.
(Schulausflug, gesendet am 23.10.1958, einen Monat vor dem Umzug nach Bargfeld).
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Ich dachte immer, er sei der schroff abweisende „Solipsist in der Heide” gewesen, aber das Ehepaar Rauschenbach meint, für die meisten Abschottungsvorrichtungen und -maßnahmen habe in Wahrheit Alice Schmidt gesorgt. Das zu schützende Objekt ihrer Fürsorge sei hingegen öfter ganz zugänglich und sogar zu Gesprächen mit Besuchern über den Gartenzaun aufgelegt gewesen. Heute wäre das kaum noch möglich; das kleine holzverkleidete und hellgrau gestrichene Häuschen ist hinter Bäumen, Büschen und Hecken eingewachsen wie ein Dornröschenschloß. So war das zu Schmidts Lebzeiten lange nicht, aber er selbst hat die meisten Bäume mit genau diesem Ziel gepflanzt. Doch jenseits des Zauns war er vor allem daran interessiert, daß ihm die Aussicht in die ländlich-naturnahe Kulisse nie verbaut würde. Aus dem Grund hat er später von einem seiner Preisgelder das noch unbebaute Nachbargrundstück hinzugekauft und es als naturbelassene Wiese mit einigen lichten Birken, Fichten und Wacholdern umstellt. Die Letzteren liebte er besonders: „Wachholderholz: ganz leicht, aber natür’ch zähe, zähe müßt ma noch ma sein” (Die Wasserstraße).
„Wer sich kein Haus kaufen kann – und Wer vermag das schon; es sei denn, er wäre kühn wie Caesar im Schuldenmachen [...] der mietet sich 1 Baräckchen in der Heide. »Auf 99 Jahre; wie weiland Kiau-Tschou.«
Folglich hatten wir gemeinsam [...] 2 hannoversche Morgen in diesem Sinne dauerhaft gepachtet. Für einen Spottpreis übrigens, da es sich um ‘Ödland’ handelte – Bauern verstehen ja nichts von Natur & deren Schönheit. Ich hatte noch zusätzlich 50 Mark pro Jahr draufgelegt, unter der Bedingung, daß ‘die Kulisse’ nicht verändert werden dürfte; (die würden sich noch mal wundern, die Herren Landwirte, was sie, die ganze ‘Realgemeinde’, damit so unterschrieben hatten!)”
(Kühe in Halbtrauer)
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Schriftstellerehepaar (kinderlos) sucht ruh. Dorfw., 3 Zi., Kü., mögl. Bad, evtl. Einzelhaus. MVZ mögl, Zuschr. erb A. Schmidt, Darmstadt, Inselstraße 42.
Mitte April 1958 antwortete Eberhard Schlotters Vater Heinrich aus dem Heidekaff Bargfeld, er habe womöglich ein Haus für das Schriftstellerehepaar (kinderlos) gefunden. Anfang Oktober reisten die Schmidts zwecks Besichtigung dorthin, und der fast mittellose Kaufinteressent legte eine „Akte Bargfeld” an, aus der ersichtlich wird, worauf er besonderen Wert legte.
"I. Ort: Bargfeld liegt 20 km NO von Celle (dies Sitz d. zuständigen Behörden) / Einwohnerzahl 350 (~ 45 Häuser)... Die Landstraße selbst hört im Ort auf, da weiterhin nur Moor und ödeheide; also keinerlei Durchgangsverkehr; absolute Stille garantiert (und durch 2 Übernachtungen erprobt). / Poststelle beim Gastwirt (dort auch ein öffentlicher Fernsprecher)... Keine Kirche (!)... Bei Wahlen 30% SPD-Stimmen.
II. Umgebung und Klima: ... Etwa 50% der gesamten Umgebung Wald. / Feuchte Niederungen von prächtigstem Moorcharakter... gegen NO sogenannte ‘Wilde Moore’, d.h. solche, in denen Wanderer, ohne irgend Aufsehen zu erregen, versinken können (panzersicher!). In dieser Richtung kann man 50 km gehen, ohne irgend ein Haus zu erblicken! / Heideflecken mit Wacholdern eingesprengt. Waldungen... die erforderliche Landschaft für Bücher mühelos hergebend. Mond, Nebel & Regen erste Qualität.
III. Haus: Im Erdgeschoß rund 45 m² Wohnfläche; oben... 20 m² / Schwache Punkte: kein Bad; kein Klo”.
(Der Rabe, 12, 1985)
Am 13. November 1958 wechselte das Heidehäuschen für 16700 DM den Besitzer und am 26.11.58 zogen die Schmidts nach Bargfeld. Natürlich tauchte das Dorf seitdem mehr oder weniger verfremdet als Schauplatz in Schmidts Texten auf.
Am Neujahrstag 1960 meldete er seinem Freund und Wohltäter Michels triumphierend: „Der Unterzeichnete hat, in den Tagen (und Nächten; zumal diesen letzteren – durchschnittliche Aufstehzeit 2 bis 3 Uhr morgens!) vom 31.11. bis 19.12. 1959 ein neues Buch, im Umfange von rund 400 Normalseiten zu Konzeptpapier gebracht. Der Titel lautet zur Zeit KAFF; auch MARE CRISIUM”.
(Alice Schmidt schrieb dazu ergänzend an die Michels: „Die letzte Woche stand er nur unter schwersten Schnäpsen”.)
KAFF war also das erste von Schmidts umfangreicheren Werken, das in der neuen Umgebung geschrieben wurde, und Bargfeld firmiert darin auch gleich auf der ersten Seite als Wohnort des Beamten aus dem „Individuumsschutzamt”, Dr. Martin Ochs (ja, klar, ein Anagramm von Arno Schmidt). Ebenso läßt sich hinter dem fiktiven Handlungsort Giffendorf unschwer das schöne Bargfeld wiedererkennen. Hier wie da heißt z.B. der zentrale Dorfplatz Eichenkamp. Zu deutlich aber sollte Bargfeld wiederum auch nicht zu identifizieren sein, denn was hätten die Nachbarn und Mitbürger dem zugezogenen und selbsternannten „Heidedichter” Schmidt wohl geflüstert, wenn sie in der „Kollektion von 50 Butzenantlitzen” im Dorfkrug eindeutig sich selbst porträtiert gesehen hätten. „Vorn 1 wollüstich fette Schtirn; an der Seite hingen die Ohren wie Lumpen – Der Hinterkopf dafür wie abgesägt... Schtarkbehaarte Sassen, Kerls mit ungeschnobenen Nasn... Der Abtritt eines Mundes: schlotterte um 3 Zeehne” - ich glaube, hier ist nichtmal die Wahl des Verbs unverdächtig. „Und überdem hätten die Herrschaftn sich doch wohl mal waschn dürfn”.
Auf diese Weise läßt sich der sturmfest erdverwachsene Niedersachse wohl kaum gern in Druckwerken verunsterblichen. Kein Wunder, daß der Dichter das (selbstentworfene) Tor zu seinem Elysium mit Kette und Vorhängeschloß sicherte.
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Die Landschaft an den Saarschleifen gefiel ihm anfangs recht gut: „Da ist es sehr einsam, hinten an der Saar”, lobte er rückblickend in der Kurzgeschichte Schlüsseltausch. Aber Kontakte? Gar Integration? Fehlanzeige. Die Schmidts blieben Zugezogene, über die ungut getuschelt wurde. Von „ungreifbarer Flüsterpropaganda” schrieb Schmidt in einem Brief an seinen Gönner Wilhelm Michels. Die steigerte sich zu öffentlicher übler Nachrede, als im Frühjahr 1955 gegen Schmidt (zusammen mit seinem Verleger und Herausgeber) wegen seiner Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas Anzeige wegen „Gotteslästerung” und „Verbreitung unzüchtiger Schriften” erstattet wurde. Schmidt mußte fürchten, daß eine Verurteilung seine gerade erst in Aufschwung begriffene Schriftstellerlaufbahn in der restaurativen Adenauerrepublik zerstören würde, Schwierigkeiten, einen Verlag für seine Geschichten zu finden, hatte er bereits. Die Schmidts flohen wieder einmal, diesmal aus der „hochkatholischen trierer Gegend”, wie er in einem Brief an den kommunistischen Schriftstellerkollegen Werner Steinberg schrieb.
Durch die Intervention von bekannten Kollegen, die im Gegensatz zum breiten Publikum seine Bücher schätzten, des Schriftstellers und Akademiemitglieds Ernst Kreuder und des Malers und Leiters der „Neuen Darmstädter Rezension”, Eberhard Schlotter, bekamen die Schmidts eine Wohnung in Darmstadt, und ein Gutachten von Hermann Kasack, damals Präsident der dortigen Akademie für Sprache und Dichtung, sorgte dafür, daß der Prozeß gegen Schmidt eingestellt wurde.
Doch Darmstadt war für die Schmidts zu groß und zu eng zugleich. In seinen Briefen an Steinberg bezeichnete Arno es bald als sein „Neu-Weimar” und zielte damit vor allem auf dessen Rolle als in sich geschlossenes und kreisendes Künstlergewächshaus, in dem „widerlichste Cliquenwirtschaft” herrsche.
Schon nach einem Jahr fing Schmidt an, sich nach einem ihm gemäßeren Refugium umzusehen, so verzweifelt, daß sogar er, der stets Reiseunwillige, ans Auswandern übers Meer dachte: nach Irland.
„Ich meine, können wir mehr verlangen, als ein Land, nicht der Nato angehörig... praktisch menschenleer... Nebel, Moore, Wiesen, Wind, Haide, nischt wie Ossian und Joyce”. So Schmidt damals an Alfred Andersch.
Den Floh hatte ihm der gut katholische Kollege Heinrich Böll ins Ohr gesetzt, der 1978 dem Zeit-Magazin gestand: „Mitte der 50er-Jahre bin ich nach Irland geflohen. Ja es war eine Flucht, weil ich mich in Köln durch einen Hausbau hoch verschuldet hatte und Ruhe vor meiner Familie brauchte.” (Deutsch: ungenügend, Zeit-Magazin, 3. 11. 1978)
Das Ehepaar Schmidt erwog ernsthaft, Böll zu folgen, korrespondierte eifrig mit ihm, der rheinische Wahl-Ire auf Zeit suchte sogar nach einem Haus für die beiden, die sich mit ihrem Anliegen an die Irische Gesandtschaft in Köln wandten, und dann platzte der Traum. Die Iren verlangten für eine Einwanderungserlaubnis einen Nachweis von Ersparnissen, die zehn Jahre lang den Lebensunterhalt decken konnten.
„Jetzt bleibt nur noch die Haide”, schrieb Schmidt an Andersch.
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„»Mänsch iss dos lankweilich.« – (Dabei schtand sie neben einer Distel, so hoch wie 1 Frau.)
»Siehstu: für diesedeine Unart hört jetzt der Weg auf.«
Dann allerdinx wieder herrlichste Wiesenplatitüden. III Bäume.
Nichts Niemand Nirgends Nie! : Nichts Niemand Nirgends Nie! : die Dreschmaschine rüttelte schtändig dazwischen...” – und produzierte Kaff.
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Es kam Celle mit viel Fachwerk und dahinein geschnitzten Haussprüchen: „Wer auf Godt vertrauwet...” oder einfallsreicher-eigenwilliger: „Du wat do wut de lue snackt doch” samt possierlichem Giebelschmuck. (Schutzengel der Handschuhmachergilde oder Alien mit Flossen?) Als Dreingabe mit freundlicher Unterstützung unseres Exkurses: 1 Stück Welfenschloß, von Generation nach Generation verschandelt modernisiert: mittelalterliche Burg, Renaissanceschloß, barock „venezianisierte” Residenz, Pomp des 19. Jahrhunderts... alles drin, alles dran.
Gleich hinter diesem Südtor zur Lüneburger Heide wurde die letzte Bundesstraße dreistellig, die Landstraße dann war es sowieso. Samtgemeinde Lachendorf, bekannt für ihre Papiermühlen – ein gutes Vorzeichen. Wir waren schließlich unterwegs in »papierreiche Zeit«. Zur Samtgemeinde gehört Eldingen im Naturpark Südheide, „hauptsächlich geprägt durch Kiefern und Fichten” – viel Sand also, schön. Die Heideflächen mit Wacholder sowieso.
„Der eigentlich öde und traurige Theil des Wegs von Lüneburg bis Celle fängt hier an”, notierte der „Dänische Wieland” und Voß-Freund Jens Baggesen auf einer Reise durch Deutschland im Juni 1795 mit seiner jungen und bezeugtermaßen schönen Schweizer Frau Sophie, einer Enkelin übrigens Albrecht von Hallers. „Sand, Haide und Moor, umgeben von ewigen Tannen- und Fichtenwäldern, ist Alles, was man entdeckt. Nicht ein einziges Dach – kein Wasser – kein Mensch – kein Thier - selbst nicht die Luft, – wenn ich eine fürchterliche Menge von Raben ausnehme.”
Die Gemeinde Eldingen hingegen, „die im Ortsteil Bargfeld das Schmalwasser und die Köttelbeck aufnimmt”, ist berühmt durch ihren Schweinekrieg anno 1668, bei dem es sogar einen Toten gab. Noch 1928 wählten 40 Prozent der Eldinger die „Deutsch-Hannoversche Partei”. Deren vordringlichstes politisches Ziel: die Restauration der Welfendynastie. Schon 1930 liefen sie und ihre Wähler geschlossen zur NSDAP über. »Nich ärgern,« sagte mir Katrin unerschütterlich, »das sind doch gar keine Menschen. Sind doch Bauern.«
Obwohl eigentlich nur drei Straßen in das Dorf führen, haben wir das gesuchte Anwesen nicht gleich auf Anhieb gefunden. Es gibt ja aber auch nebst etlichen Nebenerwerbsbauernhöfen ein Küchenstudio, Harms’ Modegeschäft und ein eigenes Taxiunternehmen dort, ein Spezialantiquariat nicht zu vergessen.
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Nachdem er selbst im Januar 1946 auf der Rückkehr von einer zweiten Reise an den Bodensee zu seinem Bruder von einem amerikanischen Militärposten um ein Haar erschossen worden wäre, erlegt Jünger sich mehr Zurückhaltung auf: „Ich will mich daher vorläufig auf meinen Garten beschränken und auf Ziele, die mit dem Fahrrad zu erreichen sind.” (30.1.46)
Das tut er auch, und in der Folge ereignet sich offenbar wenig Festhaltenswertes. Die zweite Jahreshälfte 1946 geht ohne einen einzigen Tagebucheintrag vorüber. Mit dem Jahreswechsel erfolgt ein neuer Ansatz: „Ich erwog, ob ich ein neues Tagebuch beginnen soll, das immer Ansprüche stellt. Doch bringt es auch Vorteile. Man läßt Lichtspuren auf dem Wellenspiel gelebter Tage, das sonst schnell dunkel wird.”
Er verlebt die Tage jedoch überwiegend im selbstgezogenen kleineren Kreis, erhält zwar Besuch, registriert stoisch die politisch motivierten Verrisse seiner Bücher („ich habe eine Sammlung solcher Curiosa angelegt. Doch soll man nicht gleich das Schlimmste denken”) und arbeitet an einem neuen Werk, Heliopolis, liest, wie immer, viel; auch Allerneustes, Sartre z.B.: „Erstaunlich ist die Beherrschung des Dialogs in seiner authentischen Nichtigkeit [...] Bei der Lektüre dieser Romane hat man den Eindruck, daß man die Gesellschaft in einem trüben Spiegel sieht. Das Essen und Trinken, das Fleisch der Männer und Frauen, selbst die Ideen – alles wird lustlos, vom Todeshauch umweht. Die Stimmung ist die eines Konzentrationslagers ohne Stacheldraht. Das sind Bücher, die man nur einmal liest.” (15.2.47)
Ausflüge gehen nur in die nähere Umgebung, etwa zum romanischen Dom von Königslutter, mit Säulen im Kreuzgang, „die mich an Monreale erinnerten”. – „In einer Zeit, in der größere Reisen sich verbieten, sollte ich öfters die kleinen Städte Niedersachsens auf diese Weise heimsuchen. Da ruht mehr, als man ahnt.” (1.5.47)
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Pforzheim, 23. Oktober 1945
„Ich ging in das nahe Eutingen und bat im Rotkreuzheim um eine Lagerstatt. Dort schlief ich in chinesischer Enge zwischen Männern, Frauen und Kindern in einem Kellerraum [...] Ich lauschte der Unterhaltung; es war gut, daß mich das Schicksal an diesen Ort geführt hatte. Nur allzuleicht weicht man dem ungeheuren Leiden aus wie einer Wunde, deren Anblick man sich nicht gewachsen fühlt.
Ich war unter eine Gruppe von Flüchtlingen geraten, die sich aus Ostpreußen und Pommern nach dem Westen durchgeschlagen hatten — eine Mutter von etwa vierzig Jahren mit ihrer Tochter, zwei Männer und ein Knabe, der auf der Suche nach seinen Eltern war.
Die Leute erzählten, daß sie auf ihrer Wanderung in großen Scheunen kampiert hätten, die Nacht für Nacht von den Russen durchsucht wurden, Sie schilderten die Einzelheiten — so das Gefühl heftigen Frierens, wenn Kolbenschläge und Flintenschüsse die Riegel, die sie vorgelegt hatten, zerschmetterten. Die Frauen versteckten sich unter dem Stroh, doch wurden sie meist gefunden, da man mit Forken durch die Bündel stach. Auch ließ man sich durch die kleinen Kinder ihnen zuführen. Die Mutter erzählte dann von einer Szene, bei der sie sich zwischen die Soldaten und ihre Tochter geworfen hatte und sich an deren Stelle vergewaltigen ließ.
»Ich bin fünfmal vergewaltigt worden, ehe ich die Elbe überschritt.«
Ich hatte den Eindruck, mit Geistern von Abgeschiedenen am Tisch zu sitzen, die über Dinge vor ihrem Tode berichteten.”
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