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Donnerstag, 26. Juli 2012
Als das Meckern mal geholfen hat
Ein Blick auf die Straßen beweist es. Seit dem letzten Wochenende sind sie in unserem Viertel tagsüber komplett verstopft; alle freien Parkplätze, an denen sonst kein Mangel herrscht, bis in den letzten Winkel belegt und selbst die Straßenecken noch zugestellt mit parkenden Autos mit gelben, aber häufig auch weißen Nummernschildern. Der Blick nach oben bestätigt es: ja, es ist doch noch Sommer geworden. Geradezu heiß fühlt es sich an nach der Kühle der vergangenen Wochen. Nein, nicht zu heiß. Ich werde doch jetzt nicht anfangen, an den hochsommerlichen Temperaturen wieder etwas aussetzen. Am Ende wird womöglich auch dieses Genörgel erhört. Nein, es ist gerade recht so, danke. So darf es gern eine Weile bleiben. – Obwohl, wenn ich mir die endlosen Reihen abgestellter Autos ansehe, kann ich mir lebhaft vorstellen, was für ein Gedränge jetzt am Strand herrscht. Da mag ich tagsüber gar nicht hingehen, auf den Rummelplatz südlich der Pier schon gar nicht. Aber auch hinter den Dünen nördlich davon liegen sie jetzt bald auf Handtuchfühlung; jedenfalls deutlich unterhalb meiner Fluchtdistanz. Da bleibt eigentlich nur der frühe Morgen, bevor der Zug der Lemminge einsetzt, aber das Wasser ist noch lausekalt, und ganz besonders morgens, zu kalt für mich bekennenden Warmduscher. Oder aber ich schwinge mich am späten Nachmittag noch schnell aufs Rad und zykle antizyklisch den Massen entgegen und genieße die Abendsonne über der Nordsee und die Abstrahlwärme des Sandes. Jedenfalls kommen endlich die unschätzbaren Vorteile des Wohnens am Meer einmal richtig zum Tragen. Und da Sommer ist, reicht mittags auch ein leichter Imbiß im Halbschatten für eine Weile. (Nette Sommerlektüre übrigens, die ich mir da bereitgelegt habe.)


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Dienstag, 24. Juli 2012
Kauzige Beobachtungen in München

Neulich hatte ich beruflich im Deutschland südlich benachbarten Bayern, genauer in der Hauptstadt München, zu tun. Ich sah dem Termin mit gewissen bangen Erwartungen entgegen. Als Nicht-Bayer hat man schließlich seine Vorbehalte gegenüber diesem ganz besonderen Bundesland unter dem hellblauweiß karierten Biertischtuch, doch war der Besuch unumgänglich, und ich muß im nachhinein zugeben, man sieht dort Dinge, die man so vielleicht doch nicht erwartet hätte.
Nach der Landung ging es gleich los. Beim Anflug hatte von oben noch alles wie gemalt ausgesehen: sattgrüne Wiesen, gelbe Felder, bretteben – sollen da nicht irgendwo Berge stehen? Doch statt Bodenbarock Kirchtürme mit barocken Zwiebeln an Stelle einer Spitze. Nun gut. Dann aber rollte die Maschine auf den Terminal zu, und München demonstrierte gleich, daß es etwas anders tickt, denn darauf prangte in Riesenlettern... also ich sage mal, daß Bundeswehrkasernen nach allerlei zwielichtigem Gesindel benannt wurden, ist ja kein Einzelfall, aber gewissermaßen den ersten Empfangssaal einer Stadt nach einem notorisch cholerischen, korrupten Politiker zu benennen, gegen dessen Aufstieg über die Landesgrenzen hinaus sich seinerzeit im Rest der Republik ganze Bürgerbewegungen und Volksbegehren formiert hatten – Respekt! So viel Chuzpe bringt nicht jede Stadt auf.
Gleiches gälte in meinen Augen übrigens für einen etwaigen Versuch, den Nachfolgebau des Olympiastadions für ästhetisch gelungen zu erklären. Was da auf dem Weg in die Stadt am Rand steht, ist kein Stadion, sondern eine ringförmige Wurst in aufgeblasener Plastikpelle, die durch ein Einkaufsnetz notdürftig gehalten wird, damit der kommerzielle Charakter des Ganzen schon in der äußeren Form sinnfällig wird. Angesichts dessen bin ich schon fast wieder froh, daß man solche Stätten ursprünglich sportlicher Begegnung heutzutage nicht mehr Stadion nennen darf, sondern söldnerisch-gladiatorenhaft “Arena”. Daß der Ort für entsprechend unfallverdächtige circenses in München ausgerechnet einem Versicherungskonzern gehört, verleiht dem Ganzen eine wohl ungewünscht komische Beinote.
Später wurde ich belehrt, alles sei Ausdruck eines gesund unerschütterlichen Selbstbewußtseins von eigener Art (man könnte es adjektivisch auch “eigenartig” nennen), das sich in dem Slogan “Mia san mia”, sagen wir, artikuliert. Übersetzt: Der Rest der Welt geht uns am Oarsch vorbei, weil mia sowieso was Besseres sind.
Wenn man auf den an sich langweiligen, aber völlig überteuerten Einkaufsstraßen der Stadt von (Bayerns) Welt erwachsene Männer heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, in kurzen Lederhosen hagestolzen sieht, wird einem klar, daß diese Einstellung tatsächlich tief in der Psyche des Münchner Bayern verwurzelt sein muß. Es sind keineswegs nur irgendwelche hinterwäldlerischen Wurzelsepps von der Alm oder aus dem Wald, die auf der Ludwig- oder Maximilianstraße so rumlaufen, sondern Herrn, die das augenscheinlich in vollem (Sonder-)Modebewußtsein tun. Bei jungen Frauen verhält es sich nicht anders, bei ihnen gilt auch sommers und nicht etwa nur zur “Wies’n-Zeit” ein Dirndl-light-Look als tragbar. Fotografieren lassen sie sich darin allerdings nur unter Wahrung ihrer Anonymität.



Es spricht natürlich nichts dagegen, das Straßenbild im Sommer bunt und vielfältig aufzulockern, zumal gerade in dieser Zeit bodenlanges Schwarz besonders in den Münchener Straßen mit den teuersten Geschäften und Edelboutiquen unübersehbar zunimmt. Man hat auch außerhalb schon davon gehört, daß reich gewordene Araber aus den Ölemiraten zum Shoppen unter anderem nach München fliegen, aber daß sie dort in ganzen Familienverbänden ausschwärmen und etwa so zahlreich und auffällig sind wie die neureichen Russen in Helsinki, das ist mir erst jetzt aufgegangen.
Trüge das alles nur zu einem bunten, lockeren Straßenbild bei, wäre alles schön und bestens, aber die bunte Gemengelage ist nur der äußere Schein; hinter den Sonnenbrillen spielt sich ein gnadenloser Konkurrenzkampf ab.



Gegen die Blicke, die einen in München auf der Straße blitzschnell von oben bis unten taxieren und sofort in eine vom Preis der Kleidung bestimmte Hierarchiestufe einsortieren, ist ein Nacktscanner ein Nebelwerfer. Nach ihrem Befund bemißt sich, ob der leere Stuhl am Wirtshaustisch noch frei ist oder ob man Entgegenkommenden ausweicht oder sie mit Blicken vom Trottoir in die Gosse schubst. Besonders unbarmherzig kamen mir bei etlichen beobachteten Gelegenheiten die Blicke vor, mit denen Frauen andere Frauen abschätzten: ernstzunehmende Rivalin auf der Piste oder nicht? Da fanden in völliger Stille kurze, aber erbitterte Duelle statt, ohne daß man als Unbeteiligter ohne genaues Zusehen überhaupt etwas davon mitbekommen hätte.
Anders als, denke ich, die meisten Männer erfassen Frauen mit ihrem holistischen Bodyscan unfehlbar immer auch die Schuhe des Objekts, und ich war heilfroh, daß es so warm war, daß ich am Morgen die weißen Socken in den Sandalen weglassen konnte. Für den Deutschland- bzw. Bayernbesuch hatte ich natürlich eigens die dort üblichen Birkenstöcke angelegt. Durch meinen Aufenthalt in den Niederlanden hat sich meine Haltung in Fußbekleidungsfragen noch weiter simplifiziert, als sie es vorher schon war. In Holland tragen ja bekanntlich alle nur “Klompen” an den Füßen (im Sommer die zierlicheren Modelle ohne Stroheinlage), und so lief ich schon bald mit gesenktem Kopf durch Münchens Straßen und konnte den Blick nicht von den Schuhen der Passantinnen wenden. München - nördlichste Stadt Italiens; für keinen Bereich des öffentlichen Lebens trifft dieses Epitheton genauer zu als für den der Damenschuhmode.



Ich bekam den Kopf erst wieder hoch, als plötzlich Asphalt und Straßenpflaster in meinem Blickfeld durch Kieswege und Rasengrün abgelöst wurden. Der Englische Garten war erreicht und wurde von Süd nach Nord durchwandelt. “Was ich gesehn”, um es mit den Worten des Dichters zu sagen, “verrate ich nicht, ich habe zu schweigen versprochen...” Nur so viel: ich habe als “Biergärten” deklarierte Tränken und Schwemmen gesehen, in denen mit Sicherheit mehr als tausend Menschen bei- und aufeinanderhockten, um den Tag gemütlich (!) ausklingen zu lassen. Den Lärm aus tausend Kehlen hörte man selbst durch die zum Schallschutz angepflanzten Waldstücke Hunderte von Meter weit. Bayerische Urgemütlichkeit. Prosit! Wohlsein!
Irgendwann bog meine Cicerona nach links ab und verkündete, jetzt gehe es nach Alt-Schwabing. Was sie nicht sagte, war, daß der Weg uns von der Tränke in die Traufe führte.

Ich weiß nicht, wie Alt-Schwabing sonst so ist, an jenem Abend war es ein einziger Ballermann. Fetter Bratwurstqualm wälzte sich in dichten Schwaden durch die Straßen, durch die sich in noch dichteren Pulks die Menschenmengen schoben, die noch nicht mit einem Litereimer Dünnbier vor sich auf den sämtliche Bürgersteige vollstellenden Biertischbänken Platz gefunden hatten. Und das Publikum sah ganz so aus, als seien es in Vielzahl dieselben Leute, die für den Urlaub schon den Billigflieger zum Druckbetanken und Kampfsaufen auf Malle gebucht hatten. Mei, was für a Gaudi! Der Münchner läßt’s halt raus und krachen, gell? – In Details verlieren, lieber nicht. “ ... den Deckel drauf!” Irgendwann bleibt meineinem wohl nur noch der Gang in die Eremitage. Da ist wenigstens alles schön grau in grau.


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Dienstag, 17. Juli 2012
Eine Hand



Was macht man mitten im Sommer am besten in Rotterdam? Man geht ins Museum. In das Museum, in dessen versammelten Bildern ich bei solchem “Sommerwetter” immer wieder gern spazieren gehe. Diesmal nicht in einer “Landschaft am Anfang der Zivilisation”, und diesmal fesselte mich auch nicht der Blick einer Maria Magdalena wie im letzten Jahr. Diesmal blieb mein eigener Blick an einer Hand hängen, an einer schönen, sehr blassen Frauenhand mit einem auffälligen Ring am Daumen, die über einem Kleid schwebt, das über und über glänzt und schimmert wie Mondstein, obwohl es nur aus Ölfarbe auf Leinwand besteht.

Der Mann, dem die dunklere Hand auf dem Bild gehört, Mijnheer Abraham del Court, hat das Gemälde 1654 in Auftrag gegeben, zwei Jahre nach seiner Hochzeit, und nicht bei irgendwem, sondern beim angesehensten und beliebtesten Porträtisten der Amsterdamer High Snobiety des Goldenen Zeitalters, bei Bartholomeus van der Helst. Ja, das ist der, der in seinem fünfeinhalb Meter breiten Kolossalgemälde mit dem ebenso breiten Titel “Das Schützenmahl der Amsterdamer Bürgergarde zur Feier des Westfälischen Friedens" 1648 mehr als zwei Dutzend naturgetreue Porträts unterbrachte. Der Kunstkritiker Arnold Houbraken hat es in seiner “Groote schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen” als eines der wichtigsten Gemälde überhaupt und seinen Schöpfer van der Helst und nicht etwa Rembrandt als den “Phönix der niederländischen Malerei” bezeichnet. Auch der offizielle Hofmaler des englischen Königshauses, Godfrey Kneller (1646 als Gottfried Kniller in Lübeck geboren), der “gleich nebenan” bei Rembrandt gelernt hatte, schätzte van der Helsts Porträtkunst sehr. Man halte nur einmal die flachen Gesichter auf Gerard ter Borchs vergleichbarem Bild von der Unterzeichnung des Friedens zu Münster von 1648 daneben, um die Lebendigkeit und Qualität von van der Helsts Porträts zu erkennen.
Viel mehr aber als die Gesichter nahm mich eine Hand der Dame auf dem Doppelporträt für Mr. del Court gefangen.




Van der Helst war nicht umsonst Holländer, er wußte seine Kunst und sein Renommee sehr genau in Gulden umzurechnen. Die Preise für seine Porträts berechnete er nach der Zahl der abgebildeten Personen und verlangte pro Kopf über 300 Gulden. So strich er 1658 für ein Familienporträt die mehr als stolze Summe von 1400 Gulden ein (das war fast so viel, wie Rembrandt für seine “Nachtwache” bekam) und verlangte 1664 für eine dreiköpfige Familie die runde Summe von 1000 Gulden, erhielt nach einem langen Rechtsstreit am Ende 400 Gulden, weil das Gericht 300 für angemessen befand und ihm noch 100 Gulden extra ‘ten respecte vande meester sijn naem ende reputatie’ zuerkannte.* Nur zum Vergleich: 1626 hatte Peter Minuit aus Wesel, der Gouverneur von Nieuw-Amsterdam (heute New York), den Indianern die Insel Manhattan für 60 Gulden abgekauft. (Na ja, andererseits hätte man auf dem Höhepunkt des Tulpenwahns 1637 für 1000 Gulden nicht einmal eine einzige Tulpenzwiebel kaufen können.)

Es waren jedoch nicht nur seine Honorare (“wat nix kost’, is auch nix’) und die meisterhaft naturgetreue und doch meist gefällige Ausführung seiner Porträts, die den teuren van der Helst für del Court empfahl, sondern ebenso etwas anderes, auf das er in dem dann bestellten Bild allergrößte Sorgfalt verwandte: die malerische Wiedergabe von Stoffen. Ich glaube nicht, daß man silberweißen Satin vorher schon einmal so hat glänzen sehen wie auf dem gemalten Kleid von del Courts Frau Maria de Kaersegieter (oder Keerssegieter). Nicht von ungefähr, denn Abraham del Court stammte aus einer im wahrsten Sinn des Wortes gut betuchten Hugenottenfamilie, war Tuchhändler und Stofflieferant für die reiche Kaufmannschaft und das Patriziat der damaligen Weltstadt Amsterdam. Das Bild, das ihn und seine acht Jahre jüngere Frau als frisch getrautes Ehepaar vorstellt (der Garten, die kleine Fontäne im Hintergrund und die gerade aufgeblühte Rose, die sie mit der anderen Hand anfaßt, als Embleme (ehelicher) Liebe), soll zugleich Reklame für die Qualität seiner Stoffe machen.




Schwarz und weiß schimmernd bedecken sie fast die Hälfte des Bildes. Eine heutige Kunsthistorikerin nahm es zum Anlaß, um vom Porträt des Goldenen Zeitalters in den Niederlanden als einer frühneuzeitlichen “PR-Maschine” zu schreiben. Und in ihrer Besprechung der gleichen Ausstellung schrieb Charlotte Higgins 2007 im Guardian:

Black was predominant, according to Betsy Wieseman, curator of Dutch paintings at the gallery, partly because it implied "sobriety and modesty. But at least as important was the fact that it was fashionable. These days, when you go out somewhere special, the chances are that you reach for black. Well, for much of the 17th century it was like that in the Netherlands." So black is the old black; but... this black is all about rich detail and texture. Abraham's black silk get-up is almost blinding in its splendid sheen.
Even the John Terry or Gary Neville weddings at the weekend would find it hard to rival this for garish, nouveau riche ostentation. That dress of hers is not black, you will have noted. If wearing a beautiful white suit in 2007 announces that you are far too rich to take a bus or walk in the rain, ratchet that up a few notches for Holland in the 17th century: no dry cleaning, and even filthier streets. Maria is too damn rich and stylish to move, we can infer. What is hilarious about this painting is that it is more or less an advertisement. Del Court was a cloth merchant. His wife's white frock - which takes up half the painting and whose fabric is painted with loving luminescence by van der Helst - is showing what a nice bit of schmutter he can put his wife in, just as Sir Philip Green wouldn't want Lady Green to be seen slopping around in a stained tracksuit. That moonstone-coloured dress is set off by amazing silver-thread embroidery, quintuple strands of pearls at each wrist, a diamond ring and brooch, and ropes of pearls in her hair and at her throat. Talk about bling.

Zu den Klunkern gehört auch der Brilli an Mevrouws Daumen, vermutlich ihr Ehering, den ich allerdings eher wie einen Fremdkörper an ihrer vornehm blassen Hand empfinde, die, leicht gestützt und umfaßt von Mijnheers gebräunter Linken, so entspannt über dem rauschenden Stoff schwebt. Nicht für sehr lange. Auf dem Bild ist Maria de Kaersegieter etwa 25 Jahre alt, ihr Mann war, wie gesagt, acht Jahre älter. Zu dem Arrangement, in dem van der Helst die beiden malte, gibt es eine makabre Parallele. Zu der Zeit war Raadpensionaris, also oberster Verwaltungsbeamter der Provinz Holland, Jakob Cats, der sich jedoch weniger als Politiker denn viel mehr als Verfasser didaktisch-moralischer Gedichte einen Namen gemacht hatte. Unter anderem hatte er ein Emblembuch mit dem Titel Proteus of Minne-beelden verandert in Sinne-beelden ("Proteus oder Liebes- in Sinnbilder verändert") herausgegeben, und darin findet sich folgendes Emblem.


Quelle: Emblemproject Utrecht

Ähnlichkeiten zu van der Helst’ Doppelporträt sind kaum zu übersehen. Nur hält die Dame auf dem Stich in ihrer Linken keine aufblühende Rose, sondern einen sterbenden Frosch. Das Motto über der Pictura lautet: Tibi mors, mihi vita. Dir den Tod, mir das Leben.




1663 malte Pieter de Hooch eine musizierende Familie. Es wurde von Kunsthistorikern mehrfach behauptet, zu sehen sei darauf die Familie del Court. Die von de Hoogh gemalte Frau des Hauses ist aber nicht Maria de Kaersegieter, Abraham del Courts erste Frau. Sie hat nach ihrer Hochzeit keine zehn Jahre mehr gelebt. Ihre Hand auf van der Helsts Porträt könnte schon vom Tod so blaß gezeichnet sein.

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Montag, 16. Juli 2012
Rotterdam. Im Schatten von morgen *



"Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Bilder."
(Erasmus von Rotterdam, Rotterdam, 16. Juli 1503)



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Freitag, 13. Juli 2012
Ein Freitag zum Schwarzsehen
Abergläubischen Seelchen reicht ja schon das Datum des Tages, um schwarzzusehen. Das allein reicht mir nicht, aber es reicht mir. Ob ich nun wie gestern nach Europa gucke oder den Blick ins Inland richte. Diese Republik hatte, wie andere auch, immer ihre Skandale. Aber hatten wir schon einmal so viele eklatante auf einmal wie nur in den letzten Wochen? Ich erinnere lediglich an:
• den wulffigen Abschied des Bundespräsidenten Wulff

• das Verfahren, wie unter verfassungsgerichtlich festgestellter Mißachtung des Parlaments und unter dem Deckmäntelchen der Stabiliserung der Finanzen in Euro-Europa (ESM) wesentliche demokratische Mitbestimmungs- und Kontrollrechte abgeschafft werden sollen

• die Änderung des Meldegesetzes in letzter Minute

• Abwesenheit bzw. Nicht-Debattier- und Abstimmungsverhalten der “Volksvertreter” im Bundestag

• Niebels “Fliegenden Teppich”, vergleichsweise eine Petitesse oder Spitze eines Eisbergs?

• die Lieferung weiterer atomar aufrüstbarer U-Boote an Israel, aber darüber regt sich ja kaum noch jemand auf

• das Gebaren der Geheimdienste u.a. bei den sogenannten “Fahndungspannen” in der rechten Szene, ganz und gar keine Petitesse, aber fragt jemand nach der politischen Verantwortlichkeit des Innenministers als oberstem Dienstherrn?

• Gestern Ermittlungen gegen Ex-Ministerpräsident Mappus wegen Verfassungsbruch und Veruntreuung von Millionen. Anscheinend ein besonders schwerer Fall von unbelehrbarer Arroganz der Macht, wie man heute seinen ersten Äußerungen nach der Razzia der Staatsanwaltschaft in der Bildzeitung entnehmen kann. (“Ich habe vom ersten bis zum letzten Tag meiner Amtszeit alles in meiner Macht stehende getan, um zum Wohle unseres Landes zu arbeiten.” – “Ich stehe selbstverständlich weiterhin zu dem, was ich auch im Untersuchungsausschuss gesagt habe: Ich halte den Erwerb der En-BW Anteile von der EdF weiterhin für politisch und ökonomisch richtig. Natürlich habe ich zu respektieren, dass der Staatsgerichtshof den Rechtsweg, den uns die Kanzlei Gleiss Lutz gewiesen hat, für verfassungswidrig erklärt hat.” – “Bild: Die Ermittlungen können Monate dauern. Wie wollen Sie da beruflich wieder auf die Beine kommen? Mappus: Gehen Sie davon aus, dass Sie sich darüber keine Sorgen machen müssen.”)
Mit seiner letzten Aussage dürfte Mappus recht haben. Das ist es ja gerade. Wer in diesem Land reich und mächtig genug ist, kann mit der Justiz immer einen Deal schließen, der mit gerechter Bestrafung für nachweisliche Vergehen nichts zu tun hat.
Und welcher Schwindel fliegt morgen auf?




Wenn man die Zeit aufwendet, auch die vielen, vielen Leserzuschriften unter den jeweiligen Meldungen in den Medien zu lesen, bekommt man rasch den Eindruck, es gibt nur noch resigniert sarkastische auf der einen und entrüstete Wutbürger auf der anderen Seite. Keiner, aber auch keiner verteidigt noch, was Berufspolitiker in und mit diesem Land derzeit verbrech anstellen. Doch weil sie sich für alternativlos halten, betreiben Politiker vor allem anderen den persönlichen Machterhalt oder lassen sich weiterhin bereitwillig vor die Karren diverser Lobbies und kleiner, aber potenter Interessengruppen spannen, wechseln im Fall eines ungünstigen Ausgangs sogenannter “Denkzettelwahlen” mal eben die Koalition und mauscheln weiter wie zuvor (oder wechseln, wenn gar nichts mehr geht, auf einen üppig dotierten Posten in der Wirtschaft). Angesichts all dessen regt sich in mir eine spontane Wunschvorstellung. Wie wäre es, wenn bei der nächsten Bundestagswahl die Mehrheit nicht den Urnen resigniert fernbliebe, sondern jede und jeder zur Wahl ginge und wirklich jede(r) einen ungültigen Wahlzettel abgeben würde? Vertreter sämtlicher Parteien: abgewählt.
Das ist natürlich keine Lösung und es würde noch nichts wirklich ändern, aber ein gehöriger Schreckschuß vor den Latz der Politikerkaste wäre so ein unisono NEIN schon. Vielleicht könnte es sogar zum Startschuß für ein gründlicheres Nachdenken darüber werden, wie wir unsere Gesellschaft denn anders und besser einrichten könnten.
Jedenfalls ist es längst an der Zeit, den guten Lichtenberg wieder in Erinnerung zu rufen:

„Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen,
es muss anders werden, wenn es besser werden soll.“

(Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, Heft K, 1793-96)

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Donnerstag, 12. Juli 2012
"Ach Europa!"
Enzensberger hat Europa in seinem Buch vor 25 Jahren schon eine interessante Diagnose gestellt und sie ausgerechnet einem fiktiven EU-Präsidenten aus dem mittlerweile zunehmend euroskeptischen Finnland in den Mund gelegt:

Wir haben jahrzehntelang eine Chimäre verfolgt: die europäische Einheit. - Die Politiker haben jahrzehntelang auf dieses Europa der Manager, der Rüstungsexperten und der Technokraten gesetzt... Nur haben sie die Rechnung ohne die Bewohner unserer schönen Halbinsel gemacht.
Die logische Folge war, daß Brüssel zu einem riesigen supranationalen Wasserkopf wurde. Die Kommissionen, die Ausschüsse und Unterausschüsse spielten in ihren Glaskästen ein absurdes Milliarden-Bridge, natürlich alles ohne demokratische Legitimation.
Ich will gar nicht bestreiten, daß auch einiges geleistet worden ist. Wir haben es zu einheitlichen Lebensmittelfarben gebracht, und die Zollformulare wurden standardisiert. Aber natürlich mußte der Brüsseler Schwachsinn in einer gigantischen Pleite enden. Wir zahlen heute noch dafür.

Manchmal lohnt es sich, frühere Utopien Jahre später noch einmal anzusehen. Viele haben sich inzwischen erledigt, zeigen, wie grotesk man im Prophezeien danebenliegen kann. Manche aber haben sich in der Zwischenzeit auf geradezu gespenstische Weise bewahrheitet, besonders die negativen; die sind fast immer eine sichere Bank.
Überlass Politikern, Ökonomen, Büro- und Technokraten eine große Idee, und sie werden sie kleinmahlen bis sie scheitert.

Gebäude der EU-Kommission, Brüssel

Enzensberger hat all dem, wofür der Name "Brüssel" in Europa steht, damals schon (oder wieder) etwas entgegengestellt, das er kurz auf die saloppe Formel brachte: "Der Mischmasch ist unsere endgültige Gestalt."
Erklärend berief er sich auf einen der großen Kulturgeschichtler des 19. Jahrhunderts, auf Jacob Burckhardt. Der Schweizer hat in seinen nachgelassenen Weltgeschichtlichen Betrachtungen 1869 geschrieben:

„Retter Europas ist vor allem, wer es vor der Gefahr der politisch-religiös-sozialen Zwangseinheit und Zwangsnivellierung rettet, die seine spezifische Eigenschaft, nämlich den vielartigen Reichtum seines Geistes, bedroht.“

(Weltgeschichtliche Betrachtungen, Historische Fragmente aus dem Nachlass, Bd. 7, S. 370)

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Mittwoch, 11. Juli 2012
... und päpstlicher Golden Shower
Satire, Karikaturen über Religion? Die sollen sich doch nicht so aufregen, denen fehlen Toleranz, Aufklärung, Humor. So in etwa lautete, gut erinnerlich, das Echo bei uns auf die wütende Reaktion in der muslimischen Welt über die Mohammed-Karikaturen in Jyllandsposten. Doch wehe die Satire zielt auf die eigene Religion! Hunderte wütender Protestbriefe an den Deutschen Presserat, und direkt aus dem Vatikan gestern Verbotsantrag bei Gericht, geschwärzte Seiten, Zensur. Wo sind jetzt Toleranz, Aufklärung, Humor? Ausgerechnet Springer-Blatt Welt hat sich etwas von letzterem bewahrt und titelt: “Papst stoppt Pipi-Spaß”. Was kommt aber als nächstes von Religionsführer Ayatollah Ratzinger? Eine päpstliche Fatwa gegen Titanic-Redakteure? Herr Mosebach wird sich jedenfalls schon mal freuen.

"Ach Europa!" - hieß ein Essayband von Hans Magnus Enzensberger mit einem damals, 1987, utopischen Epilog, der den Titel trug: "Böhmen am Meer" und mit der vollständigen Wiedergabe von Ingeborg Bachmanns Gedicht endete. Er eignet sich also bestens zu einem kleinen Nachtrag zu meinem gestrigen Eintrag hier. Wie von Enzensberger gewohnt, findet sich so mancher bissige Seitenhieb darin. Über - immer willkommen - Berlin: "Viel ist nicht übriggeblieben vom kaputten Reiz dieser Stadt... Mit der Exterritorialität ist auch der Ludergeruch verschwunden." Über Helsinki, Prag und Bukarest. Über das liebe Den Haag heißt es lapidar: "Die Mischung aus Würde und Vulgarität, die man in den Niederlanden antrifft, ist einzigartig. Der Übergang zwischen Slum und Residenz ist fließend." Nur über das Haager Wetter, womit wir wieder beim Thema der letzten Tage wären, hat der Utopist kräftig geflunkert.

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