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Dienstag, 13. Oktober 2009
Zum Inselland
Ganz Aufmerksame werden es vielleicht bemerkt haben: wir befinden uns inzwischen auf einer Insel. Ein wenig im Hinterland ging es durch etwas niedrigere Kiefern- und Birkenwälder als in Lettland weiter nach Nordwesten. Auf den Feuchtwiesen staksten nicht mehr so allgegenwärtig wie dort weiße Störche auf leuchtend roten Beinen gravitätisch durch Wasser und Gras, auf den Feldern stand noch das Korn auf kurzen Halmen. Es wird sichtlich später reif. Wir sind bald auf der Höhe von Stockholm (oder Ochotsk). Mit einer Fähre setzten wir auf die kleine Insel Muhu über, die mit einem Damm mit Saaremaa verbunden ist, dem “Inselland”; das bedeutet sein estnischer Name. Genauso wurde es auch schon im “Weltkreis” (Heimskringla), der norwegischen Königsgeschichte des Isländers Snorri Sturluson aus dem 13. Jahrhundert, bezeichnet. Da heißt es, daß Jarl Erik Hákonsson von Hlaðir (Trondheim), der Gegner König Olav Tryggvasons, nach dem Jahr 995 fünf Sommer lang Wikingerzüge in das Reich Wladimirs von Kiew unternommen und die Festung von Alt-Ladoga erobert hätte. (Keine literarische Erfindung. Man hat dort Brandspuren aus dem späten 10. Jahrhundert gefunden.) Wie es sich für einen ordentlichen Historiker gehört, gibt Snorri auch seine Quelle an: Das Gedicht Bandadrápa des Skalden Eyjólfr dáðaskáld, das um 1010 entstanden sein soll. Dessen siebte Strophe lautet:
Frák hvar fleina sævar
fúrherðir styr gerði
endr í eyja sundi.
Eirekr und sik geira.
hrauð fúrgjafall fjórar
folkmeiðr Dana skeiðar
(vér frôgum þat) vága.
Veðrmildr ok semr hildi.


Frag mich jetzt bloß keiner nach einer Übersetzung. Die Skaldendichtung ist formal so kompliziert, arbeitet mit kaum auflösbaren Metaphern von Metaphern von Metaphern, reißt Syntax und Inhalt so völlig auseinander, um die Erfordernisse der metrischen Regeln einhalten zu können, daß sie uns kaum mehr verständlich und eine befriedigende Übersetzung unmöglich ist.
Jedenfalls heißt es da und weiter bei Snorri, Jarl Erik habe auf dem Rückweg in der Eysýsla vier dänische Wikingerschiffe aufgebracht. Aus Eysýsla, der “Inselgegend”, wurde allmählich Ösyssel und schließlich Ösel. So hieß die Insel jahrhundertelang bei den erst dänischen, dann deutsch-ordens/tlichen, dann wieder dänischen und schwedischen Herrn.
“Inseln sind besondere Orte”, seufzte die Herzogin schon auf der kleinen Fähre, die uns bei Virtsu (Werder) aufgenommen hatte und gemütlich über den nicht allzu breiten Sund der flachen Küste von Muhu entgegenschob. Ich hatte sie im Verdacht, daß sie dabei auch an ihre kroatische Freundin dachte, deren Vater einmal ein lesenswertes Buch über das Mittelmeer geschrieben hat. In seiner kleinen Phänomenologie der Inseln führt er solche auf, die nichts anderes sind “als unvollständige Bruchstücke, losgerissen von der Küste”, und andere, die ihren Kontinent schon beizeiten verlassen haben. “Die, die sich keinem Archipel zuordnen lassen, verlieren ihren Platz im Protokoll der Küste und bleiben auf immer und ewig Waise, Einzelgänger, Abtrünnige.” - Wir werden sehen, welchem Inseltyp Saaremaa zugehört.

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Sonntag, 11. Oktober 2009
Abends um sieben ist die Welt wieder in Ordnung

Für manche gibt es ja nichts Schöneres, als im Urlaub die Rollende Festung dabei zu haben. Da können sie abends um sieben nach dem Grillen alles Fremde draußen in diesen schrecklichen Urlaubsländern, in denen doch nicht alles so ist wie daheim, aussperren und im gemütlichen Plüschfernsehsessel das heute-Magazin und anschließend den Musikantenstadl aus der Heimat schauen, gell?
Nur weil man im Urlaub halt verreist, muß man doch nett auf seine liebe Gewohnheite verzichte. Wozu hat man schließlich den ganzen Stauraum in so einem SUFF? Da gehen doch ein paar Paletten Aldi-Bier locker rein. Da braucht man nett des ausländische Zeuch ze kaufe, und sei Dusch hat mer auch immä dabei. Nett so wie die flegelige Banause, die wo sich mit ihr lumpige Zelt einfach irgendwo in de Wald reinstelle.


Wie es diesen beiden antagonistischen Typen von Campern einmal ergehen wird, sieht man auf diesem Relief an der alten Kirche von Karja Kirik. Wenn die Seele durch den Mund der einen ihren Leib verläßt, wird sie gleich von einem Engel in Empfang genommen, während die Seelen der anderen der Teufel packt. - Schönen Sonntag noch. Haben Sie auch heute morgen in der Kirche fromm für Ihr Seelenheil gebetet?

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Freitag, 9. Oktober 2009
Pernauer Terzine, die dritte
Eine Terzine mit nur zwei Zeilen ist keine. Zurück also zu unseren Hämmeln und in die Salzminen!
Sie sind kaum zu ertragen, wenn der Eingang zu ihnen durch den Portikus der Villa Ammende führt:






... und von dort durch die Jugendstilsäle auf die Terrasse am Park



... wo einem unter hohen Bäumen im Spätsommersonnenschein zum Tee gräßliche Tarte au citron und ein noch schlimmeres Zitronensorbet serviert wird.



Da wir letztens schon bei Hofmannsthal waren, fällt einem dazu doch stilgerecht nur noch Rilke ein:
"Das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang..."

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Dienstag, 6. Oktober 2009
Pernauer Terzine, Zeile 2
Ja, ich geb‘s zu: ich habe mich ein wenig in Pärnu verguckt. Warum ausgerechnet in Pärnu, of all places? Nun, da mögen einige zufällige Umstände wie zum Beispiel das Licht mit anderen eine günstige Konstellation ergeben haben. Über dem Meer war es so klar, wie es das nur im Norden sein kann, zog mit dem sicheren Strich eines vollendeten Zeichners die völlig unbeirrte Linie des Horizonts am Sichtkreis entlang, um Himmel und Meer voneinander zu scheiden. Ließ die hellen Wolken durch kräftige Grauschattierungen in all ihrer luftig-bauschigen Plastizität hervortreten, bevor es sie auflöste, und heizte den mittags fast weißen Strand zu einer wohltuende Wärme abstrahlenden Liegefläche auf. In den Gärten und unter den Parkbäumen vertönte die Strahlkraft der Sonne am Nachmittag leicht ins Rötlichgelbe und ließ die ganze Stadt in einer milden Abgeklärtheit wie von innen heraus leuchten. Verlieh ihr eine angenehm heitere, leichte und gelöste Atmosphäre, wie ich sie auf dieser Reise nirgends sonst empfunden habe.
Dazu kommt, daß sich die Stadt nie aufgegeben hat. Sie hat gelitten, das ist sichtbar. Die Ruinen eines Niedergangs stehen noch, aber es wird Neues gebaut; und es wird nicht nur das Billigste notdürftig oder das Renditeträchtigste eilig auf den Brachen hochgezogen. Meinen Eindrücken nach geht man beim Neuaufbau mit (Augen-)maß und Geschmack zu Werke (wie sich vielleicht bei diesem Blick über den Fluß erkennen läßt).


Pärnu jogi


Auch in der Sowjetzeit hat man dieses Augenmaß in Pärnu nicht aus den Augen verloren. Gewiß, es gibt einige 08/15-Bettenburgen aus den 1960er Jahren am Stadtrand, die heute versuchen, als Wellness-Hotels ein neues Gesicht und Profil zu gewinnen. Aber nicht alle Bäume in den Parks sind älter als 80 Jahre. Man hat diese schönen Anlagen und die Gärten also auch - oder vielleicht gerade - in sozialistischen Zeiten gepflegt, erneuert und in gutem Stand gehalten.
Rannahotel 1937 Das große Strandhotel wurde zur Zeit der ersten Unabhängigkeit 1935-37 von Olev Siinmaa, einem Sohn der Stadt, mit seinem nach Süden und zum Meer vorspringenden Bug und der an einen Ozeandampfer erinnernden Dachterrasse darauf im wahrsten Sinn des Wortes als “Flaggschiff eines neuen Pärnuer Bäderfunktionalismus” entworfen, und es kann sich neben jedem vergleichbaren Gebäude der Neuen Sachlichkeit im Westen ohne weiteres sehen lassen. In den von alten Kastanien beschatteten Straßen des Kurviertels wartet noch so manche Sommervilla aus den Dreißiger oder Vierziger Jahren darauf, aufgefrischt und wieder zu einem besseren Leben erweckt zu werden. Selbst die alten Holzhäuser werden nicht abgerissen, sondern nach und nach auf heutigen Standard gebracht.

Schon in den späten Dreißigern kam die Hälfte der Sommerurlauber Pärnus aus dem Ausland, vor allem aus Finnland und Schweden. Für die Finnen, denen ja selbst erst 1917 von Lenin die Unabhängigkeit geschenkt worden war, lag Estland als erstes Ausland, in dem man zudem noch ihre Sprache verstand, nah, und auch nach der Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit 1991 tauchten als erste Investoren aus dem finnischen Bruderland auf, um - ganz uneigennützig, versteht sich - Anschubfinanzierungen und Aufbauhilfen zur Verfügung zu stellen. In Finnland baut man seit eh und je in Holz, und die Finnen wissen genau, was man aus einem gediegenen Holzhaus machen kann.



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Samstag, 3. Oktober 2009
Quiet Days in Pärnu

Einmal keine Wörter bemühen, keine Sätze drechseln. Ein Strandspaziergang in Bildern

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Donnerstag, 1. Oktober 2009
Nachsommer in Estland
Pärnu soll die “Sommerhauptstadt” Estlands sein. Sie ist es. Und wie!
Es ist aber längst Nachsommer und dementsprechend noch schöner. Vor dem Schlafengehen am Vorabend waren bereits die ersten Sterne am Himmel angeknipst worden, am Morgen erleuchtete warm die Sonne das Zelt. Es hat schon etliche Jahre in verschiedensten Weltgegenden auf dem Buckel, aber ich schätze es immer noch sehr. Die Kombination aus windstabilem Tunnel außen und geräumig wirkender Kuppel innen, samt viel Vorzelt, die gut kalkulierte Farbgebung, mit der es sich außen in jede Landschaft einpaßt und im Innern immer ein mild gedämpftes, warmes Licht verbreitet, finde ich bis jetzt unübertroffen. Aber leider ist keines dieser ultraleichten Kunstfasergewebe bis heute auf Dauer UV-beständig, und auch die Reißverschlüsse zicken neuerdings manchmal rum. Einem tagelang niederrauschenden Dauerregen dürfte die gute alte Haut nicht mehr überall standhalten.



In Pärnu aber scheint die Sonne. Ein paar letzte, tief gestaffelt am Skandinavienhimmel dahinsegelnde Wölkchen lösen sich bald in reines Wohlgefallen auf. Vor dem breiten, feinsandigen Strand gluckst ein wenig nachsaisonhaft die Ostsee. Sehr gemächlich fließt auch der Pärnu-Jogi der Pernauer Bucht zu. Die alten Stadtteile liegen auf einer Halbinsel zwischen Fluß und Meer. Wasser zu beiden Seiten. Das letzte erhaltene Tor in der ehemaligen Stadtumwallung stammt aus der Zeit, als große Teile des Baltikums zu Schweden gehörten. Entworfen hat es der “Vauban Schwedens”, Erik Dahlberg. Vom einfachen Buchhalter in Schwedisch-Pommern über eine Pionier- und Festungsbauerkarriere in der Armee (er war es, der im Januar 1658 den Schweden die Route über das Eis des Kleinen und des Großen Belts absteckte, auf der zur grenzenlosen Verblüffung des dänischen Feinds die komplette Armee geradewegs auf Kopenhagen marschierte) stieg er zum Feldmarschall auf, wurde geadelt und zum Generalgouverneur von Bremen-Verden ernannt, 1696 mit 70 Jahren Generalgouverneur von Livland. Aus Protest gegen die Kriegspläne Karls des Verrückten, den Voltaire so bewunderte, daß er seine Biographie verfaßte, bat Dahlberg 1702 um seine Entlassung und kehrte nach Schweden zurück.
Sehr martialisch wirkt das alte Tor von Pärnu mit seinem geschwungenen Giebelaufsatz nicht, eher wie das Torhaus eines holländischen Barockschlößchens. Und ein bißchen abseits liegt es inzwischen auch, denn für Autos ist sein Doppeltor viel zu eng, und so mußten der Fortschritt und die Stadtentwicklung einen Bogen darum machen.
Wir schlendern aus der Altstadt durchs Tor ins sogenannte Kurviertel. Es ist so grün, daß es mehr wie eine Fortsetzung des lichten Küstenwalds denn nach Wohngegend aussieht. Ist es nicht wieder die enge Verbundenheit der Baltenvölker mit dem Wald, die hier sichtbar wird? Andererseits waren es wohlhabende Russen, die Pärnu seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Sommerfrische entdeckten, zum Kurort ausbauten und ihre Sommervillen zwischen die hohen Kiefern bauten. (Heute stehen einige von ihnen, frisch renoviert, für je eine Viertelmillion Euro zum Verkauf.) In den ausgedehnten Parks und Gärten, die bis unmittelbar an den breiten Strand heranreichen, ragen auch viele alte Kastanien und Eichen mit breiten Kronen in den blauen Himmel. Spontan beschließen wir, den ganzen Tag hier zu verbringen und die Seele heute bis in diesen Himmel baumeln zu lassen.

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Mittwoch, 30. September 2009
"There is no common Baltic identity."
Jaunpils Ein Stück Deutschland in vier Jahren?
Durchaus möglich. Aber noch kommen solche Zustandsaufnahmen aus Lettland, wo die Häßlichkeit durch ihre Einbettung in die umgebende Natur gemildert wird und manchmal fast etwas Malerisches erhält.


Estland ist anders. An weniger Orten so tiefgehend marode, wie wir es in Lettland zum Abschluß noch einmal in seiner ganzen deprimierenden Trostlosigkeit in der ehemaligen Hansestadt Lemsal (lett. Limbaži) mitansehen mußten. Zunächst einmal ist Estland vor allem leerer, hat, bei nur geringfügig weniger Fläche, kaum mehr als die Hälfte der Einwohner Lettlands. Zieht man einmal das Drittel Russen ab, bleibt weniger als 1 Million Esten übrig. Tendenz abnehmend.
Wir reisen auf der Via Baltica entlang der flachen Küste ein und sehen höchstens Kleinstortschaften. Ansonsten zur Linken im Westen das Meer hinter offenen Wiesen, rechts lange Waldstrecken mit darin eingebetteten Einzelhöfen. Meist sind sie in recht gutem bis frisch modernisiertem Zustand. Ich kann nicht genau benennen, woran es liegen mag, aber wir haben von der ersten Stunde an den Eindruck, daß die Atmosphäre hier nicht so drückt wie im Nachbarland. Es atmet sich jedenfalls sogleich irgendwie leichter und freier. Bei den ersten Begegnungen mit Esten zeigt sich auch, daß man anders miteinander umgeht. Es wird gegrüßt, und es darf sogar gelächelt werden.
“Das Baltikum” als eine Einheit zu betrachten, ist eben eine typische Außenperspektive. In den Ländern der Region sieht und betont man viel mehr die Unterschiede. Der auch am Ostsee-Kolleg der Berliner Humboldt-Universität unterrichtende litauische Politologe Mindaugas Jurkynas hat gerade erst Einwände gegen die vom derzeit schwedischen Ratspräsidenten angekündigte neue EU-Strategie für den Ostseeraum erhoben. Diese Region sei noch eine sehr junge Einheit, erinnerte er in dem litauischen Nachrichtenportal Delfi. Ihre Länder seien immer durch historische, religiöse, kulturelle und sprachliche Unterschiede voneinander getrennt gewesen. “To this day there is no common Baltic identity. Neither the Baltic countries nor the the Nordic states nor Russia see themselves as 'states of the Baltic Region'.”

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Sonntag, 27. September 2009
Stille, die bedrückend wirkt
Wie leise sich die Menschen verhalten, das war uns (zumal wir aus Holland kamen) seit dem Tag unserer Ankunft an nahezu jedem Ort in Lettland aufgefallen. Es machte den Eindruck, als würde es den Leuten schwer fallen, einmal zu lächeln oder auch nur zu grüßen. “Das ist die typisch östliche Unfreundlichkeit”, kommentierte die wojwodinische Herzogin aus ihrer profunden, jahrzehntelangen Erfahrung. “Je weiter du nach Osten kommst, umso mürrischer wird der Umgangston. Und vergiß nicht, jeder Dritte, dem du hier begegnest, ist Russe.” In der Tat hört man in Riga sehr häufig Passanten Russisch miteinander sprechen. Es scheint mancherorts gar noch die vorherrschende Verkehrssprache zu sein. Lettland ist praktisch zweisprachig. In manchen Landkreisen sind zugewanderte und angesiedelte Russen in der Mehrheit und die Letten eine Minderheit im eigenen Land. Die wirklich ziemlich verbreitete mürrische bis verstockte Grußlosigkeit geht so weit, daß man selbst in den Waschräumen auf Campingplätzen stumm und mit abgewandtem Kopf und Blick aneinander vorbeigeht.
“Vielleicht ist das Verhaltene und Geduckte den Menschen hier aber auch nicht per se eigen”, ergänzte die Herzogin nachdenklich. “Vielleicht ist es auch eine Folge von siebzig Jahren Bespitzelung, Überwachung und Unterdrückung. Wenn du damit rechnen mußt, daß alles, was du laut äußerst, der Staatssicherheit hinterbracht wird, gewöhnst du dir an, leise zu sprechen.”

Ein Drittes kommt noch hinzu: Armut. Aus der sind viele Leute hier sichtlich nie herausgekommen, und die akute Wirtschaftskrise frißt jetzt auch die kleinen Verbesserungen der letzten Jahre wieder auf. Nach dem EU-Beitritt vor fünf Jahren ging es mit der lettischen Volkswirtschaft von sehr niedrigem Niveau steil aufwärts. 2007 wuchs die Wirtschaft um 7%. Doch das Krisenjahr 2008 endete nach dem Crash schon wieder mit einem abrupten Sturz ins Negative, und in diesem Jahr steckt Lettland in einer massiven Rezession mit einer Schrumpfung der Wirtschaft um bisher 20%. Damit nicht alles zusammenbricht, mußte die Regierung beim IWF um Notkredite bitten, und der gewährte sie mit seinen üblichen, noch immer vom Neoliberalismus diktierten Auflagen, die u.a. staatliche Sparmaßnahmen verlangen, die besonders die kleinen Leute treffen. Dabei beträgt zum Beispiel in dem armen Landkreis Rezekne das durchschnittliche Einkommen schon jetzt gerade mal umgerechnet 100 Euro im Monat. Und das Preisniveau im Land ist nicht so, daß man davon leben kann. Kein Wunder, daß die Atmosphäre nicht gerade vor Fröhlichkeit strahlt. Zumal geschätzt mehr als zehn Prozent der jüngeren Leute nicht zur No-future-Generation werden wollen und bereits ausgewandert sind.

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Donnerstag, 24. September 2009
Cesis. Burg Wenden
Deutsche marschierten bekanntlich nicht erst unter dem Hakenkreuz im Baltikum ein. Böswillig könnte man es so ausdrücken, daß das deutsche Auftreten als Besatzer damals bereits seit 750 Jahren Tradition hatte. Denn nach Wikingern auf dem “Ostweg” nach Byzanz und Kaufleuten von Gotland waren zum Ende des 12. Jahrhunderts auch immer mehr Fernhändler aus dem Reich an der Dünamündung aufgetaucht, denen im Jahr 1201 der zum Missionsbischof von Livland ernannte Bremer Domherr Albrecht von Buxthoeven mit angeblich 1500 Pilgern (?) auf 23 Schiffen folgte, um eine Stadt zu gründen, die nach einem Flüßchen, das bei der Landungsstelle in die Düna mündete, Riga genannt wurde. Sein Auftrag war es, die baltischen Heiden auf die eine oder andere Art zum Christentum zu bekehren. Ehemalige Kreuzritter aus Westfalen gründeten 1204 den Orden der Fratres miliciae Christi de Livonia, im Deutschen wegen ihres Abzeichens (ein rotes Kreuz über einem auf der Spitze stehenden roten Schwert) meist verkürzt Schwertbrüderorden genannt, und stellten sich zunächst Bischof Albrecht als sein bewaffneter Schwertarm zur Verfügung. In wenigen Jahren eroberten sie Livland und Estland, ehe sie im September 1236 bei Šiaulen/Schaulen - ähnlich wie früher einmal Varus - in sumpfigem Gelände von Litauern und Schemaiten gestellt und beinahe vollständig aufgerieben wurden. Die überlebenden Ritterbrüder wurden dem inzwischen in Preußen ansässigen Deutschen Orden eingegliedert. Hauptsitz der Schwertbrüder und ihres Ordensmeisters war die 1209-24 errichtete Burg Wenden, das spätere Cesis, die im Lauf der Jahre zu einer uneinnehmbaren Feste ausgebaut und am Ende 1577 von den Ordensrittern selbst zerstört wurde, damit sie nicht in die Hände des Livland erobernden Zaren Ivan, genannt der Schreckliche, fiel.
An dem Sonntag, an dem wir Stadt und Burg besuchten, wirkten sie unter dem grauen Himmel so bedrückend ausgestorben und öde, als hätten sie sich seit damals nie wieder erholt. Bis auf einen einzigen Grillimbiß war alles geschlossen, und außer ein paar Besuchern der Burg, die auf der Suche nach Eßbarem durch die Straßen irrten, war kein Mensch unterwegs, bis sich die Türen der Kirche öffneten. Ein voll besuchter Gottesdienst am Sonntagnachmittag. Posttransitionsfrömmigkeit. Eines der unverständlichen Phänomene in allen ehemals sowjetischen Ländern.

Cesis

In der Hoffnung auf einen leckeren Nachmittagstee liefen wir Ungurmuiza an, wurden aber in dieser Hinsicht enttäuscht. Der Teepavillon war verbarrikadiert. Dafür erwartete uns eine barocke Schloßanlage in bescheiden ländlicher Manier und voll und ganz in Holz ausgeführt, inklusive der imitierten Quadersteine an den Hausecken. Alles so still, daß es den Schauplatz für eine Tschechow-Novelle abgegeben haben könnte.

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Sonntag, 20. September 2009
Schatten der Vergangenheit, nicht abzuschütteln.
Zum ehemaligen Reichskommissariat Ostland
Da hatte sie uns nach wenigen Tagen schon eingeholt, die Geschichte. Genauer gesagt, auch meine eigene, deutsche Geschichte, und zwar in ihren dunkelsten und brutalsten Ausprägungen. Hitlers Wehrmacht war hier im Zweiten Weltkrieg einmarschiert, um zu erobern, zu herrschen, und damit “Untermenschen” unterjocht und ausgerottet werden konnten. Nur einen Monat nach dem Angriff auf die Sowjetunion wurde im Juli 1941 das Reichskommisariat Ostland gebildet. Reichskommissar und damit neben Wehrmacht und SS sein ziviler Herrscher wurde - bis zu seiner Flucht im August 1944 - der NSDAP-Gauleiter von Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse. Er versah beide Ämter in Personalunion und versorgte so viele seiner norddeutschen Gesinnungsgenossen mit annähernd tausend in den besetzten Gebieten neu geschaffenen Posten (mit denen sie nebenbei auch um die Einberufung zur Front herumkamen), daß sich sagen läßt, das Baltikum sei von Schleswig-Holsteinern regiert worden. Lübecks damaliger Oberbürgermeister Otto-Heinrich Drechsler etwa wurde Generalkommissar von Riga und Lettland.


Drechsler, Lohse, Rosenberg

Die im August ‘41 erlassenen "Vorläufige Richtlinien für die Behandlung der Juden im Gebiet des Reichskommissariats Ostland" machten die “Goldfasane” der deutschen Zivilverwaltung auch dadurch, daß sie die Selektion der zur Zwangsarbeit "nicht mehr benötigten Juden" vornahmen, zu unmittelbar Beteiligten am Holocaust”, schrieb Uwe Danker, Leiter des Instituts für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte an der Universität Flensburg, 1999 in seinem Beitrag zur Wehrmachtsausstellung im Kieler Landeshaus. (Vgl. zuletzt auch die Tagungsberichte zur Konferenz über das Reichskommisariat Ostland an der Universität Flensburg Ende Mai dieses Jahres.)
“Die statistische Teilbilanz des Völkermordens in dieser Region: Von mindestens 500.000 - es gibt inzwischen genauere Schätzungen - im Gebiet des Reichskommissariats 1941 angetroffenen, rassisch definierten Juden lebten 1945 nach der Befreiung keine 10.000 mehr.” (U. Dankert, a.a.O.)

Im Januar 1948 wurde Hirnich Lohse von der Spruchkammer Bielefeld zu zehn Jahren Haft und Vermögensentzug verurteilt. Schon 1951 wurde er krankheitshalber in die Freiheit entlassen. - Drei Jahre Gefängnis für annähernd eine halbe Million Menschenleben auf dem Gewissen. Und zwar im vollen Bewußtsein der eigenen Schuld. Schon 1942 hatte Lohse seinen Stellvertreter zweimal im NS-Reichsjustizministerium nachfragen lassen, ob und inwieweit seine Verantwortung bei den “Judenvorgängen” justiziabel sei. Unrechtsbewußtsein? Fehlanzeige. Wie so viele NS-Täter beteuerte Lohse nach dem Krieg vor Gericht, er sei eigentlich dagegen und ein heimlicher Widerständler gewesen, und “im November 1951 erstritt sich Hinrich Lohse vor Gericht 25 Prozent seiner Pensionsansprüche”.

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