Als am Vorabend die Sonne unterging, war der Himmel über Reykjavík noch bedeckt. Keine guten Aussichten auf ihre Verfinsterung am nächsten Tag. Doch als nach einer frostklaren Nacht der Morgen anbrach, ging die Sonne goldfunkelnd an einem blauen Himmel auf, den nur ein paar Schleierwolken in großer Höhe leicht trübten. Aus dem Fenster im Obergeschoß konnte ich sogar den Snæfellsjökull jenseits des Faxaflói in 120 Kilometern Entfernung klar sehen. Doch dann wurde der Glanz der Sonne zusehends matter, das Licht trüb wie an einem bedeckten Tag, obwohl der Himmel fast ohne Wolken war.
Esoteriker aufgemerkt: Ihr könnt künftig an die Wissenschaft glauben. Sie hat das Eintreten der Sonnenfinsternis auf die Minute genau vorhergesagt. Die isländischen Ásatrúamen, die sich aus Versatzstücken überlieferter vorchristlicher Göttermythen eine (staatlich anerkannte) eigene Religion zusammengezimmert haben, die angeblich vor allem mit Trankopfern ausgeübt wird, sahen das düstere Ereignis am Himmel seltsamerweise als gutes Omen für den ersten Spatenstich zu ihrem neuen Tempel in Reykjavík an.
Etwa eine Dreiviertelstunde, nachdem sich der Mond vor die Sonne zu schieben begonnen hatte, wurde es dann merklich dunkler. Um 9.38h Ortszeit, als die schwarze Scheibe 98% der Sonne verdeckte, wurde es dämmerig wie im ersten Morgengrauen. Man hielt unwillkürlich kurz den Atem an. In meiner Nähe stand ein alter Mann und betrachtete das Schauspiel durch den Plastikdeckel einer Kaffeedose (funktionierte bestens). Dazu murmelte er: ‟Ich verstehe, daß die Menschen früher bei so einer Finsternis gedacht haben, der Jüngste Tag würde heraufdämmern.” Aber die schwarze Mondscheibe wanderte weiter und gab die Sonne wieder frei. Die Vögel hatten nicht einmal zu singen aufgehört.
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