Donnerstag, 28. Mai 2009
Eine Zeit der Stille
A Time to Keep Silence - kann sicher jeder von uns ab und zu gebrauchen. Eine solche “Reise in die Stille” (so der deutsche Buchtitel) muß ja nicht unbedingt ins Kloster führen wie die Mitte der fünfziger Jahre von dem Briten Patrick Leigh Fermor unternommene, als er sich für Monate bei den Benediktinern von St. Wandrille und den Trappisten oder “Zisterziensern von der strengen Observanz” wegschließen ließ, zu deren mönchischen Übungen Selbstgeißelungen mit einer disciplina genannten Peitsche ebenso gehören wie vorgeschriebene öffentliche Schuldeingeständnisse und Denunziationen durch die Mitbrüder. Nach dem Ideal der Armut standen in Leigh Fermors Zelle in La Grande Trappe (der “Großen Falle”) bei Le Mans “Demut, Entsagung, Abtötung” als weitere Ziele auf der Liste. “Der Priester ist ein ausgeweideter Mensch”, hieß es dort, oder auch: “Le prêtre est un homme crucifié. Il faut devenir du bon pain. - Le prêtre est un homme mangé.” Der Mönch ist ein Mensch, den man aufgefressen hat.
Das Gegenstück zu dieser Selbstaufgabe und Selbstabtötung ist in meinen Augen eine ungeheuere Anmaßung, die den Tatbestand der Todsünde der superbia, des Hochmuts, erfüllt. Laut Leigh Fermors Einsichten nimmt der zisterziensische Mönch der strengen Observanz nämlich all seine Verzichtsleistungen und Qualen deshalb auf sich, weil er glaubt, stellvertretend für andere Menschen büßen zu können. “Das Leben eines Trappisten besteht aus... einem unablässigen Nacherleben der Wüste, der Passion, der Qualen im Garten Gethsemane, der Stationen des Kreuzes und des letzten Opfers auf Golgatha.” Setzt er sich damit nicht gleich mit seinem Erlöser Jesus Christus? “Indem sie sich strengste Askese auferlegen, sich einschließen, auf Stroh schlafen und nach einigen Stunden Schlaf in der Dunkelheit aufstehen, indem sie abstinent leben, fasten, sich demütigen, ein härenes Gewand tragen und sich geißeln, indem sie sich extremer Hitze und Kälte aussetzen und einem ununterbrochenen Zyklus von Kontemplation, Gebet und schwerer Arbeit unterwerfen, suchen sie die Sünden anderer auf ihre Schultern zu nehmen und die Last der Menschheit zu lindern.” - Nein, danke. Ich möchte mir meine Sünden nicht abnehmen lassen; ungefragt schon gar nicht. Ich stehe lieber selbst für das gerade, was ich getan habe.
Patrick Leigh Fermor war auch nicht gerade ein Unschuldslamm. Als Junge flog er mehrmals von der Schule und landete in einer Anstalt für Schwererziehbare, im Zweiten Weltkrieg war er Angehöriger von Churchills Special Operations Executive (SOE) und erledigte für diesen Geheimdienst Spionage- und Sabotageaufträge u.a. in Griechenland, wo er sich nach dem Krieg niederließ. Als er sich 1933 auf seine Fußwanderung von Hoek van Holland nach Konstantinopel begab, über die er später seine bisher in zwei Bänden vorliegende Reiseschilderung verfaßte, trug er auf dem Rücken den ausgeblichenen Leinenrucksack, den Robert Byron 1927 auf seiner Wanderung zum Berg Athos getragen hatte. Das allein genügte, um den Byron-Verehrer Bruce Chatwin anzuziehen wie das Licht eine Motte.
In den siebziger und achtziger Jahren beherbergte Leigh Fermor Chatwin, dessen Bücher er bewunderte, mehrfach in seinem Haus in Kardamyli auf dem Peloponnes. In einem Hotel in Sichtweite arbeitete Chatwin 1985 sieben Monate lang an den Songlines. Vormittags schrieb er, nachmittags ging er “walking with Paddy”, denn von dem klassisch gebildeten Älteren konnte er eine Menge lernen. Auf einer ihrer Wanderungen erwähnte Leigh Fermor die lateinische Redewendung solvitur ambulando (ein Problem wird beim oder durchs Wandern gelöst), “and immediately Bruce whipped out his notebook.” Chatwins spätere Auslassungen über das Gehen als Therapie etc. dürften hinlänglich bekannt sein. Auf einem anderen gemeinsamen Spaziergang entdeckte Chatwin die kleine byzantinische Kirche Agios Nikolaos in Chora, neben der nach seinem letzten Willen seine Urne beigesetzt ist.
“In der Abgeschiedenheit der Zelle... wird der reißende Strom der Gedanken ruhig und klar, und vieles, was man versteckt hat, und alles, was das Wasser trübt, steigt an die Oberfläche und kann abgeschöpft werden; nach einer Weile erreicht man einen in der Welt dort draußen unvorstellbaren Zustand inneren Friedens”, schreibt Leigh Fermor in Reise in die Stille. Das hört sich gut an, aber für mich kommt ein Leben im Kloster aus mehreren Gründen nicht in Frage. Erstens bin ich nie des Glaubens teilhaftig geworden und hege zweitens zutiefst skeptische Vorbehalte gegen jegliche Erscheinungsform einer Kirche. Drittens glaube ich, weder offen noch heimlich schwul zu sein, und viertens war mir der Fanatismus besonders des heiligen Bernhard von Clairvaux schon immer ein Greuel. Zudem verspüre ich keinen Drang zur Selbstauslöschung. Der Gang ins Kloster stellt für mich also keinen gangbaren Weg dar, eine Wanderung durch die Wiesen und Wälder Innersloweniens hingegen kann den gleichen Zweck erfüllen und eine “Reise in die Stille” bedeuten, die wir alle ab und zu nötig haben.
... comment