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Freitag, 23. Oktober 2009
Der Bahnsteig von Haapsalu
... ist einer jener Orte, die vielleicht ein-, zweimal in ihrem Dasein leicht vom Flügel der Geschichte gestreift und aus ihrem ewigen Dämmerschlaf geweckt und ins Leben gerufen wurden. Vor Kuressaare war es einmal Sitz der Bischöfe von Ösel-Wiek. Eindrucksvolle Ruinen ihrer großen Burg, die unter anderem die größte einschiffige Hallenkirche des gesamten nördlichen Europas birgt, stehen noch, doch der Hafen an der seichten Bucht verlandete, und die Stadt sank in Schlick und Bedeutungslosigkeit.
Bis 1820 der deutschbaltische Arzt Carl Hunnius den Matsch im alten Hafen näher untersuchte und seine heilenden Eigenschaften entdeckte. 1867 ließ sich Peter Tschaikowsky in den mittlerweile errichteten Badeanstalten kurieren und komponierte dabei, vielleicht sogar auf der nach ihm benannten Marmorbank an der Promenade, seine erste Oper, Teile seiner 6. Sinfonie und die “Erinnerungen an Hapsal”. Bald kamen selbst die Zaren aus dem fernen Moskau, um sich in den Schlamm von Haapsalu packen zu lassen. Der “Kaiser und Autokrat aller Russen” Nikolaus II. ließ zu seiner Bequemlichkeit im Revolutionsjahr 1905 eigens eine Eisenbahnlinie von Tallinn in den kleinen Kurort an der Ostsee bauen. Nachdem er noch rasch mit einem Federstrich die ihm erst nach dem Petersburger Blutsonntag blutig abgerungene gesetzgebende Versammlung (Duma) im Juni 1907 wieder aufgelöst und das Wahlrecht auf besitzende Schichten eingeschränkt hatte, fuhr der Zar nach dieser großartigen Leistung mit seiner Familie erst einmal in die Sommerferien. Als sein Zug unter Dampf in Haapsalu einrollte, hatte ihm die Stadt zum Empfang den längsten überdachten Bahnsteig der Welt gebaut.
Nikolaus II. und Familie an Bord, 1907Ende Juli ging Nikolaus II. an Bord der Kronstadt und lief am 4. August zu einem Treffen mit seinem Vetter Willem Zwo in Swinemünde ein. “Von Bansin bis Swinemünde standen die Menschen dicht gedrängt am Strand, bewunderten die „Hohenzollern“, die
stolze weiße Jacht des Kaisers, die umlagert von der deutschen
Seeflotte den hohen Besucher erwartete. Ein Aufschrei
des Erstaunens ging durch die Menge, als die „Kronstadt“
aus dem Dunst am Horizont hervorstach. Umkreist von russischen
Torpedobooten glitt das mächtige schwarze Zarenschiff
auf die Insel zu, begleitet von den Begeisterungsstürmen
der Zaungäste ging es vor Anker.” (Brigitte Märker: Lieber Justus. Feldpostbriefe einer Offiziersfrau)
Gute zehn Jahre hatte Zar Nikolaus da noch zu leben, ehe sein Körper und die seiner Familienangehörigen in Salzsäure landeten. Mitleid? Dazu ein paar Zahlen: Zu seiner Krönung 1896 hatte der Thronfolger mit Nahrungsmitteln gefüllte Emailbecher mit seinem Konterfei zur Verteilung anfertigen lassen, nur ein paar zu wenig. Die Menschenmenge drängte so danach, daß es zu einer Panik kam: 1400 Tote. In seiner Jugend war bei einem Staatsbesuch in Japan ein Attentäter mit dem Schwert auf ihn losgegangen. Seitdem haßte er alle Japaner als “gelbe Affen” und ließ seinen Generälen 1904 freie Hand zum Vergeltungskrieg. Ergebnis: der fast vollständige Untergang der russischen Flotte, 70.000 Tote auf russischer und 100.000 Tote auf japanischer Seite.
Kurz nach seiner Thronbesteigung hatte “Nicky” einer Delegation von Arbeitern und Bauern, die ihn um konstitutionelle Reformen ersuchten, beschieden: “Ich will jederman wissen lassen, daß ich all meine Kraft darauf verwenden werde, zum Wohl der ganzen Nation das Prinzip absoluter Autokratie aufrecht zu erhalten.” Als im Januar 1905 150.000 unbewaffnete Arbeiter friedlich für den Achtstundentag und die Einrichtung eines Parlaments demonstrierten, schoß die Armee mit Wissen des Zaren die Menge vor seinem Winterpalais zusammen: mehrere hundert Tote. In der Folge bezahlte sein Innenminister Zeitungen dafür, antisemitische Hetzartikel zu veröffentlichen, die Juden der Anstiftung zum Umsturz und der Kollaboration mit dem japanischen Feind bezichtigten und die in der Folge zu zahlreichen Pogromen führten.
In Haapsalu wurden währenddessen nach der Abreise des Zaren die Dekorationen abgebaut, und der Schlammbadbetrieb kehrte zu seinen gewohnten Packungen zurück. Geblieben ist von der Pracht der Zarenselbstherrlichkeit ein über 200 Meter langer Bahnsteig an einer stillgelegten Strecke.

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Ins Schwelgen
gerate ich da. Nicht wegen des Autokraten Taten, sondern dieses hölzernen Bahnhofs wegen. Der Bahnsteig hat in der unteren Abbildung ein wenig von einem klösterlichen Kreuzgang. Ist der kürzlich restauriert? Sicherlich.

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Ja, die ganze Anlage scheint allmählich in ein Eisenbahnmuseum verwandelt zu werden. Es standen auch etliche schwere sowjetische Dampfloks auf den Gleisen. Hier noch ein Blick in den (selbstverständlich klassenlosen) Wartesaal:

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