Der Zug rollte mit schlagenden Achsen durch das trübe Einheitsgrau vor den Fenstern. Tiefe, geschlossene Wolkendecke, aus der es nebelnäßte; kahle Stangenäcker oder auch ein paar dichtere Waldstücke mit Unterholz, düstere Fichtendickichte, dann nasse Wiesen, auf denen riesige Pfützen standen, wischten vorbei. Häuser duckten sich unter tief herabgezogene, schieferdunkle Pfannendächer. Das in die Jahre gekommene, aber noch immer grelle Magenta der Polsterbezüge im leeren Abteil kleckste als Einziges Farbe in die Novemberwelt. Bald werden auch sie ausgemustert sein.
In Hamburg ging ein hanseatisch feiner Nieselregen bald in anhaltendes Pladdern über. Die überall hängenden Versuche, der Tristesse mit vorweihnachtlicher Illumination Lichter aufzustecken, wirkten selbst arg bedröppelt und maßlos traurig. Ich schlug Bögen, um den als Weihnachtmärkte deklarierten improvisierten Freßgassen auszuweichen, die sich schon von weitem durch ihren miefigen Dunst aus verdorbenem Bratfett und süß gepanschtem Glühweinverschnitt ankündigten. Aber irgendwann und irgendwo abseits davon bekam auch ich Hunger und dachte, ehe ich jetzt lange nach dem einen richtigen Restaurant suche, nehme ich das nächstbeste. Ich sah mich um. Über einem gewölbten Kellereingang hing ein Schild, auf dem allerdings nicht stand: “Wanderer, der du hier eintrittst...” Nein, da stand nur: “Pizza”.
Ich stieg vorsichtig die nassen Stufen hinab ins Souterrain. Am Grund des Tunnels eine matt erleuchtete Tür mit Butzenscheiben. Im halbdunklen Raum dahinter saß ein einzelner Gast und löffelte aus einem Teller Suppe. Ich respektierte seinen offensichtlichen Wunsch, in dieser Gruft allein und ungestört sein Essen verzehren zu können, und ging weiter in einen Nebenraum, der von einem Fenster auf Bürgersteigniveau etwas Tageslicht erhielt. Da setzte ich mich an einen kleinen Tisch mit weißem Tischtuch, um zusehen zu können, wie draußen der Regen von einem Geländer tropfte.
Ich mußte lange auf die Pizza warten. Der Ofen war wohl noch nicht angeheizt. Alles war still. Draußen tropfte der Regen vom Geländer. Manchmal stapfte ein Paar durchnäßter Hosenbeine am Fenster vorüber. Ich zog ein Buch aus der Innentasche meiner Jacke: Yasushi Inoues Tod des Teemeisters. Für ein japanisches Buch regnet es überraschend wenig darin. Aber es ging um alles; um den Weg, richtig zu leben, und um den Weg, richtig zu sterben, insbesondere um die Frage, wie man einem absoluten Machthaber noch im Angesicht des Todesurteils Widerstand und seine Verachtung zeigt.
“Alle drei mußten Selbstmord begehen. Ein Teemensch hat es wahrlich schwer. Kaum hat er die Meisterschaft erreicht, muß er sich auch schon entleiben. Ohne Bauchaufschneiden kein Meister.”
Aber Inoue hält seine Antworten auf die Frage nach dem rätselhaften Tod der Teemeister sehr schön in der Schwebe, mal deutet er diese an, mal erscheint eine andere möglich, manchmal scheint er einen auf den Weg eines Kōans zu führen, und anschließend stellt er alles wieder in Frage. “Warum hat der erlauchte Meister Rikyū den Tod herausgefordert?” – “Tja, warum?” – “Ich wußte nicht, inwieweit er es ernst meinte.”
Ein Schatten fiel in den Raum. Vier Paar nasse Hosenbeine verdunkelten vorübergehend das Fenster. Dann wurde die Tür aufgestoßen. Lautes Hallo, der Wirt erkannte offenbar Stammkunden und verfiel sogleich gleich in das marottenhafte idiotische Kellner-Deutsch-Italienisch-Pidgin. “Ciao, signori, nehme Si Plazze, prego!” Er schaltete ein Band mit schmachtenden italienischen Schlagern ein. Irgendsoein Paolo-Conte-Klon leierte los, auch aus einem Lautsprecher in der Ecke hinter mir, hinterrücks. Vier Büroangestellte im Mittagspausenmodus traten ein und ließen sich grußlos an ihrem Stammtisch nieder. Der Laden gehörte schließlich ihnen, und ich war hier der Eindringling. “Das Übliche, Paolo!” Viel Gesize aus dem Schankraum bestätigte: si, signori, si, si, Sicilia, Rucola & Scamorza. Das Gespräch am Nebentisch drehte sich längst um den neuen A4 oder A6, dann ausgiebig und nicht versiegend um Spieler und Einkaufspolitik des HSV. Irgendwer war sein Geld nicht wert, ein anderer hatte sich gleich bezahlt gemacht, der Vorstand hatte, der Trainer hatte nicht...
Sobald ich meine Pizza verdrückt hatte, steckte ich den Teemeister in die Tasche und ging zum Zahlen nach vorn. Einer der Bürostundenverwalter guckte auf. Ja, richtig, ich war ja auch noch da. Ich lächelte ihn freundlich an und sagte im Gehen so für mich hin: “Schwarz, weiß und blau, / mag keine Sau! / FC Sankt Pauli – euer Supergau!
Draußen tropfte der Regen vom Geländer, von den Dachtraufen, vom Himmel. Und die Weihnachtsmärkte soffen ab.
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