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Dienstag, 10. Juli 2012
Böhmisches Seewetter

Anselm Kiefer: Böhmen liegt am Meer (1995/96)

“Und nun noch ein Blick aufs Wetter.” Ja, es ist ein nicht zu unterschätzendes Gesprächsthema, auf dessen kommunikative und narrative Funktionen Ihr Laubacher Feuilleton gebührend hinweist, werter Herr Stubenzweig. Gewichtige Zeugen und Belege von Robert Musil bis Karl-Heinz Köpcke werden dort angeführt, und selbst der alte Schüttelspeer findet Erwähnung: “bei Shakespeare zeigt es immer das Wetter an, wenn der Säftehaushalt im Mikro- oder Makrokosmos nicht stimmt”.
Die Beobachtung ist sicher richtig, aber trotzdem: Shakespeare? Macht es einen Autor nicht schwerer Unzuverlässigkeit verdächtig, wenn er sich – wie die Bibel – als Zitatenlieferant für buchstäblich alles und jedes verwerten läßt? Was läßt sich denn, frage ich mich, mit Shakespeare nicht belegen? Der war sich doch für nichts Hahnebüchenes zu schade. Ich führe nur eines der bekanntesten Beispiele an: “our ship hath touch'd upon / The deserts of Bohemia.
Wer’s nicht kennt, reibt sich ungläubig die Äuglein. Doch in der Tat, bei Shakespeare liegt Böhmen, eine der binnenländischsten Regionen Mitteleuropas, am Meer. Unmißverständlich auch die Regieanweisung in Shakespeares Wintermärchen über der dritten Szene des dritten Akts: Bohemia. A desert country near the sea. “Böhmen, eine wüste Gegend am Meer”, übersetzte Wieland texttreu und (hoffentlich) wider besseres Wissen.

Daß Böhmenkönig Ottokar II. Přemysl 1269 durch Erbvertrag Kärnten und die slowenische Krajina an sich gebracht hat und sein Einfluß damit bis an die Adria heranreichte, wird man kaum gelten lassen dürfen. Die Episode war dafür denn doch etwas zu kurzlebig. Gerade weil er sich so breit machte, unterlag Ottokar bei der Wahl zum deutschen König 1273 gegen Rudolf von Habsburg, kam in die Reichsacht, als er seine Niederlage nicht anerkennen wollte, und mußte nach einem Aufstand gegen ihn schon 1276 im Frieden von Wien auf seine sämtlichen Ansprüche außerhalb Böhmen-Mährens verzichten.

Etwaige historische Verhältnisse braucht man zugunsten Shakespeares auch gar nicht zu bemühen, gilt es doch längst als erwiesen, daß er auch in diesem Fall wieder einmal lediglich nur geklaut und schlecht abgeschrieben hat. Diesmal aus Robert Greenes Novelle Pandosto von 1588, in der auch Schlesien, Silesia, irrtümlich mit Sicilia verwechselt wurde und der Titelheld “provided a navy of ships and sailed into Bohemia”.
“It was this close following of his model that led Shakespeare into many of his anachronisms and geographical errors”, stellte der Herausgeber des Pandosto, Percy G. Thomas, fest. “No doubt, Shakespeare, in his indifference to such matters, went one more than the novelist”.
Der Erste, der sich über des größten Dramatikers aller Zeiten mangelnde Grundlagenkenntnisse in Erdkunde lustig machte, war natürlich sein Rivale Ben Jonson. Als er sich im Winter 1618/19 bei seinem schottischen Landsmann William Drummond auf dessen Burg Hawthorne Castle in Midlothian aufhielt, ließ er bei den Tischgesprächen die Bemerkung fallen: “Sheakspear, in a play, brought in a number of men--, saying they had suffered Shipwrack in Bohemia, wher ther is no sea neer by some ioo miles.”
Das wußte damals jeder; im gleichen Jahr war schließlich der Prager Fenstersturz in aller Munde. Und die Herren Slavata, Fabricius und von Martinitz waren offenkundig nicht ins Meer, sondern nur in den Graben der Prager Burg gestürzt.

Aber was schert die Wirklichkeit schon die Dichter? Natürlich haben sie aus Shakespeares Bock noch poetische Filetstückchen geschnitten.

Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen.
Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder...
Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.
Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.

So kleidete Ingeborg Bachmann 1964 Zweifel und Hoffnungen in ein schönes Gedicht mit dem Titel “Böhmen liegt am Meer”; es inspirierte Anselm Kiefer zu seinem obigen Gemälde.

Wie waren wir überhaupt auf all das gekommen? Ach ja, das Wetter...

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Montag, 9. Juli 2012
Droht zweiter Rudi-Carell-Sommer in Folge?





“April, April”, sagt nach dem Juni auch der Juli dieses Jahr wieder an der Nordsee. Mittlerweile streicht man’s im Kalender an, wenn das Thermometer an einem Tag mal für wenige Stunden die 20 ̊-Marke übersteigt.
“Gestern schien die Sonne”, verkündet die Herzogin, als ich am Abend nach Hause komme, “mindestens zwanzigmal.”
“Und zwischendurch?”
“Rain on, rain off, rain on.”
“Ganz schön was los da oben, wie?”
“Ja, wenigstens da”, schließt sie schulterzuckend.
“Aber du hattest doch Besuch von den Mečići”, sage ich. “Haben sie dich denn nicht ein wenig aufgemuntert?”
Die Mečići Genannten sind befreundete holländische Journalisten, die seit einem Jahr in Griechenland leben und gerade auf “Heimaturlaub” nach Holland zurückgekommen sind.
“Ach, denen hat der Abstand auch die Perspektive verrückt”, sagt die Herzogin. “Ich habe sie gefragt, wie ihnen denn Holland jetzt gefällt, und sie haben nur gemosert: ‘Völlig überorganisiert und überbevölkert das Land, die Leute schrecklich verwöhnt und anspruchsvoll. Wehe, sie kriegen nicht gleich, was sie im Augenblick haben wollen!’ Sie haben von Griechenland die Fähre nach Venedig genommen und meinten: ‘Du kannst durch ganz Oberitalien, Österreich und sogar Deutschland völlig normal autofahren, aber kommst du nach Holland, mußt du pausenlos auf die Bremse treten. In allem.’”
Holland hat wieder zwei Fans verloren.

Wie wär’ es da mal mit einem “Sommer wie es früher einmal war? Mit Sonnenschein von Juni bis September und nicht so naß und so sibirisch wie im letzten Jahr?”

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Mittwoch, 4. Juli 2012
Back in the Netherlands
"... You don't know how lucky you are boy"

Schon die Bezeichnung "Natuurterrein" ist ein unzulässiger Euphemismus.

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Montag, 2. Juli 2012
Jaguar gegen Skorpion

War das herrlich! War das wunderbar! Wie Spanien gestern abend Italien zerlegt und vorgeführt hat, bis sich die arrogante squadra azzurra selbst aufgab und nicht einmal mit den sonst probaten unlauteren Mitteln versuchte, das Blatt noch einmal zu ihren Gunsten zu wenden. Ich habe nur zwei Versuche gezählt, aus nicht erfolgten Fouls Elfmeter zu schinden.
Nach seinen zwei Klasse-Toren gegen Deutschland hatte Rotzbengel Balotelli gewohnt großmäulig angekündigt, gegen Spanien vier Tore zu schießen, und exakt so viele Eier haben die Spanier gestern abend “Balotalia” ins Netz gelegt.
“Das Symbol des neuen Italiens”, wie Tuttosport den von Rassisten aus Italien vergraulten Balotelli nach dem Sieg im Halbfinale plötzlich geadelt hatte, stieß nach der desaströsen Niederlage im Finale wütend einen Trostspendenden beiseite und verschwand erst einmal lange in den Katakomben. L’Italia in lacrime. Ja, hinterher; vorher aber hatten Fans im Circus Maximus nazideutsche Hakenkreuzfahnen geschwenkt.
Wie sympathisch der italienische Profifußball dieser Tage wieder einmal rüberkommt – ich zähle die bekannten Einzelheiten nicht noch mal auf –, das hat den spanischen Schriftsteller und Kolumnisten bei El País, Eduardo Verdú, wohl auch zu seiner scharfen Abrechnung schon vor dem Spiel bewogen. In seinem Blog schrieb er am Morgen des Endspiels:

Italien ist der perfekte Gegner, weil es das Böse ist. Wäre Deutschland bis ins Finale durchgekommen, hätten wir dieses Duell als einen Kampf zwischen den beiden besten Mannschaften dieser EM auffassen können. Italien dagegen erscheint vielen von uns als eine Mannschaft, die es zwar zu fürchten gilt, die man aber nicht respektieren kann; effizient aber nicht bewunderungswürdig, wie das mit echten Bösewichten eben so ist.
Dank ihrer öffentlichen Äußerungen und ihrer angeberischen Spielweise, ihres Ruchs als Ultradefensivspieler und der Anschuldigungen wegen gekaufter Spiele .... ist Italien der ideale Feind.
Spanien ist eine saubere, geordnete, ausgeglichene, bescheidene Mannschaft, Italien hingegen eine chaotische und etwas kleinliche, kämpferisch zwar, aber kaum ästhetisch. Die Roten (La Roja) sind ein Jaguar. Italien ist ein Skorpion.
[Balotelli] hat nach seinem zweiten Tor gegen Deutschland sein Trikot weggeworfen, die Muskeln angespannt und stand mit eisigem Blick da, erratisch und provozierend wie ein Superheld des Dunkels, eindrucksvoll und schweigsam, mit seinem Hahnenkamm eines verruchten Gremlins. Ein Feind muss einem Angst einjagen können. Und Balotelli sah auch zum Fürchten aus, mit seinem Ruf eines Labilen, mit all den Beleidigungen von Gegnern und Schiedsrichtern, die sein Image des enfant terrible aus der Vorstadt prägten.
Ein Rivale soll nicht ein Gegner, sondern eine Antithese sein. Und das ist Italien für Spanien.

(Gracias a la traductora duquale)

MUCHAS GRACIAS ESPAÑA!

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Freitag, 29. Juni 2012
Zurück in der infamen Wirklichkeit
Zurück aus Finnland, tritt mir die Wirklichkeit wieder in ihrer ganzen Häßlichkeit entgegen. Da hat sich in der Zwischenzeit in Deutschland ein Reaktionär, der sich für einen Schriftsteller hält, tatsächlich in einem öffentlichen Plädoyer für die Strafverfolgung von zu Blasphemien erklärten Äußerungen von Schriftstellern ausgesprochen. Nachdem ihm die lauen Christen Deutschlands längst viel zu lasch sind und er ihre religiöse Toleranz als Indifferenz diffarmiert hat, entblödet sich Mosebach in “Vom Wert des Verbietens” (Frankfurter Rundschau, 18.6.12) nicht, zu formulieren, mit glaubensstrengen Moslems sei endlich “wieder Musik in die Sache gekommen.” Attentate gegen Karikaturisten, Hinrichtung von Übersetzern - ein Hetzredner wie Mosebach hat nichts dagegen und bekennt freimütig, er sei unfähig, sich “zu empören, wenn in ihrem Glauben beleidigte Muslime blasphemischen Künstlern – wenn wir sie einmal so nennen wollen – einen gewaltigen Schrecken einjagen”. Das ist eine bewußte und darum umso niederträchtigere Verharmlosung religiösen Terrors, wie ihn bekanntlich nicht nur fanatische Moslems, sondern auch die christlichen Taliban aus Mosebachs alleinseligmachender katholischer Kirche jahrhundertelang praktizierten. Ich hoffe sehr, daß eine ironische Abfuhr wie die von Ingo Schulze in derselben Zeitung (25.6.12) reicht, um derartige Attacken wie die von Mosebach unschädlich zu machen. Sicher bin ich mir allerdings nicht.

Gefährlicher noch für die demokratischen Grundlagen Deutschlands und anderer europäischer Staaten scheinen derzeit die Maßnahmen zu sein, mit denen gerade die Regierung Merkel ebenso wie viele weitere Regierungen von EU-Ländern unter dem Decknamen verschiedener “Schutzschirme” die demokratische Kontrolle ihrer Finanzmaßnahmen aushebeln wollen. Schon einmal in diesem Monat hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil zu einer diesbezüglichen Verfassungsklage festgestellt, daß die Regierung mit ihrer Nicht-Informationspolitik das Parlament umgangen und mißachtet hat. Was jetzt an Bestimmungen in den unterzeichneten Entwurf für den “Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus” (ESM) eingefügt wurde, soll eine Finanzinstitution für die Euro-Mitgliedsstaaten schaffen, die von jeglicher Kontrolle und Mitsprachemöglichkeit etwa so exemt ist wie der Papst. SPD und Grüne spielen natürlich wieder einmal mit, und bei der traditionellen Unwirksamkeit außerparlamentarischer Opposition in Deutschland muß man wohl wieder einmal allein auf das unabhängige Urteil des Bundesverfassungsgerichts hoffen, das die Fraktion der Linken wohl nach Durchwinken des Fiskalpakts im Bundestag anrufen wird.
In diesem Video werden einige der neuralgischen Punkte herausgehoben:




Fußnote: Und zu allem Überfluß hat sich die deutsche Nationalelf einmal mehr von römisch abgezockten Italienern aus einem Turnier und der Bahn werfen lassen. "Sohn einer Terroristen-Hure", hat Materazzi damals zweimal zu Zidane gesagt.

Auf jeden Fall weiß man jetzt, wo Gomez die Anregung zu seiner geeligen Frisur herhat:

(via: everyday_i_show)

Aus der Verbrecherdatei der Sydneyer Polizei. Da hatten sie damals übrigens einen bemerkenswerten Fotografen.


Ach, wie schön war Helsinki!

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Sonntag, 24. Juni 2012
Suomi-neito, Finlands mö, trägt dieses Jahr Lachsrosa
Ich weiß nicht wirklich, woran es liegt, bin mir aber recht sicher, daß es zu einem Gutteil dieser Cocktail aus klarer Luft, Seewind, milder Sonne, kurzen, hellen Nächten und reinem Äther ist, der Helsinki in diesen Tagen so angenehm, beschwingt und beschwingend macht. Es läuft sich durch seine Straßen wie mit einem guten Bossanova im Kopf; entspannt, leicht, rhythmisch und doch laid-back, locker: de bad’n da; ba-de ba-da ba-daa ba, de bad’n da... – Das hier ist auch nicht schlecht zur Begleitung dieser angenehmen Mittsommertage, immer das Meer und die Schären in Sichtweite, von Ike Quebec im Jahr vor seinem Tod im Januar 1963 aufgenommen.




Fehlt noch das passende Buch, das Sommer, Sonne, Finnland und frühe Sechziger zusammenbringt? Gibt’s längst: Wunderbare Frauen am Wasser von Monika Fagerholm. Hier ein Auszug:

Isabella schläft in der Sonne zwischen grauen Decken, wenn sie ihren Körper genug gebräunt hat. Sie hat sich mit einem Sonnenöl eingerieben, das einen starken, charakteristischen Geruch hat. Das Etikett zeigt einen dunkelbraunen Jungen in weißer Badehose... Isabellas und Rosas Sonnenbrillen sind an den Seiten nach oben hin abgeschrägt.
Wenn es Zeit ist, schwimmen zu gehen, dreht sich Isabella im Schlaf unruhig zwischen ihren Decken um. Rosa sagt, sie liebe das Meer, geht ins Wasser und schwimmt weit hinaus. Wenn sie zurückkommt, setzt sie sich auf den Strandfels und läßt den Körper in der Sonne trocknen. Sie sieht hinaus über die Bucht. Jenseits von ihr, weit weg hinter den Holmen in der Mitte sieht man an Tagen, wenn kein Sonnendunst ist, Tupsu und Robin Lindberghs Sommervilla.
Aber nachmittags wird es manchmal zu heiß, sogar am Strand. Bella und Rosa stehen auf, rollen ihre Stranddecken zusammen, hüllen sich in ihre Bademäntel, nehmen ihre Sachen und gehen rauf auf den Berg zu Rosas und Gabbes Haus. Die Gardinen im Wohnzimmer werden zugezogen. Rosa stellt die Klimaanlage an und schenkt Softdrinks aus dem leuchtenden Barschrank mit Kühlschrankfunktion ein. Bella und Rosa zünden Zigaretten an, inhalieren und sehen dem grauen Rauch nach, der sich wie weiche Haut über den Raum legt.
“Wollen wir ‘nen Film sehen, Bella?”
Bella nickt...
Der Film endet am Meer. Rosa im Sand an einem fast leeren Strand. Die Wellen sind hoch, Wind geht...
Gabbe zieht den Küchenvorhang zur Seite, und man steht vor einem gewaltigen Herd. Er hat vier Kochplatten und eine hochklappbare Blende, auf der die Knöpfe sind, mit denen man die Platten- und Ofenwärme einstellt. “Wie in der Navigationszentrale eines Raumschiffs”, sagt Gabbe. “Bald sind wir auf dem Mond, Thomas.”
“Wir leben mitten in einer unglaublichen Zeit.”
Gabbe entdeckt den Herd gleichsam neu, tätschelt ihn und sagt: “Flammenloses Kochen.”
“Hier könnt ihr eure Rezepte ausprobieren.”
Gabbe lächelt Bella und Rosa zu. “Wir Männer sagen nicht nein zu einem guten Kuchen.”
Isabella lacht ihr Meerjungfrauenlachen. “Danke, aber ich backe nicht.
“Wir sind nicht gerade eine normale Familie”, fällt Kajus ein. “Wir haben Musik im Blut. Wir hören viel Musik. Jazzmusik.”
Gabbe erklärt, er wolle in Musik machen. “Tonbandgeräte. Die Kassettentechnik wird im Lauf des Jahrzehnts die traditionelle Musikwiedergabe ausstechen. Ihr könnt euren Plattenspieler ins Meer werfen, Mister Jazz!”

Im Mai 1964 stöbern Johan Wikblad und Ann-Christine auf Auktionen. In der weißen Villa gibt es keine großen Veränderungen. Lindberghs haben ein neues Mahagonimotorboot, noch glänzender, mit einer kleinen Kajüte unterm Vorderdeck und noch mehr Pferdestärken. Zwei Wochen im August fährt Klas – oder ist es Peter Lindbergh? – auf der Bucht mit einem Mädchen herum, das auf dem Vorderdeck sonnenbadet.
Swisch, Lindberghs glänzendes Mahagonisportboot kommt auf Johanssons und Gabbes und Rosas gemeinsamen Ponton zugefahren. Rosa springt an Bord, um mit Tupsu zu den Freundinnen in den Häusern draußen am offenen Meer zu fahren.
Thomas rudert an Land. Kajus geht hinauf. Neues Jahr, neue Songs. The Girl from Ipanema. Bella steht am Fenster im Dunkel des großen Zimmers. Sie geht durch den Raum.
She looks straight ahead / But not at me.
Kajus fängt sie ein. Sie tanzen.

Schöner Sommer ‘64. Schräg auf Katzenaugen geschnitten sind die Sonnenbrillen im diesjährigen Sommer nicht, aber groß. “Jungfrau Finnland”, Finlands mö, mit Insektenaugen. Schade eigentlich. Ohne Sonnenbrille steht sie in Bronze gegossen am Runeberg-Denkmal oder im Portal eines Jugendstilhauses auf der Aleksanterinkatu, der Haupteinkaufsstraße Helsinkis. Sie war einmal das charmante finnische Gegenstück zum deutschen Michel, die allegorische Verkörperung Finnlands. Der Nationalromantiker Edvard Isto hat sie so gemalt, und die finnlandschwedische Autorin Ulla-Lena Lundberg hat ihre erste Begegnung mit seinem Bild in der Kindheit so beschrieben:

Das Gemälde war riesengroß. Es stellte eine hochgewachsene Frau oder ein großes Mädchen im Leinenkleid mit muskulösen Armen und kräftigen Handgelenken dar. Es stand im Wind und fürchtete sich. Seine Augen starrten weit aufgerissen einem Adler entgegen, der seine Fänge gegen ein großes Buch spreizte, das das Mädchen krampfhaft an seine Brust drückte.

Womöglich ist das der größte Adler Finnlands. Vielleicht wurde nie ein gräßlicherer Zweikampf dargestellt. Der Adler will das Buch haben, koste es, was es wolle, und das Mädchen will es um keinen Preis hergeben, so übel es auch selbst zugerichtet wird.
Ich hätte das Buch von mir geworfen und wäre weggerannt; so viel wußte ich genau. Mit dem Mädchen identifizierte ich mich viel weniger, aber der Adler fesselte meine Aufmerksamkeit. Er war erst so kürzlich herangeflogen gekommen, daß man noch das Rauschen in seinen Schwungfedern hörte, als er sich vom Himmel stürzte, und das gewaltige Ratschen, mit dem er auf dem Buch landete. Der Vogel war bis in das winzigste Detail absolut naturgetreu.

Hyökkäys (Der Angriff), Eetu Isto, 1899

Es störte mich überhaupt nicht, daß er zwei Köpfe besaß, denn man konnte sich leicht einbilden, er hätte den Kopf so schnell hin und her gewendet, daß es wie zwei Köpfe aussah. Er war mehr Adler als das Mädchen ein Mädchen war, ja, er war mehr Adler als irgendein lebender Adler, den ich später je gesehen habe.
"Warum?" fragte ich natürlich. "Warum macht er das?"
Ich war gut dran, mit einer Mutter und einer Schwester, die lesen und erklären konnten. Das Mädchen war das jungfräuliche Finnland, das Buch Finnlands Verfassung. Der Adler war Rußland, das versuchte, der Jungfrau Finnland ihr Grundgesetz aus den Händen zu reißen. Aber die Jungfrau Finnland ließ nicht los. Nein, sie packte so zu, daß der russische Adler nachgeben mußte.
"Aha", sagte ich.

(Ulla-Lena Lundberg: Sibirien)


Wenn man das Bild unter dem vorgestrigen Eindruck betrachtet, könnte der Adler natürlich auch der deutsche sein und das Mädchen die schöne Hellenin in klassischem Weiß-Blau:
"Brutal dismantling of Greece... The evening was a lesson in the ruthless reality of German’s attacking power", hat der Telegraph über das Spiel geschrieben. Aber auch die Grazie lag ganz auf unserer Seite. “"It wasn’t enough that in the group stages Germany demonstrated trademark efficiency and reliability. There is now a demand for traces of Latin flamboyance in their football culture.”
Doch zurück zur Suomi-neito. In den Siebzigern wurde sie zur Melodie von “American Pie” besungen und in Japan kürzlich zur Manga-Figur. Der in Deutschland lebende serbische Percussionist Nebojsa Jovan Zivkovic aus Sremska Mitrovica widmete ihr eine eigene Komposition, Suomineito. Mithin erweist sich die alte Jungfrau Finnland als ewigjung, und sie wandelt ganz unallegorisch noch immer mitten unter uns. Ich entdeckte sie dieser Tage in der flanierenden Menge auf der Esplanade. Gegen den doppelköpfigen Adler muß sie derzeit nicht ankämpfen, doch vor Kameras posieren und dabei irgendsoein Pisshündchen an der Leine bändigen. Und einen ziemlich scheußlichen Rock tragen.


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Freitag, 22. Juni 2012
Juhannus
(Jahres-)zeitenwende: der längste Tag, die kürzeste Nacht des Jahres vorbei, die Nächte werden wieder länger, es geht auf Weihnachten zu. Den Mittsommertag, Juhannus, feiern die Finnen offiziell erst am Samstag, aber der Exodus aus der Stadt hat schon eingesetzt, denn Mittsommer zelebriert “der Finne” auf dem Land, im Wald, an einem See mit einem großen Feuer, das nach dem obligatorischen Saunagang entzündet wird.

cc Schon wieder also ein halbes Jahr vorüber, das Rad des Jahreszyklus’ dreht sich wie die Rota Fortunae in den Carmina Burana: "O Fortuna / velut luna / statu variabilis …" - Langsam wird man sich wirklich, um es mit den Worten des Alten in Weimar zu sagen, “selbst historisch”. Das zeigt sich zum Beispiel daran, wie historische Ereignisse, die man lange als epochal ansah, irgendwann auf das Maß einer Episode zusammenschrumpfen.
In Helsinki begegnete ich einem älteren Kollegen aus den USA, der sich beim Tischgespräch irgendwann nach Berlin erkundigte. Da mir zu Berlin grundsätzlich wenig (Gutes) einfällt, nahm eine kroatische Kollegin am Tisch, die seit Jahren in Berlin wohnt und sich nach eigener Aussage nicht vorstellen kann, irgendwo anders zu leben als in Kreuzberg, Wrangelkiez, den Faden auf und schwärmte auf die übliche Weise von den Vorzügen der Stadt. Irgendwann unterbrach der Amerikaner ihre Hymnen mit den Worten: “Ich höre heraus, daß sich die Stadt wohl noch mächtig verändert hat. Ich war in meinem Leben zweimal in Berlin, aber die Mauer habe ich nie gesehen. Mein erster Besuch fand 1960 statt, ein Jahr vor dem Mauerbau, und als ich vierzig Jahre später wiederkam, war die Mauer schon wieder weg.”

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