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Donnerstag, 17. September 2009
Lettland, 23. August 2009

Es ist noch früh am Sonntagmorgen, als wir Riga von West nach Ost noch einmal durchqueren. Die Stadt schläft noch, oder die Einwohner sind in der Kirche. (In Jurmala sahen wir, wie sie sich in die kleine, türkisblau gestrichene Holzkirche der Orthodoxen schoben.) Kemeri haben wir uns noch angesehen, wegen seiner schwefelsauern Mineralquellen war es einst ebenfalls ein Kurort. Die Holzschlößchen aus der Zarenzeit schlummern im melancholischen Nieselregen leise modernd vor sich hin, ihre Farben sind längst verwittert. Zwei sowjetische “Kraft durch Freude”-Bunker wurden nie fertiggestellt, die Renovierungsarbeiten am großen Sanatorium aus der Zwischenkriegszeit scheinen im jüngsten Crash steckengeblieben zu sein. Ein deprimierender Anblick. Schwer vorzustellen, daß Kemeri einmal wieder so auf die Beine kommen könnte wie Jurmala, das immerhin mit einem breiten Sandstrand direkt am Meer liegt.

Unser erstes Ziel an diesem Tag ist die Gauja. Das lettische Wort soll in etwa “groß” oder “viel” bedeuten. In der finnougrischen Sprache der Liven hieß der Fluß Koivo, “heiliger Fluß der Birken”. Damals, in vorchristlicher Zeit, war er der Grenzfluß zwischen Latgallen und Livland. Nicht weniger als 18 ehemalige Hügelburgen hat man an seinen Ufern bislang lokalisiert. “The Livonian lands were the first, that experienced German aggression in the Baltic”, heißt es auf einer Anschlagtafel am Flußufer. “Already in the 12th century the first preachers of the Christianity appeared.” Heute leben kaum mehr als 1000 Angehörige dieses seit mehr als 3000 Jahren hier ansässigen Volkes in ein paar unauffälligen kleinen Fischerdörfern an der Küste (die wir uns am Vortag angesehen haben). Es heißt, daß nicht mehr als vielleicht zwei Dutzend Menschen noch die alte livische Sprache beherrschen. Sie gilt damit als praktisch ausgestorben.
1973 wurde ein Teil des Flußlaufs zum ersten lettischen Nationalpark erklärt, denn am Ende der letzten Eiszeit hat sich die Gauja mit ihren Schmelzwasserströmen bis zu 85 Meter tief in ockerroten Sandstein gegraben und Lettland so seine einzige nennenswerte Felsschlucht beschert. Dieser “old red Sandstone”, wie ihn Geologen nennen, entstand, nachdem vor rund 400 Millionen Jahren die Urkontinente Laurentia und Baltica zusammenstießen und im “Zeitalter der Fische”, dem Devon, den Kontinent Laurussia (oder Euramerika) bildeten.
Auf staubenden Schotterstraßen durch sehr hohe, alte Kiefernwälder erreichen wir den Fluß bei den Katarakten von Kuku. Im Frühjahr soll die Gauja hier wahrhaft herabtosen; jetzt gluckert ein moorbraunes Wässerchen harmlos um die Steine der leicht verblockten Stelle. Sogar für Teichrosen ist das Wasser ruhig genug. Wir stehen auf einer Sandbank am Ufer und freuen uns gerade an der großen Stille, in der man jeden Vogelruf aus dem Wald und das Schnappen der Fische im Wasser hört, als ein großes Floß um die oberhalb liegende Biegung treibt. Etwa zwanzig junge Leute darauf, mit Ghettoblaster, rauchendem Grill und der roten lettischen Nationalflagge aufgepflanzt. Ziemlich unkoordiniert mit Paddeln stochernd kreiseln sie durch die Stromschnellen und treiben dann stolz und johlend an uns vorüber.
Als wir über ein paar wunderschöne Lindenalleen bei Karlj wieder die Hauptstraße erreichen, werden wir bald an einer Absperrung gestoppt, an der sich eine kleine Menschenmenge versammelt hat. Sie bildet ein breites Spalier, und bald taucht ein Pulk Läufer auf. Ihm folgt ein zweiter, ein dritter. Wir sind in einem Volkslauf gelandet. Auffällig ist nur, daß jede Gruppe an ausgestreckten Armen über den Köpfen das lettische Banner flattern läßt. Ist das der unvermeidliche Nationalismus einer Nation, die vor wenigen Jahren erst zum zweiten Mal in ihrer Geschichte die Unabhängigkeit errungen hat?


Dann geht uns auf, heute ist Sonntag, nicht irgendein Sonntag, sondern der 23. August 2009, der siebzigste Jahrestag des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrags, bei uns üblicherweise Hitler-Stalin-Pakt genannt und in seiner Wahrnehmung heutzutage deutlich hinter dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September ‘39 zurückstehend. In den Ländern, die von diesem Pakt betroffen wurden, ist das anders. Für die Balten steht der Molotow-Ribbentrop-Pakt, wie sie ihn nennen, und das Datum des 23. August 1939 (damals war es ein Samstag) für den Auftakt zur Aufteilung, Besetzung und Unterdrückung ihrer Länder, für Verschleppung und Ermordung großer Teile ihrer Bevölkerung sowohl durch Russen wie durch Deutsche. Die Existenz eines mit dem Pakt unterzeichneten Geheimen Zusatzprotokolls wurde seit dem Krieg von offizieller sowjetischer Seite stets geleugnet, bis es der estnische Historiker Heino Arumäe 1988 in vollem Wortlaut veröffentlichte. Sein erster Punkt lautete:
“ Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland und Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphäre Deutschlands und der UdSSR.”

Hitler empfängt strahlend Ribbentrop nach dessen Rückkehr aus Moskau im August '39

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Dienstag, 15. September 2009
Kolkasrags
Hohe Stockrosen, blühende Bauerngärten, Apfelbäume, deren Äste sich unter der üppigen Last ihrer Früchte schwer nach unten bogen, hellgrün mit ihrem Laub herüberwinkende schlanke Birken in schmal geschnittenen weißen Kleidern, immer wieder Sonnengeflirre zwischen den japanischen Schattenrissen licht stehender Kiefernhaine: es lag etwas, nein, nicht Liebliches, aber doch eine sommerlich heitere Atmosphäre über Kurland an diesem Augusttag.
Je weiter wir hinaus kamen, der Spitze der breiten Halbinsel zu, desto seltener wurden die offenen Wiesen und Lichtungen mit der scheinbaren kleinbäuerlichen Idylle, desto länger dehnte sich der Wald zusammenhängend, wichen die Kiefern mit Schiefwuchs vor einem beständigeren Winddruck zur Seite, wurde ihre Borke rauher und rissiger. Dann ganz hinaus auf die äußerste Spitze, wo die Wellen der großen Rigaer Bucht und die Ostsee aus entgegengesetzten Richtungen kommend aufeinander einschlagen. Kap Kolka, auf Lettisch klingt es noch passender, wie heiseres Rabengekrächz: Kolkasrags.
Das letzte Stück zu Fuß durch einen verwunschenen Wald. Dichte Moospolster, Blaubeer- und Preiselbeergestrüpp bedecken den Boden zwischen gewundenen und gedrehten Baumstämmen. Immer wieder habe ich unversehens klebrige Fäden im Gesicht, weil Spinnen unsichtbare Netze mit einer Spannweite von zwei bis drei Metern von Stamm zu Stamm gewebt haben. Lange bevor wir es sehen, hören wir das Meer das ohnehin schon laute Brausen des Windes überrauschen. Dann sehen wir es, aufgewühlt grünbraun und mit weißen Schaumkronen, zwischen den Stämmen heranrollen, treten hinaus aus der letzten Baumreihe auf den breiten Strand, der übersät ist mit entwurzelten, umgeworfenen und wieder angespülten Treibholzstämmen. Ebenso zahlreich sollen die Schiffswracks sein, mehr als sonstwo in der Ostsee, die draußen vor dieser Landspitze liegen, mit ihren Strömungen, die immer neuen Sand herantragen und zu Untiefen ablagern. Deshalb steht der Leuchtturm weit draußen, fast auf der Kimmlinie, auf einer künstlich erhöhten Sandbank. Der muß es gewesen sein, den wir in der Nacht vom Schiff aus so lange sehen konnten.
Kolkasrags, ausgesetztes Kap zweier Meere, deren Winde dir die Bäume zu Berg bürsten; Salz in der Luft, der Wind orgelt in mittleren Basslagen ein Rezitativ von Arvo Pärt, die Mauern einer sowjetischen Beobachtungsstation liegen schon geborsten in einem Walddickicht verstreut, Habichte streichen flach über die Bäume, sechs Stück.


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Sonntag, 13. September 2009
In Kurland unterwegs
Raus aus Riga, und schon hat uns der Wald. Seine Säulenreihen aus hohen, geraden Stämmen tragen das blaue Himmelsgewölbe hoch über uns, sein Laub oder Nadelwedel sieben das Sonnenlicht; abwechselnd tannengrün oder im hellen Grün junger Birken kommt es unten bei uns an. Angenehm und entspannt rollt es sich auf dem Grund dieses Baummeers, das sich vor uns teilt und teilt und hinter uns geräuschlos wieder schließt. Wir sitzen in dem Schlitten auf diesem Reißverschluß, das Schiebedach weit geöffnet, und schnurren dahin. Die zweispurige Straße ist tadellos.

12 Kilometer südlich von Šlokenbek liegt ein winziger, halb vergessener Waldfriedhof nahe der Straße. Ein schmiedeeisernes Kreuz steht für eine Linda von Hüsselem, geboren 1800, - unsere erste deutsche Spur im Baltikum. Daneben gibt es auch Grabsteine mit lettischen und russischen Inschriften, halb in den Birkenwald zurückgesunken; der alte Friedhof aber wird noch gepflegt, wie man an einer von Unkraut befreiten Einfassung oder einem vor nicht langer Zeit gepflanzten Blümchen erkennen kann. Doch nirgends wird der Eindruck, daß dieser Ort dem Wald gehört, durch übertriebene Akkuratesse, klinisches Stutzen, Harken und Laubablesen oder polierte Grabmale gestört. Später sehen wir, daß die Letten und auch die Esten ihre Friedhöfe fast durchweg und mit Vorliebe in Wäldern anlegen. Ein schöner Brauch. Der vielleicht etwas über ihre Verbundenheit mit dem Wald aussagt, den Toten aber jedenfalls eine angenehme letzte Ruhe läßt.
(Anders als so mancher Gottesacker bei uns, der gleich hinter der Lärmschutzwand einer Autobahn und in der Einflugschneise eines Flughafens liegt.)
Hinter Gut Schlockenbeck, im Jahr 1484 von einem von Butler als wehrhafte Vierflügelanlage gegründet, rollen wir dann durch lichte Kiefernwälder zum Westufer der Rigaer Bucht und daran entlang nach Norden. Links, hinter Uferwäldern verborgen, die langgestreckte Lagune des Engure-Sees, rechts, immer wieder zwischen den schönen, rötlichen Stämmen der Kiefern mit ihrem filigranen Nadelwerk aufblitzend, die Ostsee. Die alten, aber nicht heruntergekommenen einzelnen Bauernhöfe mit Scheunen und Ställen und wohlbestellten Gemüse- und Obstgärten erwecken - zumal bei diesem milden Sommerwetter - den Eindruck, daß es der Landbevölkerung in dieser Gegend, zumindest was die Versorgung angeht, auch zu Zeiten, als Lettland eine Sowjetrepublik war, nicht ganz schlecht gegangen sein kann. Trotzdem sind wir überrascht, was für ein geschmackvoll modernisiertes Boutiquehotel bei Kaltene steht. Finnisches Design, zuckt mir spontan durch den Kopf, und dann wohl auch finnisches Kapital. Schwere, grobe Balken und freigelegte alte Mauern in den bis ins Dach geöffneten alten Gebäuden, kombiniert mit großen, glatt verputzten Flächen, neuem Eichenparkett, modernen Designerleuchten und Armaturen. Die Neubauten streng kubisch, aber warm mit rotem Holz verkleidet; kühle Rechtecke gegen die vertrauten Winkel alter Dächer und Rundungen alter Steine. Gut gemacht. Dabei zu bezahlbaren Preisen. Das Mittagessen im Restaurant war jedenfalls lecker und sehr günstig.

Dachschindeln aus Birke

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Freitag, 11. September 2009
Riga rediviva
Riga war einmal eine elegante Dame, eine Mondäne mit Wagenradhut, weißen Handschuhen und Zigarettenspitze. Schon zur Stauferzeit von Bremen als Missionsbistum gegründet, wuchs die junge Stadt schnell und stieg bald zum unmittelbaren Reichslehen und Erzbistum auf, ihre Kaufleute wurden in der Hanse reich und mächtig, im 17. Jahrhundert war sie die zweitgrößte Stadt des gesamten schwedischen Ostseereichs, unter der Zarenherrschaft ein wichtiger russischer Ostseehafen und ein Fenster zum Westen, sein Bürgertum weltoffen, kulturell und an internationalen Entwicklungen interessiert.
Riga, Elisabetes iela 10, M. Eisenstein In Riga lebte um diese Zeit der Wagner-Biograph Glasenapp, der Philosoph Isaiah Berlin wurde dort im gleichen Jahr 1909 geboren wie Heinz Erhard. Auch Gidon Kremer und der Tänzer Baryshnikov kamen später dort zur Welt.
In der Neustadt entstanden nach der Wende zum 20. Jahrhundert ganze Straßenzüge in reichstem ornamentalem Jugendstil. Mehr als fünfzig Häuser stammen allein von dem deutschbaltischen Architekten Michail Eisenstein, Sergej Eisensteins Vater.
Alle architekturgeschichtlichen Jahresringe seit der Spätgotik hat Riga angesetzt und trotz starker Beschädigungen in beiden Weltkriegen heute noch auf den Rippen. Viele der historischen Gebäude sind seit der erneuten Unabhängigkeit renoviert und strahlen in frischen Farben wie das um 1330 erbaute Schwarzhäupterhaus der Vereinigung unverheirateter (!) Fernkaufleute.

Schwarzhäupterhaus Aufschlußreicher noch finde ich es jedoch, an etlichen Häusern die Palimpseste der Sowjetzeit zu finden. Manche der Jugendstilhäuser etwa sind so geleckt, daß selbst das Psychotherapeutenpaar darin seine angemessene Altbauwohnung finden kann. Geht man aber durch die Toreinfahrten in die Hinterhöfe, sieht man noch ein ganz anderes Gesicht der Stadt aus einer sehr viel kargeren Ära. Die Wohnungen, so stellt man sich vor, wurden vielleicht in den siebziger Jahren zum letzten Mal tapeziert und stehen noch voll mit wuchtigen dunklen Möbeln aus der Prä-Ikea-Zeit. À propos: selbst Holzhäuser sind in der Neustadt noch recht zahlreich und leider meist in einem ziemlich beklagenswerten Zustand. Auch da dürften Grundstücksspekulanten eher auf die Abrißgenehmigung warten, anstatt Zeit, Arbeit und Geld in eine Sanierung der Häuser zu investieren, die nicht genügend Stockwerke für eine lohnende Rendite aufweisen.
Für eine Dreiviertelmillionenstadt geht es in Riga erstaunlich ruhig und gelassen zu. Auch nach Mittag noch herrscht in manchen Straßen der Altstadt eine fast morgendliche Stimmung, so überschaubar ist die Zahl der Fußgänger. Wer Holland kennt, wird den Eindruck haben, daß die Passanten in Riga eher leise miteinander reden; häufig hört man Russisch, aber Englisch geht in Restaurants und Geschäften auch ganz leidlich.

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Donnerstag, 10. September 2009
Kontraste in Jurmala
“Zu Beginn des 19. Jh. begannen die Rigaer Jurmala als Erholungsort zu entdecken, vor allem seit Zar Nikolaus I. 1838 die kleine Ortschaft Kemeri zum Kurort ernannt hatte”, schreibt der Reiseführer. “Schnell wurde die aufstrebende Stadt international bekannt und zu einem beliebten Treffpunkt der europäischen Highsociety, was die renommiertesten Architekten des Landes dazu bewog, in dem beliebten Kurort einige Meisterwerke zu schaffen - mit der angenehmen Folge, dass heute in Jurmala mehr als 200 Architekturdenkmäler zu bestaunen sind.”


Well, wenn auch die momentane Wirtschaftskrise einmal überwunden wird, sollte Jurmala zu den Gewinnern eines nächsten Aufschwungs gehören, denn es ist imgrunde schon alles da, um der Dreiviertelmillion aus der nahen Hauptstadt und zahlreichen fremden Urlaubsgästen einmal das Flair eines traditionsreichen Kur- und Badeorts zu bieten. Noch aber stehen auf der 25 Kilometer langen, schmalen Halbinsel zwischen der Rigaer Bucht und dem schilfgesäumten Flüßchen Lielupe, in dem vom Boot oder vom Ufer aus viel geangelt wird, etliche höchst verfallene Zarenschlößchen, deren Gerüste selbst schon wieder morsch geworden sind, - gleich neben perfekt herausgeputzten und von Sicherheitsfirmen überwachten Sommervillen, deren Rasen mit der Nagelschere gepflegt wird.

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Dienstag, 8. September 2009
Ankunft in einem noch fremden System
Nach langsamer Fahrt durch die Nacht - steuerbord blinkte ein Leuchtturm in der Dunkelheit, an dem wir lange, lange nicht vorbei kamen, - liefen wir in den frühen Morgenstunden des 21. August in die weite Mündung der Düna ein. Das Land war flach, von niedrigem Uferwald bestanden. Ein leiser, kühler Morgenwind riffelte dem Fluß eine Gänsehaut. Wieder ein Leuchtturm zur Rechten. Weiter landeinwärts stachen die Nadeln von Masten und Kränen aus dem schwach geröteten Morgenlicht. Eine Militäranlage, Flottenbasis, ein paar große Öltanks, Lagerhäuser, Industrieanlagen, aber von der eigentlichen Stadt nichts zu sehen. Hinter wie vielen Flußbiegungen mochte sie liegen? Doch schon rumorte die Maschine auf, die Schrauben quirlten das Wasser schaumig, wir drehten bei und manövrierten rückwärts an eine Pier. Unser Bote setzte uns im Irgendwo einer namenlosen, ziemlich trist bröckelnden Hafenanlage an Land. Rissiger Asphalt, darin mit braunem Wasser gefüllte Schlaglochpfützen, rostiges Eisen, grauer Beton, das Gelände abgeriegelt mit einem massiven Eisenzaun. Die ersten Autos rollten wie blinde Käfer aus dem Schiffsbauch und torkelten auf der Suche nach einer Ausfahrt unsicher über das Gelände. Dann formierte sich eine Schlange, wir reihten uns ein, Paßkontrolle. Wieso eigentlich, befinden wir uns nicht nach wie vor innerhalb der EU? Aber schon hat man sich der Autorität der Uniformen gefügt und zeigt seine Papiere vor. Der Schlagbaum geht hoch, wir rollen in ein unbekanntes Land, das vor nur zwanzig Jahren noch zur fast unerreichbaren Terra incognita des sowjetischen Imperiums gehörte.
Die Straße führt in eine gerade erwachende Arbeitervorstadt mit grauen Plattenbauten, im Erdgeschoß kleine Geschäfte, vor allem Apotheken, die alle Arten von drogas zu führen scheinen. “Ja, ja”, nickt Miss Serbien auf dem Beifahrersitz, “das war bei uns genauso, als wir zum Kapitalismus konvertierten. Als erstes schossen Apotheken aus dem Boden, weil man mit Markenmedikamenten und -präparaten aus dem Westen einen Riesenreibach machen konnte.”
Verschlafen guckende Menschen stehen in kleinen Gruppen schweigend an Haltestellen und warten auf den Bus, der sie zur Arbeit in die Stadt bringt. Es sind O-Busse, “die Pest des öffentlichen Nahverkehrs”, wie es lapidar vom Nebensitz heißt, weil sie mit ihren Ausfällen und Kurzschlüssen zumindest in Belgrad immer wieder das ganze Verkehrssystem zum Erliegen bringen sollen. Tatsächlich bildet sich auch hier an einer einspurig verengten Stelle ein Stau, weil ein Bus traurig die langen Fühler seiner Stromabnehmer hängen läßt. Ansonsten ist die Fahrt durch den Berufsverkehr - trotz sparsamer Beschilderung - nicht schwierig; es wird ruhig und zivilisiert, ja, rücksichtsvoll gefahren. Wir kommen auch ohne Stadtplan oder Navigations-Else in die Innenstadt und gleich wieder hinaus, denn wir wollen erst einmal außerhalb in einem Badeort an der Bucht unser Zelt aufschlagen.

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Montag, 7. September 2009
Rätselfrage
Wohin die Reise geht, ist das nicht die Frage, die wir uns immer wieder stellen, auf die wir aber im Leben bis zur letztgültigen Gewißheit nur einstweilige Antworten wissen? Bis zur nächsten Etappe. Erstes Anlaufziel war diesmal die Stadt, in der folgendes Denkmal steht:


Johann Gottfried Herder, der folgenreichste deutsche evangelische Geistliche nach Luther, der bei Kant studierte, Goethe und die gesamte deutsche Romantik befeuerte, lebte von 1764-69 fünf Jahre lang in dieser "Stadtrepublik", ehe er in seine Kritischen Wälder zog. Auch er so ein Waldgänger.

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Montag, 7. September 2009
MS Envoy
Endlich Gelegenheit, ins Fahrtenbuch zu schreiben.

Nach zwölf flüchetreibenden Baustellen allein in dem Autobahnabschnitt zwischen Bremen und Hamburg endlich Ankunft in Lübeck. Es lag unter der knallenden Augustsonne so lärmend schön da wie die badenden Kinder im Krähenteich. Pünktlich um neun am Abend legte die dreißig Jahre alte MS Envoy unter einer qualmenden Rauchfahne vom Kai in Travemünde ab.
Wir fuhren “Holzklasse”, verließen aber mitten in der Nacht den zugewiesenen stickigen Verschlag, den wir mit einer Schulklasse teilten, und rollten uns auf den Polstern der leeren Bar in die Schlafsäcke.
Erwachen gegen 7: die Sonne strahlte durch die Fenster. Steuerbord achteraus vermutlich Bornholm. Nach dem Frühstück aufs Sonnendeck. Das Schiff zog ruhig und stetig seine Bahn, der Horizont blieb immer der gleiche, hob und senkte sich langsam im Rhythmus der leichten Dünung, die uns sanft wiegte. Die Ostsee war von einem mit dünnem Glasschmelz überzogenen Tintenblau, unter der Sonne gehämmertes Altsilber. Die Kraft der Maschine lief ab und zu wie ein Erschauern durchs Schiff, wenn es auf eine Welle schlug, und schob es, nicht schnell, nicht langsam mit sechzehn Knoten durchs Wasser seinem Ziel entgegen. - Das war Reisen, bei dem die Seele mitkam und obendrein Zeit fand, Altes abzustreifen und sich mit Vorfreude neuen Eindrücken zu öffnen. Meine Augen wurden weit offenstehende Fenster, ich ein Gefäß, das Welt in sich aufnahm. Und die Welt war weit und groß.
Irgendwann am Nachmittag trieb Gotland vorüber. Unverkennbar, die flache Kalksteinplatte.
Im Verlauf dieses sonnendurchschmolzenen, müßigen Sommertags an Deck stellte sich ein Zeitgefühl ein, ähnlich dem, das Tucholsky in seinem Gripsholmer Sommerbuch gestaltet:
“... das Wasser gluckste leise gegen das Holz, auf und ab, auf und ab... Wenn man die Hand ins Wasser hielt, gab das ein winziges Kältegefühl, dann zog man sie wieder heraus, und dann trockneten die Tropfen in der Luft. Ich rauchte einen Grashalm, die Prinzessin hielt die Augen geschlossen. “Heute ist vorgestern”, sagte sie.


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Mittwoch, 29. Juli 2009
Wellen
Herrliche Sandstrände zieren die Ostküste Gotlands, und sie sind selbst im Hochsommer nicht überlaufen. Schweden haben eine andere Fluchtdistanz als Mittel- und Südeuropäer. 50 Meter von Handtuch zu Handtuch sind hier der Mindestabstand, 100 Meter sieht man lieber zwischen sich und dem nächsten Sonnenbader. Man kann ja auch ein Stück weiterlaufen. Da ist dann fast niemand mehr. Oder man läßt sich irgendwo in den rückwärtigen Dünen nieder, wo man nicht mehr gesehen und gehört wird. Vom Dünenkamm geht der Blick weit auf die Ostsee hinaus, die nächste Küste ist die des Bernsteins und des Baltikums; Kurland. Da paßt die mitgebrachte Urlaubslektüre ganz gut, und der Fahrtenbuchschreiber streckt sich behaglich im sonnenwarmen Sand aus.


“Eleganz des Dialogs” hat man dem Autor bescheinigt, und, ja, es gibt hinreißende Konversationen in seinem Roman eines kurzen Sommers, Wellen, von 1911. Da betrachten zum Beispiel zwei alternde Damen das bunte Treiben der Jugend am Strand, und die eine bemerkt zur anderen: “Ach ja, daß das, was wir in unserer Jugend Hüften nannten, immer mehr abhanden kommt!”
Überhaupt diese alte Generalin und ihre desillusioniert zupackende Lebensweisheit. Als sich ihre Tochter einmal mehr in eifersüchtigem Gejammer ergeht, schneidet sie ihr das Wort ab: “Es ist immer dieselbe Geschichte, wenn ihr heiratet, wollt ihr hübsche Männer haben, aber ein hübscher Mann konserviert sich länger als unsereins, der bringt keine Kinder zur Welt, er schont sich mehr und da dauert die Lust am Kokettieren länger als bei uns. - Die Ehe, meine Liebe, versetzte die Generalin, ist vielleicht sehr heilig, aber unsere Männer sind es nicht.”

So weit ruht alles in seiner “natürlichen Ordnung”; nun wird aber das Sommeridyll der von Butlaers in Eduard von Keyserlings Wellen dadurch gestört, daß in dem kleinen Fischerort auf der Kurischen Nehrung neuerdings eine attraktive Frau lebt, die sich auch einmal nicht heilig verhalten hat, und dieser Faux pas reicht, um eine ganze Romanhandlung in Gang zu halten.
Wenn ich Romane aus “Kaisers Zeiten” lese, beschleicht mich nach einer Weile häufig das Gefühl, den Figuren oder dem Erzähler zurufen zu wollen: Nun kommt mal langsam zum Wesentlichen! Permanent haltet ihr euch beim decorum auf, den gesellschaftlichen Äußerlichkeiten, den Konventionen. Fontanes Gesellschaftsromane führen einem dann vor Augen, wie sehr damals das Äußerliche das Eigentliche, wie hohl die Gesellschaft der Kaiserzeit war. Keyserling wird oft als “baltischer Fontane” etikettiert, und dieses zweifelhafte Lob (ich empfinde es eher als Herabsetzung, wenn man einen Autor dadurch zu loben meint, daß man ihm den Namen eines anderen aufdrückt) hat zumindest insofern seine Berechtigung, als auch Keyserling stark die strenge Etikette der damaligen Kastengesellschaft thematisiert. In Wellen löst schon allein die Frage, wie man denn nun mit jener Frau umgehen soll, falls man ihr womöglich einmal beim Strandspaziergang begegnen sollte, turbulente Hektik aus. Wieder bringt die Generalswitwe die aufgeregte Debatte auf den Punkt. “Die Generalin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: Natürlich, das mußte ja so kommen, du bist jetzt schon auf diese Madame Grill eifersüchtig. Aber, liebe Bella, so ist dein Mann denn doch nicht. Na ja, immer die eine alte Geschichte mit der Gouvernante; die könntest du auch allmählich vergessen. Ab und zu mal im Frühjahr regt sich in ihm noch der Kürassieroffizier, das ist eine Art Heuschnupfen. Aber ihr Frauen bringt durch eure Eifersucht die Männer erst auf unnütze Gedanken. Nein, liebe Bella, wozu ist man, was man ist, wozu hat man seine gesellschaftliche Stellung und seinen alten Namen, wenn man sich vor jeder fortgelaufenen kleinen Frau fürchten sollte. Du bist die Freifrau von Butlaer, nicht wahr, und ich bin die Generalin von Palikow, nun also, das heißt, wir beide sind zwei Festungen, zu denen Leute, die nicht zu uns gehören, keinen Zutritt haben. So, nun wollen wir ruhig schlafen gehen, als gäbe es keine Madame Grill. Wir dekretieren einfach, es gibt keine Madame Grill.”

Es ist ja hinlänglich bekannt, und doch wird mir durch solche Romane immer wieder aufs Neue nachvollziehbar, was für einen Kulturbruch der Erste Weltkrieg und die revolutionären Ansätze des Jahres 1918 bedeuteten. Das davor war Die Welt von Gestern, aber vielleicht doch auch in einem anderen Sinn als dem, den Stefan Zweig darin sah.

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