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Donnerstag, 12. Juli 2012
"Ach Europa!"
Enzensberger hat Europa in seinem Buch vor 25 Jahren schon eine interessante Diagnose gestellt und sie ausgerechnet einem fiktiven EU-Präsidenten aus dem mittlerweile zunehmend euroskeptischen Finnland in den Mund gelegt:

Wir haben jahrzehntelang eine Chimäre verfolgt: die europäische Einheit. - Die Politiker haben jahrzehntelang auf dieses Europa der Manager, der Rüstungsexperten und der Technokraten gesetzt... Nur haben sie die Rechnung ohne die Bewohner unserer schönen Halbinsel gemacht.
Die logische Folge war, daß Brüssel zu einem riesigen supranationalen Wasserkopf wurde. Die Kommissionen, die Ausschüsse und Unterausschüsse spielten in ihren Glaskästen ein absurdes Milliarden-Bridge, natürlich alles ohne demokratische Legitimation.
Ich will gar nicht bestreiten, daß auch einiges geleistet worden ist. Wir haben es zu einheitlichen Lebensmittelfarben gebracht, und die Zollformulare wurden standardisiert. Aber natürlich mußte der Brüsseler Schwachsinn in einer gigantischen Pleite enden. Wir zahlen heute noch dafür.

Manchmal lohnt es sich, frühere Utopien Jahre später noch einmal anzusehen. Viele haben sich inzwischen erledigt, zeigen, wie grotesk man im Prophezeien danebenliegen kann. Manche aber haben sich in der Zwischenzeit auf geradezu gespenstische Weise bewahrheitet, besonders die negativen; die sind fast immer eine sichere Bank.
Überlass Politikern, Ökonomen, Büro- und Technokraten eine große Idee, und sie werden sie kleinmahlen bis sie scheitert.

Gebäude der EU-Kommission, Brüssel

Enzensberger hat all dem, wofür der Name "Brüssel" in Europa steht, damals schon (oder wieder) etwas entgegengestellt, das er kurz auf die saloppe Formel brachte: "Der Mischmasch ist unsere endgültige Gestalt."
Erklärend berief er sich auf einen der großen Kulturgeschichtler des 19. Jahrhunderts, auf Jacob Burckhardt. Der Schweizer hat in seinen nachgelassenen Weltgeschichtlichen Betrachtungen 1869 geschrieben:

„Retter Europas ist vor allem, wer es vor der Gefahr der politisch-religiös-sozialen Zwangseinheit und Zwangsnivellierung rettet, die seine spezifische Eigenschaft, nämlich den vielartigen Reichtum seines Geistes, bedroht.“

(Weltgeschichtliche Betrachtungen, Historische Fragmente aus dem Nachlass, Bd. 7, S. 370)

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Auf die Frage
Erklär' mir Europa hatte Ich mal um Antwort gebeten und sie mir im kleinen selbst gegeben. Skeptisch war ich, bei aller Zuversicht, immer, aber mir stand ohnehin ständig meine Auffassung im Vordergrund des Weges, diese Vereinigung sei primär aus rein wirtschaftlichen Gründen zustandegekommen, und den Bevölkerungen sollte all das allein mittels des «grenzenlosen Reisens» schmackhaft gemacht werden. Dem geschah auch so, das Interesse an der politischen Union war von Anfang eher schwach ausgeprägt. Die Eurokraten zeigten auch selten ausreichendes Engagement, sich aufklärerisch zu betätigen, und auch die ansonsten jede Lapalie breittretenden Medien trugen nicht eben dazu bei, die möglichen Freuden einer Gemeinschaft zu begrüßen. Das rächt sich nun.

Wir haben in den Neunzigern Sloterdijks These «Falls Europa erwacht» diskutiert. Er war unter anderem davon ausgegangen:
«Der jähe Ausfall von vierzig Millionen Toten hatte die Atmosphäre in Schwingung versetzt, eine mystische Emission, die an den Lebenden zehrte wie eine grenzenlose Schuld»,
Die Meinungen habe ich hier versammelt: Europa und ihr Stier.

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