Freitag, 9. Oktober 2015
Mit Flüchtlingen im Nachtzug durch Deutschland
„Entgegen den Voraussagen des Schaffners und den Behauptungen des Fahrplans fuhr der Zug noch nicht ab. Etwa hundert Reisende, von obstgefüllten Koffern und Säcken umgeben wie Markthändler, schöpften neuen Mut und verdoppelten ihre Anstrengungen, doch noch in den Zug hineinzukommen. Einigen gelang es durch die Fenster. Frauen irrten am Zug entlang, unter der Last ihrer Obstsäcke fast zusammenbrechend, und schrien verzweifelt, sie müßten mitfahren, ihre Kinder seien zu Hause in das Zimmer eingeschlossen” (Der Ruf, 2, 1947).
Siebzig Jahre ist es her, seit solche Züge durch Deutschland rollten. Züge, ebenfalls voller Flüchtlinge.
"Ihr Lied gönnt uns den Schlaf nicht und scheucht noch grausam die friedlichen Dörfer rechts oder links aus den Träumen, daß die Hunde heiser werden vor Wut. Und sie rollen schreiend und schluchzend, die Grausamen, Unbestechlichen, unter den matten Gestirnen, und selbst der Regen macht sie nicht milde. In ihrem Schrei schreit das Heimweh, das Verlorene, Verlassene - schluchzt das Unabwendbare, Getrennte, Geschehene und Ungewisse. Und sie donnern einen dumpfen Rhythmus, unselig und untröstlich, auf den mondbeschienenen Schienen. Und du vergißt sie nie. Sie sind wie wir." (Wolfgang Borchert: Eisenbahnen, nachmittags und nachts, 1947)
Und jetzt rollen sie wieder.
„Zwischen Bahnhof und Messe. Hannover. Eine Welle warmer, dicker Luft schlägt mir entgegen, als ich die Treppe vom Bahnsteig 3 zum Tunnel heruntergehe. Zwischen Säcken, Pappkartons, Koffern, Apfelschalen, Papierfetzen und leeren Zigarettenschachteln sitzen und liegen Hunderte von Menschen entlang der feuchten, glitzernden Wände... Ein paar Glühbirnen werfen ein spärliches Licht in den Gang und lassen die nächsten Gestalten etwas deutlicher werden. Neben mir schläft eine Frau, den Rücken gegen einen prallen Rucksack gelehnt. In den Armen hat sie ein kleines Kind, das dick eingewickelt ist.” Der Ruf , 2,1947, aber ich hätte genau eine solche Frau mit Kind auf der Flucht auch 2015 im Bahnhof Hannover fotografieren können, als ich aus dem überfüllten Zug stieg.
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