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Freitag, 9. Oktober 2015
Mit Flüchtlingen im Nachtzug durch Deutschland
Der Zug kam direkt aus Wien. Nachtzug mit Liegewagen. Aber auch in den übrigen überfüllten Waggons lagen sie überall, in den Abteils, auf den Gängen, und versuchten, etwas Schlaf zu bekommen, doch lagen sie zu dicht aneinander gepackt und konnten in der zum Schneiden dicken Luft kaum atmen. Manchmal kam einer aus einem abgedunkelten Abteil gewankt, übermüdet, schlaftrunken, mit rot unterlaufenen Augen, stierem, orientierungslosem, leeren Blick, wirrem Haar. Wankte den Gang entlang, stieg mühsam über die dort zusammengerollt oder ausgestreckt Liegenden hinweg, stieß mit dem Fuß an, schob die alte Pendeltür zur Plattform auf und fand die Zugtoilette versperrt, denn der Wagen hatte längst kein Spülwasser mehr oder es hatte sich darin jemand verbarrikadiert, um sich endlich einmal zu waschen. Flüchtlinge von der sogenannten Westbalkanroute unterwegs ins gelobte Merkelland. In jedem Bahnhof taumelten einige auf den Perron und zündeten sich Zigaretten an, blickten scheu und befremdet die nachtleeren Bahnsteige entlang. Es wurde kaum geredet. Wortlos bat man um eine Zigarette oder erhielt eine angeboten.
„Entgegen den Voraussagen des Schaffners und den Behauptungen des Fahrplans fuhr der Zug noch nicht ab. Etwa hundert Reisende, von obstgefüllten Koffern und Säcken umgeben wie Markthändler, schöpften neuen Mut und verdoppelten ihre Anstrengungen, doch noch in den Zug hineinzukommen. Einigen gelang es durch die Fenster. Frauen irrten am Zug entlang, unter der Last ihrer Obstsäcke fast zusammenbrechend, und schrien verzweifelt, sie müßten mitfahren, ihre Kinder seien zu Hause in das Zimmer eingeschlossen” (Der Ruf, 2, 1947).
Siebzig Jahre ist es her, seit solche Züge durch Deutschland rollten. Züge, ebenfalls voller Flüchtlinge.
"Ihr Lied gönnt uns den Schlaf nicht und scheucht noch grausam die friedlichen Dörfer rechts oder links aus den Träumen, daß die Hunde heiser werden vor Wut. Und sie rollen schreiend und schluchzend, die Grausamen, Unbestechlichen, unter den matten Gestirnen, und selbst der Regen macht sie nicht milde. In ihrem Schrei schreit das Heimweh, das Verlorene, Verlassene - schluchzt das Unabwendbare, Getrennte, Geschehene und Ungewisse. Und sie donnern einen dumpfen Rhythmus, unselig und untröstlich, auf den mondbeschienenen Schienen. Und du vergißt sie nie. Sie sind wie wir." (Wolfgang Borchert: Eisenbahnen, nachmittags und nachts, 1947)
Und jetzt rollen sie wieder.
„Im neuen Zug gab es kein Licht. Sie rückten sich im Dunkel auf den Bänken zurecht, dann waren sie wieder in Bewegung und die Geräusche des fahrenden Zugs um sie. Die Nacht draußen war von strömendem Regen völlig verfinstert... Sie waren in Schweigen versunken und jeder für sich in seiner Verlassenheit.” (Alfred Andersch: Jahre in Zügen, in: Der Ruf, 1, 1946/47) – Wie die Eindrücke in den Reportagen von damals den Bildern von heute gleichen.
Zwischen Bahnhof und Messe. Hannover. Eine Welle warmer, dicker Luft schlägt mir entgegen, als ich die Treppe vom Bahnsteig 3 zum Tunnel heruntergehe. Zwischen Säcken, Pappkartons, Koffern, Apfelschalen, Papierfetzen und leeren Zigarettenschachteln sitzen und liegen Hunderte von Menschen entlang der feuchten, glitzernden Wände... Ein paar Glühbirnen werfen ein spärliches Licht in den Gang und lassen die nächsten Gestalten etwas deutlicher werden. Neben mir schläft eine Frau, den Rücken gegen einen prallen Rucksack gelehnt. In den Armen hat sie ein kleines Kind, das dick eingewickelt ist.” Der Ruf , 2,1947, aber ich hätte genau eine solche Frau mit Kind auf der Flucht auch 2015 im Bahnhof Hannover fotografieren können, als ich aus dem überfüllten Zug stieg.

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