“Please walk on the grass! Smell the roses, hug the trees, talk to the birds and picnic on the lawns.” –
O, süße Freiheit und Humor der neuen Welt dort unten! Ach, Europa-EU-Schengenraum-Holland, dir gehen sie ab.
Damit allein nicht genug. In den Scheveninger Dünen jagt ein privater Sicherheitsdienst mit Colt im Halfter Spaziergänger, die es einmal wagen sollten, einen der Schlagbäume mit Verbotsschild zu umgehen. Außerdem beäugen und bespitzeln sich die Spaziergänger gegenseitig und pfeifen einen Übertreter des Toegangverbods selbst schon einmal rüde zurück. Da es in den Dünen zu dieser Jahreszeit von Besuchern wimmelt, bedarf es einiger, aus holländischer Sicht östlicher Verschlagenheit, um sich von Aufpassern unbemerkt in die Büsche und ins Schilf schlagen zu können.
Zitternd wie Schilf im Wind habe ich es versucht, und es ist mir geglückt. Mit nassen Hosenbeinen und von Mücken zerstochen, kehrte ich triumphierend aus dem verbotenen Land zurück, das gesuchte Bild wohlverwahrt in der Botanisiertrommel der Spiegelreflex. – See, hug and smell it and listen to the wind in the reed!
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Nun ja, Fortführung sommerlicher Stimmung mit literarischen Mitteln:
“Die Sonne strahlte, die Flut setzte ein – vier lustige Meilen die Stunde. Der Wind blies gleichmäßig, mit gelegentlichen Sturmböen. Ich hatte noch nie zuvor in einem Kanu unter Segeln gesessen. Ich denke, es war eine ähnlich große Herausforderung, wie etwa ein erstes Buch zu veröffentlichen.”
Um beides geht es an diesem Sommermorgen auf der unteren Schelde bei Antwerpen, um die Grand Tour in einem Paddelboot und um das erste Buch. Damals, 1876, im August vor 136 Jahren; dasselbe durchwachsene Schietwetter wie heute, dieselben Überlegungen.“Ein Mann sollte sich um nichts Wichtigeres kümmern müssen als um seinen Zeitvertreib. Als Gegenargument kann nur die Geldgier dienen [...] Es ist verlogenes Geschwätz, den Kaufmann und Bankier als selbstlosen Kämpfer im Namen der Menschlichkeit darzustellen.”
Ja, in einem Boot dann auf dem Sambre-Oise-Kanal im flachen Flandern kann man die Gedanken schweifen lassen, sofern man die eigene Haut genauso imprägniert wie die Spritzdecke über dem Süllrand des Kanus.“Wir hatten nun in Bezug auf das Wetter einen Grad an Demut erreicht, den man außerhalb der schottischen Highlands selten erlebt.”
O ja, schöne Sommerlektüre.Fließt still wie die Oise – “das Zentralbüro der Nerven, das wir in einer gewissen Stimmung als Ich bezeichnen, genoss seinen Urlaub” – und ist doch immer in Bewegung. Der eingeschobene Satz wurde immerhin fast fünfzig Jahre vor Freuds Das Ich und das Es unterwegs flüchtig in ein Notizbuch gekritzelt. Es folgt eine der wohl frühesten genauen Beschreibungen dessen, was man heute als Flow-Zustand bezeichnet. Resümee:
“Ich schmeichle mir, dass nicht einmal sterbende Tiere diese niedrige Form von Bewusstsein unterbieten können. Und was für ein Vergnügen das war!” – “Dieser Geisteszustand war der große Gewinn unserer Reise. Er war das entlegenste Ziel, das wir erreichten... so weit entfernt, dass ich nicht erwarte, die Sympathie des Lesers für die lächelnde, friedliche Ironie meines Zustands zu gewinnen.”
Ich sag ja: schöne Sommerlektüre. Robert Louis Stevenson: Das Licht der Flüsse, gerade sehr schön übersetzt von Alexander Pechmann.... link (0 Kommentare) ... comment
Der Höhepunkt der Londoner Spiele, bei denen mir das frenetische Aufbrüllen der angeblich so gefaßten Briten, sobald ein großbritannischer Gladiator die Arena betritt, zwischenzeitlich mächtig auf den Zeiger gegangen ist, war wohl der gestrige Abend. Gestern war die Begeisterung wirklich angebracht, da überstürzten sich Ereignisse, von denen jedes einzelne ein großes Sportfest gekrönt hätte, binnen Minuten; der Trommellauf, mit dem die winzigen Bahamas die USA in der 4x400m-Staffel in Grund und Boden rannten, der neue Weltrekord der US-Frauenstaffel, die ebenso dem für übermächtig gehaltenen Jamaika enteilte, immer wieder dazwischengeschnitten der unglaubliche Wettkampf zwischen den beiden deutschen Stabhochspringern Otto und Holzdeppe, die am Ende schon wegen ihrer Namen dem elegant-geschmeidigen Überflieger Lavillenie unterliegen mußten, und zu allem Überfluß dann auch noch die Dramatik um den entscheidenden Wurf der in ihrer Konzentration immer schönen Betty Heidler. Wenn man vorher die völlig durchgeknallte religiöse Verzückung der 5000m-Siegerin Defar aus Äthiopien gesehen hat, war die klar und entschiedene, aber stets ruhige und besonnene Reaktion von Betty Heidler auf das Versagen der vermeintlich omnipotenten Technik menschlich umso größer. Das sind die wahren olympischen Momente, derentwegen man sich auch viele vergeudete Stunden vor den Fernseher hängt.
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Die zahlreichen internationalen Einrichtungen bringen natürlich auch einen guten Schuß Internationalität ins gutbürgerliche Haag. Nicht nur auf seine Straßen. In seinem Knast sitzt die große weite Welt ein. Nicht bloß irgendwelche lokalen Dealer und Kleinkriminelle, die Frikandellen und Fritten in gepanschtem Schmieröl gebraten haben, hocken hinter Haager Gardinen, sondern Schwerverbrecher von internationalem Rang und Format, die sich nicht mit einem miesen, schäbigen Mord abgeben, sondern miese, schäbige Kriegsverbrechen bis zum Völkermord begangen haben. Hinter diesen hohen Mauern sitzt ein Charles Taylor, den man soeben wegen einiger der "hasserfülltesten Verbrechen der Menschheitsgeschichte", wie es im Urteil heißt, zu fünfzig Jahren Haft verurteilt hat. Hier hofft Karadžić auf weitere peinliche Fehler der Anklage, hier täuscht und trickst der Schlächter von Srebrenica, Mladić, inzwischen zum Simulanten mutiert, um seinen Prozeß zu verschleppen, hier wehrt sich ein brutales Schwein wie Šešelj gewohnt großmäulig gegen seine Verurteilung. "With their stupid charges against me they have come up against the greatest living legal Serb mind. I shall blast them to pieces."
Als ich zum Fotografieren an den Mauern der Haager Pönitenzanstalt entlang ging, kam mir vom Parkplatz ein dunkelhäutiger Herr in hellgrauem Anzug und mit Diplomatenköfferchen entgegen. Überraschend sprach er mich sofort an. Ob ich als Tourist oder vielleicht als Journalist da sei, wollte er wissen. Ich wappnete mich innerlich für die Verteidigung des freien Fotografierens auf öffentlichen Straßen und Plätzen, aber darum ging es dem Herrn aus Afrika gar nicht. Er sei Prozeßbeobachter und komme aus der Demokratischen Republik Kongo; schließlich sei es notwendig, die Prozesse vor dem International Criminal Court kritisch zu begleiten, denn dort würden einseitig nur dem Westen unliebsam gewordene afrikanische Politiker angeklagt und verurteilt. Die bisherige Geschichte des ICC gibt dem Herrn recht, bis heute hat der Gerichtshof ausschließlich gegen Afrikaner Anklage erhoben. Wenn es anders wäre, so der Herr, müsse längst ein George W. Bush auf der Anklagebank des Internationalen Strafgerichtshofs sitzen, aber ich wisse sicher, daß ausgerechnet die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die “Erfinder” der Menschenrechte, den ICC nicht anerkennen und ihm sogar direkt entgegenarbeiten würden. So weit rannte der Herr bei mir offene Türen ein, und es entwickelte sich aus dem Nichts ein recht angeregtes Gespräch auf offener Straße, vor dem Gefängnistor.
Über meinen politischen Einfluß in Deutschland hegte der Herr anfangs jedoch anscheinend gänzlich realitätsferne Vorstellungen, denn er fragte mich mehrfach, zu welchen politischen Interessengruppen (“Parteien oder Lobbies”) ich in Deutschland Verbindungen unterhalte und ob mir nicht zufällig Angola Mörkel persönlich bekannt sei. Interessant, welche Einschätzung ein Kongolese über einen beliebig dahergelaufenen Passanten in Europa trifft. Eine kleine Anstecknadel an seinem Revers regte mich zu einer Gegenfrage an. Sie zeigte auf den hellblauen Umrissen des Kongo die Buchstaben MLC. Und, ja, der Herr war Mitglied des Mouvement de libération du Congo, der Partei von Jean-Pierre Bemba, ehemals Vizepräsident des Kongo und Hauptrivale von dessen Präsident Joseph Kabila. Beide unterhalten eigene Streitkräfte, mit denen sie jeweils bestimmte Regionen in dem riesigen Land kontrollieren oder kontrollierten, Bemba den Norden, Kabila die Hauptstadt und den Osten. Ein halbes Jahr nach der letzten Präsidentenwahl, bei der er sich erst in einer Stichwahl gegen Bemba durchsetzte, ließ Kabila Bemba im März 2007 in seinem Haus in Kinshasa angreifen und beschießen. Bemba flüchtete in die portugiesische Botschaft und von dort via Südafrika nach Portugal. Ein Jahr später erließ der ICC einen Haftbefehl gegen Bemba, weil er 2002 auf ein Hilfsersuchen des damaligen Präsidenten von Zentralafrika, Patassé, seine Soldaten in das Nachbarland entsandt hatte, die dort geplündert, gemordet und vergewaltigt hätten. Im Mai 2008 wurde Bemba in Brüssel verhaftet. Seit 2010 macht man ihm hier im Haag den Prozeß. Einen politischen Schauprozeß nach Meinung meines Gesprächspartners auf der Straße. Ich kann dazu nichts sagen, habe nicht die leiseste Ahnung, was wirklich im Inneren Afrikas vorgeht. Mein letzter Gewährsmann dazu ist Joseph Conrad. Gegenwärtige Entwicklungen im Kongo scheint aber die taz ganz gut zu verfolgen, und sie brachte zur Prozeßeröffnung am 21.10.2010 einen ausführlichen Artikel unter dem Titel “Ein äußerst fragwürdiges Verfahren”.
Der Ansicht ist auch der dunkle Herr im hellen Anzug. “Der Segen, vor allem aber der Fluch des Kongo sind seine Bodenschätze”, erklärt er mir. “Gold, Kohle, Diamanten, Uran, Kobalt, Koltan, alles gibt es im Kongo, und alle wollen sie unsere Bodenschätze haben, besonders die ausländischen Großmächte. Der Westen setzte nicht auf Bemba, sondern auf Kabila und hat geglaubt, der würde ihm mit Stabilität die Ausbeutung unserer Rohstoffe erlauben. Aber der Westen hat übersehen, daß Kabila die Militärakademie in Peking absolviert hat, und jetzt verkauft er das Land an die Chinesen. Und wo die Chinesen sich einmal festgesetzt haben, gehen sie freiwillig nicht wieder weg. Die Stellung des Westens im Kongo wird immer schwieriger”, fährt der Herr fort, “Kabila arbeitet mit China zusammen, und wenn der Westen Kabila und die Chinesen loswerden will, kann er im Kongo nur auf Bemba setzen. Deswegen habe ich die Hoffnung, daß der Prozeß gegen Bemba mit einem Freispruch endet.”
Wird auch in diesem Fall Justitia mal wieder unter ihrer Augenbinde hervorschielen?
Solche interessanten Gespräche kann man jedenfalls in Den Haag unversehens auf der Straße führen.
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VIRTUTIS EST DOMARE QUAE CUNCTI PARVENT
“Es ist eine Tugend, die zu züchtigen, die die Gesamtheit fürchtet”
Ich halte es nicht für einen Zufall, daß etliche der internationalen Gerichtshöfe und Strafeinrichtungen in der Hauptstadt der Niederlande, in Den Haag, eingerichtet wurden: Der Internationale Gerichtshof, der Internationale Strafgerichtshof, das Exjugoslawien-Tribunal, das Libanon-Tribunal. Die Niederländer pflegen schließlich eine lange Tradition des Strafens und Erziehens.
Um ihre Mentalität als Nation herauszuarbeiten (früher hätte man von “Volkscharakter” gesprochen, sofern es so etwas überhaupt gibt, was sich mit guten Gründen bezweifeln läßt), beginnt Simon Schama seine Studie ausgerechnet, aber nicht von ungefähr mit einer Schilderung des Amsterdamer Tugthuis, des Zuchthauses.
Darin wurde seit 1595 an Delinquenten eine frühe, speziell holländische Form des heutzutage bei amerikanischen CIA-Folterern so beliebten Waterboarding praktiziert. Man flutete die Zelle eines Gefangenen im Keller, in der eine Handpumpe installiert war, und ließ dem Insassen die Wahl, jämmerlich zu ersaufen oder zu pumpen, bis ein “wahrer” Holländer aus ihm wurde, denn worin bewies sich der Holländer, wenn nicht im unermüdlichen Abpumpen von Wasser.
Anschließend durfte der umzuerziehende Sträfling im Obergeschoß seine restliche Haftzeit damit verbringen, sich von einem unordentlichen Kriminellen zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft zu wandeln, indem er Tag für Tag Rotholz aus Brasilien zu Färbepulver für die Textilmanufakturen sägte und raspelte. Dabei mußte er sich von Besuchern begaffen lassen wie ein Affe im Käfig, denn gemäß der herrschenden kalvinistischen Moral sollte auch öffentliche Scham der Besserung dienen. Und wenn man nebenher noch ein kleines Sümmchen daran verdiente, war das den bigotten Frömmlern im Magistrat nicht unwillkommen. So wurden denn im 17. und 18. Jahrhundert das Rasphuis und die entsprechende Einrichtung für Frauen, das Spinhuis, fest ins Amsterdamer Sightseeingprogramm aufgenommen und Scharen von Touristen gegen Eintrittsgeld zum Begaffen der Häftlinge geführt.
Nach dem Abbruch des stark veralteten Zuchthauses 1892 errichtete die Stadt an seiner Stelle – ein Schwimmbad.
Nachtrag:
Fast könnte man den Abbruch des Rasphuis bedauern, denn gerade derzeit wüßte ich so manchen, dem ich gern ein paar Stunden kräftiges Pumpen bei hohem Wasserstand verordnen würde, angefangen bei Signore Monti, dem antidemokratischen Vollzieher (vulgo “Technokrat”) vom Bilderberg, und dann weiter mit anderen selbsternannten “Euro-Rettern” wie Gabriel und Schäuble, bei dem man allerdings fairerweise den Wasserstand etwas senken müßte.
Was hat der Monti jetzt öffentlich erklärt? Die europäischen Regierungen sollten sich nicht von den Parlamenten behindern lassen und hätten die “Pflicht, das Parlament zu erziehen.” – Allein für diese Äußerungen hätte er mindestens acht Stunden Wasserpumpen verdient, aber am Ende wird man ihm in Aachen genauso den Karlspreis um den Hals hängen wie Schäuble, Trichet, Merkel, Juncker und - vor zehn Jahren - dem Euro selbst!
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Im Gegensatz zu den meisten werde ich mich ausgerechnet im Ferienmonat August einmal durchgehend an meinem Wohnort aufhalten. Gelegenheit also für Versuche, auch die nähere Umgebung mit dem unverwandten Blick des Kameraauges anzusehen, und für ein paar unspektakuläre Fingerübungen am Auslöser. Den(n) Haag ist größtenteils eine ruhige, gutbürgerliche Stadt im Verständnis von Simon Schamas eklektisch zusammengewerkelter Mentalitätsgeschichte der Niederlande im Goldenen Zeitalter, Überfluß und schöner Schein, von 1987: sauber, ordentlich, wohlanständig, wohlhabend, moralindurchsäuert. Kein durch und durch unbehaglicher Ort für ein ruhiges, zurückgezogenes Wohnen für den, der Trubel lieber andernorts als gleich vor der Haustür sucht. Wer lieber im ewigen Kuddelmuddel hausen mag, zieht sowieso nach Amster- oder Rotterdam oder gleich nach Berlin. Nichts Aufregendes also hier zu sehen in den kommenden Wochen. Ich werde lediglich sehr holländisch ein bißchen vor der eigenen Tür kehren. “Elk keere voor zijne eigene deur.” Am schönsten klingt die alte Redewendung aber auf Ungarisch:
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Mitte der Achtziger Jahre war es den Zuwanderern von den Niederländischen Antillen in Holland endgültig zu kalt geworden. Sie beschlossen, Karneval zu feiern wie in ihrer alten Heimat, und zwar nicht vor Beginn der katholischen Fastenzeit im Spätwinter, sondern in der Jahreszeit, in der die Temperaturen sogar in Holland das Tragen eher leichter und stoffsparender Kostüme wie in der Karibik manchmal zulassen. Andere Bevölkerungsgruppen aus dem Süden schlossen sich bald begeistert an, aus dem anfangs kleinen Umzug wurde ein von Jahr zu Jahr immer größerer, und nun war am Wochenende in Rotterdam zum 28. Mal laut und bunt:
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