Find more about Weather in Piran, LJ
Dienstag, 8. Juni 2010
Humanitäre Katastrophe oder Ölinteressen? Kleines Sudan-Dossier, I
Bevor mir das Fahrtenbuch noch zum Politblog verkommt, hier vorläufig ein letzter Prüfstein für deutsche Außenpolitik in Krisengebieten: Unter den Materialien, die das Internetportal für kritischen Journalismus, das dossier, zum Rücktritt von Horst Köhler bereitstellte, findet sich auch ein sehr interessanter Diskussionsbeitrag der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) bzw. deren deutscher Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. mit dem Titel “Deutschland und die Rohstoffkriege”. Darin behaupten die Ärzte einleitend allgemein:
Für die deutsche Politik dient - wie auch für andere politisch und wirtschaftlich einflussreiche Staaten - die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" wieder zu den offiziellen Rechtfertigungen von Kriegen. Für fast alle Kriege der letzten Jahre lässt sich nachweisen, dass der Zugang zu Erdöl, Erdgas und anderen Rohstoffen sowie den Transportwegen zu den wesentlichen Kriegsgründen zählte. Das Menschenrechtsargument wird als offizieller Rechtfertigungsgrund vorgeschoben.”
Als ersten Beleg führen sie die 2005 von BP Köhler in Bonn veranstaltete Afrika-Konferenz an, zu deren Begründung und Relevanz Köhler vor der Presse erklärte: "seit die Lage im Nahen Osten kritischer geworden ist, importiert der Westen zunehmend mehr Öl aus Afrika" (Bonner Generalanzeiger, 8.11.2005).
Auch damals hat Köhler nichts anderes getan, als die reale deutsche Außenpolitik beim Namen zu nennen. Denn, so Henrik Paulitz vom IPPNW, “in seiner "Außenpolitischen Strategie zu Zentralafrika" verweist das Auswärtige Amt neben anderen knappen Rohstoffen auf die Ölvorkommen in Gabun, Kamerun, Republik Kongo, Äquatorialguinea, Tschad, sowie auf die Demokratische Republik Kongo (früher Zaire).” In vielen dieser Länder sind die Ölkonzessionen aber längst an andere vergeben. Wieder einmal betritt Deutschland den afrikanischen Schauplatz aufgrund historischer Umstände erst spät, vielleicht zu spät. Aber wenn sich Regierungen und Staaten ihre Außenhandelspartner schon gesucht haben (oder umgekehrt), kann man ja versuchen, noch neue zu schaffen. Genau das geschieht derzeit im Sudan.

Bei diesem flächenmäßig größten Land Afrikas denkt jeder natürlich zuerst an die von vielen mit Völkermord gleichgesetzte humanitäre Katastrophe in der westlichen Provinz Darfur. Dazu aber stehen in dem Papier der Ärzte des IPPNW Sätze, die mich staunend aufmerken ließen:
"Mia Farrow in Darfur"
<br />
cc) Genocide Intervention Network via Flickr“Im Vorfeld des Bundeswehr-Einsatzes in Sudan wurde eine Menschenrechtskatastrophe in der sudanesischen Region Darfur hochstilisiert. Der Kölner Wissenschaftler und Sudan-Kenner Stefan Kröpelin vertritt die Auffassung, dass die Menschenrechtssituation in Sudan nicht besser und nicht schlimmer ist als in jedem anderen afrikanischen Land. Auch offizielle Stellen würden das unter der Hand bestätigen. Doch seit man am Erdöl interessiert sei, sei die humanitäre Katastrophe für den Westen plötzlich von Interesse. Journalisten wären an einem differenzierten Bild nicht interessiert [...] Kröpelin hält die genannten Zahlen über Menschenrechtsverletzungen für völlig abwegig. Die Zahlen würden von den Flüchtlingslagern stammen. Doch viele Leute seien nur deswegen in den Flüchtlingslagern, weil es dort Dinge umsonst gebe. Auch Menschenrechts- und Hilfsorganisationen hätten ein Interesse an übertrieben hohen Zahlen, weil das die Spendenbereitschaft in Deutschland erhöhe. Zudem sei die Region Darfur nur schwer zugänglich und Menschenrechtsorganisationen würden sich zum Beispiel auf Aussagen von Exilbischöfen berufen, nicht jedoch auf Quellen vor Ort. Einige Überfälle mit Todesfällen habe es in Darfur schon immer gegeben. Das Beispiel Sudan zeigt ebenso wie auch andere einschlägige Fälle, dass die deutsche Öffentlichkeit die Menschenrechtslage in anderen Ländern in keiner Weise beurteilen kann. Auch auf die Angaben vermeintlich "unabhängiger" Menschenrechts- und Hilfsorganisationen kann man sich nicht stützen. Eben so wenig sind in aller Regel die Abgeordneten des Deutschen Bundestages informiert. Das bedeutet, dass eine demokratische Kontrolle von Interventionen praktisch nicht möglich ist. Weder die Bevölkerung noch die Abgeordneten in den Parlamenten können ernsthaft überprüfen, ob ein Krieg tatsächlich wie oft behauptet zur Verhinderung von schweren Menschenrechtsverletzungen geführt wird oder mit dem Ziel, Zugang zu Märkten und Rohstoffen zu bekommen.”
Natürlich habe ich versucht, etwas über das Sudan-Expertentum von Stefan Kröpelin herauszufinden. Tatsächlich reist er schon seit den 80er Jahren zu Forschungszwecken durch das Land, hat 1990 seine Dissertation zur Geologie des Sudans geschrieben und seitdem jährlich Publikationen zur Geologie, Klimageschichte und Archäologie des Landes veröffentlicht. Seit Jahren leitet er die Afrikaabteilung am Institut für prähistorische Archäologie an der Uni Köln und hat mittlerweile mehr als 40 Expeditionen durch die östliche Sahara unternommen. Der Mann kennt sich aus im Sudan.
Bereits 2004, ein Jahr nach Eskalation der Konflikte in Darfur, als Amnesty International und andere humanitäre Organisationen Berichte von ethnischen Säuberungen, Massenvergewaltigungen und Völkermord in Darfur publizierten, meldete Kröpelin in einem Beitrag in der Frankfurter Rundschau (14.10.04) “Zweifel an den von Politikern und deren Beratern kolportierten Behauptungen systematisch eingesetzter Massenvergewaltigungen und Massenerschießungen” an und fragte, warum keine Beweise etwa in Form hoch auflösender Satellitenaufnahmen vorgelegt würden. Die damals gezeigten Fernsehaufnahmen von angeblich niedergebrannten Dörfern identifizierte er als Brennplätze für Keramik. (Wie man die Weltöffentlichkeit mit falschen oder manipulierten Luftaufnahmen monatelang hinters Licht führen könne, hätten wir im Vorfeld des Irakkriegs sattsam erlebt.) Weiterhin kritisierte Kröpelin die Stilisierung der - zweifellos stattgefundenen - Kämpfe zu einem ethnischen Konflikt zwischen Schwarzafrikanern und arabischen Reitermilizen. Die einzige tatsächlich arabischstämmige Ethnie im Sudan, die Kababisch, habe sich daran gar nicht beteiligt. Ursache für die Zusammenstöße seien keine ethnisch motivierten Spannungen, sondern eine fortgesetzte Verschlechterung der klimatischen und ökologischen Lebensumstände in der Region, deren Folgen durch das extreme Bevölkerungswachstum der vorangegangenen Jahrzehnte noch drastisch verschlimmert würden. Speziell in Darfur habe sich die Bevölkerung in den letzten fünfzig Jahren verfünffacht. - Drei Jahre später hat selbst UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon Kröpelins Einschätzung bestätigt.
Doch der Geowissenschaftler bleibt bei diesem ökologischen Erklärungsansatz nicht stehen, sondern hat auch gesehen, daß Rebellenarmeen in Darfur genau ab dem Zeitpunkt Zulauf erhielten, seit dem sich abzeichnete, daß ihr bisheriges Operationsgebiet im Südsudan bald durch ein Friedensabkommen pazifiziert werden würde und sie damit ihre Verdienstmöglichkeiten verlieren könnten. Zudem hätten auch die Stämme in den betroffenen Landesteilen fürchten müssen, durch ein Abkommen zwischen der südsudanesischen Rebellenpartei und der Zentralregierung von den Einnahmen aus dem anlaufenden Ölexport ausgeschlossen zu werden, weshalb es zur Aufstellung neuer Rebellenarmeen wie SLA (Sudanese Liberation Army) und JEM (Justice and Equality Movement) gekommen sei. Hinzu kämen die erst Mitte der Siebziger Jahre (nach der 1. Ölkrise) prospektierten riesigen Öllagerstätten unter dem Sand der zentral- und ostafrikanischen Sahelgebiete. Ihr Volumen schätzt man allein im Sudan auf 2 - 3 Milliarden Barrel, und sie sollen von besserer Qualität und leichter zu fördern sein als die Vorkommen im Nahen Osten. “So erfordert es wenig Fantasie nachzuvollziehen, dass sich gerade die jetzige Regierung der USA ihre Claims an den neuen Erdölpfründen sichern und hierfür strategisch in Afrika etablieren will”, schrieb Kröpelin damals. “Für die von immer mehr US-Politikern geforderten Truppenentsendungen kommt der Konflikt in Darfur gerade recht.”

Zwei Jahre später hat Stefan Kröpelin in International, der österreichischen “Zeitschrift für internationale Politik” (Heft IV/2006), noch einmal nachgelegt und - neben Vorwürfen einer grob einseitigen und stark vereinfachenden Berichterstattung in den westlichen Medien - besonders den Aspekt der Erdölvorkommen verstärkt in Anschlag gebracht. Nachdem inzwischen “chinesische und malaysische Firmen mit langfristigen Verträgen die Ölförderung im Sudan einschließlich der von China gebauten Pipeline von West-Kordofan nach Port Sudan am Roten Meer” beherrschen, gehe es der US-Regierung erst einmal darum, “den sudanesischen Ölexport lahm zu legen und regionale Gegensätze zu schüren in der Hoffnung auf späteren Zugang zum Öl [...] Nachdem die USA an den Erdölkonzessionen im Zentralsudan vor allem gegenüber China das Nachsehen hatten, zielt deren Rohstoffhunger folgerichtig auf die Erdölvorkommen im westlichen Sudan. Schon existieren fortgeschrittene Pläne für eine Verlängerung der bereits bestehenden US-amerikanischen Pipeline vom West-Tschad durch Kamerun an die Atlantikküste, die einen optimalen Zugang zu den Ölreserven Süd-Darfurs gewährleisten soll. Es fehlt nur noch die kooperative Regierung eines abgetrennten Teilstaats.”
Genau die wird aber längst vorbereitet, und zwar maßgeblich durch westliche, nicht zuletzt auch deutsche Hilfe. Als die südsudanesischen Rebellen von der SPLA/M des ehemaligen Obersten John Garang im Beisein von US-Außenminister Powell im Januar 2005 in Nairobi ein Friedensabkommen mit der Zentralregierung in Khartum unterschrieben, sah es u.a. vor, daß die Bevölkerung des Südens nach einem sechsjährigen Moratorium 2011 in einem Referendum über ihre staatliche Unabhängigkeit abstimmen darf. Deutsche Firmen haben schon vor Abschluß des Friedensvertrags auf einen demnächst unabhängig werdenden Südsudan gesetzt. Bereits am 27. November 2004 meldete die Neue Zürcher:
“Mit der deutschen Gleisbau-Firma Thormählen schloss der SPLA-Führer Garang im September einen Vorvertrag für den Bau eines Schienennetzes von 4000 Kilometern Länge im Südsudan. Thormählen ignorierte dabei die sudanesische Regierung. «Beim Abschluss eines endgültigen Friedensabkommens, wie er noch vor Ende dieses Jahres geplant ist, wird der Süden autonom, erhält die Hälfte der Öleinnahmen und kann den Aufbau seiner Infrastruktur selbst planen», meint der Chef der Firma, Klaus Thormählen, zuversichtlich. Mit den deutschen Firmen Thyssen-Krupp, Siemens, Strabag und Radio Hamburg hat Thormählen eine Holding-Gesellschaft gegründet, welche beim Wiederaufbau des Südens mitwirken soll.”
Die Firma Thormälen hatte damals in einer Presseerklärung angekündigt:
“Aufgrund sehr enger persönlicher Beziehungen zwischen Herrn Klaus Thormählen und Herrn Dr. Costello Garang Ring (Commissioner for international cooperation der SPLM/A) ist es uns gelungen, das Vertrauen der neuen Regierung des Süd Sudan und der Regierungen in Kenia, Uganda und Äthiopien zu gewinnen. Man hat uns gebeten, die Leitung verschiedener Großprojekte zum Wiederaufbau des Süd Sudans zu übernehmen.
Im Mittelpunkt stehen dabei folgende Projekte/Gewerke:
1. Planung, Bau und Betrieb einer Eisenbahnlinie von den Ölfeldern des Süd Sudan mit Abzweigungen nach Uganda bis nach Rongai/Nairobi (4.100km) [...]
5. Aufbau einer Fluggesellschaft
6. Aufbau einer neuen Hauptstadt für den Süd Sudan
[...] Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft dienen dabei als Sicherheit für die Finanzierung [...] Insgesamt ist mit einem Investitionsvolumen von ca. 8 Mrd. US$ für diesen Bereich zu rechnen.”
Zwei Jahre später gab es die Firma allerdings nicht mehr. Ihr Hauptaktionär, die Vermögensverwaltung Erben Dr. Karl Goldschmidt GmbH aus Essen, war der Meinung, das Oldesloer 90-Beschäftigten-Unternehmen Thormälen sei zu klein, um einen solchen 8-Milliarden-Deal zu stemmen, und bestand auf Liquidierung der Firma, berichtete das Hamburger Abendblatt.
Auch wenn das Geschäft in dieser Form nicht zustande kam, belegt es, daß deutsche Firmen aus geschäftlichen Interessen von Anfang an auf eine Sezession und anschließende staatliche Unabhängigkeit des Südsudan setzten.

... link (4 Kommentare)   ... comment


Freitag, 4. Juni 2010
Wie die Bundesmarine ans Horn von Afrika kam
c) Bundeswehr

Schützen - helfen - vermitteln - und (fast versteckt im unteren, rechten Quadranten) auch ein bißchen kämpfen, das sind die vier Tätigkeitsbereiche, die die Bundeswehr in ihrer Internetselbstdarstellung unter der Parole “Im Einsatz für den Frieden” als die ihr übertragenen Aufgaben ausgibt. Sie umschmeicheln schön das Image, das die deutschen Streitkräfte vor allem als eine Truppe friedensbringender Aufbauhelfer (mit manchmal etwas “robustem” Auftrag) nach außen hin von sich aufbauen möchten.
Als unser soeben untergetauchter Ex-Bundespräsident vor kurzem gefragt wurde, was unsere Soldaten im weltweiten Einsatz denn so schützen, antwortete er etwas unbedacht: “zum Beispiel freie Handelswege” und andere “Interessen”, die sich aus unserer “Außenhandelsabhängigkeit” ergäben. Das war insofern ein wenig dumm, als solche Handelsschutzeinsätze der BW vom Grundgesetz zumindest nach lange Jahrzehnte geltendem Konsens grundsätzlich (und weit entfernt vom Territorium der Bundesrepublik schon gar) nicht erlaubt waren. Deshalb wurden Köhlers Äußerungen auch sofort von Mitgliedern aller Parteien, die eine neue militärische Außenpolitik Deutschlands betrieben und durch das Parlament gebracht haben, heftig bis rüde dementiert.
Köhler selbst hat nachträglich behauptet, auf Afghanistan hätten sich seine Äußerungen nicht bezogen (obwohl er konkret nach Afghanistan befragt worden war), wohl aber - als vermutlich unumstrittenste “Mission” - auf den Einsatz der Bundesmarine am Horn von Afrika, und diese Umwidmung oder Zuordnung wurde dann von vielen Journalisten und Politikern als zutreffend und korrekt akzeptiert. – Darf man demgegenüber vielleicht daran erinnern, daß die Fregatten der Bundesmarine ursprünglich im November 2001 nach Ausrufung des NATO-Bündnisfalls und als Teil der nach 9/11 inszenierten Operation Enduring Freedom (OEF) zur weltweiten Bekämpfung des Terrorismus in Marsch gesetzt wurden? In etwas konfusem Deutsch erläutert die BW auf ihrem offiziellen Datenblatt dazu: “Das Mandat erlaubt bewaffneten deutschen Streitkräften, bei der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA zu unterstützen. Zuletzt wurde es am 3. Dezember 2009 für zwölf Monate verlängert.” Als akute Terrorabwehr ist dieser BW-Einsatz außerhalb unserer Hoheitsgewässer damals begründet worden, und dieses Mandat besteht bis heute. 9 Jahre sind allerdings für eine akute Gefahrensituation vielleicht doch ein etwas langer Zeitraum. Um einem eventuellen diesbezüglichen Erklärungsnotstand vorzubeugen, steht in der Einsatzbeschreibung inzwischen zusätzlich: “Auftrag des Deutschen Einsatzverbandes sind die Seeraumüberwachung und der Schutz der Seeverbindungslinien in den Gebieten um das Horn von Afrika und die Arabische Halbinsel [...] Zusätzlich zu OEF gibt es deshalb mit der europäischen Operation ATALANTA eine weitere Marinemission in der Region zur Abschreckung und Bekämpfung der vor der somalischen Küste operierenden Piraten.”
Damit sind Bundeswehr und -regierung juristisch fein aus dem Schneider, denn die Operation Atalanta ist durch eine Resolution des Weltsicherheitsrats der Vereinten Nationen gedeckt und zudem eine 2008 beschlossene Gemeinsame Aktion des Rates der Europäischen Union (an dem die Bundesregierung bestimmt nur ganz unmaßgeblich und quasi als Mandatsempfänger mitgewirkt hat). Gegen den Schutz friedlicher Handelsschiffe vor bewaffneten Piratenüberfällen, Kidnapping und Lösegelderpressung läßt sich ohnehin wenig einwenden - wenn man den ehemaligen Konsens über eine enge Beschränkung von BW-Einsätzen auf den Verteidigungsfall (= “Die Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht”, GG, Art 115a) als “nicht mehr zeitgemäß” beiseite schiebt. Das war schon clever gemacht: Ein einziger verheerender Terroranschlag auf Hochhäuser in New York und die darauf folgende Ausrufung des Bündnisfalls für alle NATO-Staaten lieferten auf unserer Seite der Atlantischen Brücke die nötige Handhabe. Laut Art. 80a GG war im Falle Deutschlands die Anwendung von Art. 115a “außer im Verteidigungsfalle nur zulässig, wenn der Bundestag den Eintritt des Spannungsfalles festgestellt [hat] oder... auch auf der Grundlage und nach Maßgabe eines Beschlusses zulässig, der von einem internationalen Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages mit Zustimmung der Bundesregierung gefaßt wird.”
Unter der Gleichung Bündnisfall = Verteidigungsfall ließ sich damit die Beteiligung an Enduring Freedom rechtfertigen, die nach einer gewissen Zeit durch die Operation Atalanta flankiert und in der öffentlichen Darstellung allmählich ersetzt wurde. Sieht man sich die Reaktionen auf Köhlers letzte Äußerungen an, dann wird es von weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit inzwischen akzeptiert, daß Kriegsschiffe der Bundesmarine über 5000 Seemeilen von ihren Heimathäfen entfernt deutsche Handelsinteressen sichern.
Die Zeit bleibt niemals stehen, aber angesichts dessen frage ich mich schon, ob sie wirklich immer nur vorwärts läuft. Trittins Erinnerung an ehemalige wilhelminisch-deutsche “Kanonenbootpolitik” trifft unbeabsichtigt vielleicht doch weitere Kreise als allein den ehemaligen Bundespräsidenten.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 1. Juni 2010
Der Dolchstoß am Bundespräsidenten
In den letzten Tagen hat Horst Köhler (ziemlich erfolglos) versucht, seine (Aus-)plaudereien über den Wolken sozusagen in ein anderes Fahrwasser zu lenken (nämlich das des Indischen Ozeans am Horn von Afrika), obwohl seine Äußerungen über Handelsinteressen als Kriegsgrund unmittelbar in Beantwortung einer Frage nach Afghanistan erfolgten; jetzt ist es ihm dem Anschein nach zu viel geworden, sich für andere das Maul zu verbrennen, er verließ das Staatsschiff und - 2. Konsequenz aus seinem “brandgefährlichen” Interview - warf den Bettel hin.
“Meine Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr am 22. Mai dieses Jahres sind auf heftige Kritik gestoßen. Ich bedauere, dass meine Äußerungen in einer für unsere Nation wichtigen und schwierigen Frage zu Missverständnissen führen konnten. Die Kritik geht aber so weit, mir zu unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären. Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen.
Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten - mit sofortiger Wirkung.”
Auf beiden deutschen Fernsehkanälen haben sich die Kommentatoren heute unablässig bemüht, dahinterstehende “eigentliche” Gründe für Köhlers Rücktritt zu finden, und natürlich tischten sie einige davon auf. Nur einen nicht, nämlich den, daß die Verlautbarungen des Bundespräsidenten durchaus geeignet sind, Zweifel an den bisherigen offiziellen Begründungen für den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr weiter zu verstärken. Das fadenscheinige halbe Dementi seiner Pressestelle hätte vielleicht doch nicht gereicht, um zu verhindern, daß die Diskussion über die verfassungsmäßige Legitimität des BW-Einsatzes am Hindukusch wieder aufflammt. Vielleicht wollte Köhler mit seinem Rücktritt nicht nur sich selbst aus der Schußlinie bringen.
Aus seiner offiziellen Rücktrittserklärung spricht in meinen Augen allerdings vor allem eins: gekränkte persönliche Eitelkeit.
Meine Äußerungen waren zwar bedauerlich mißverständlich, aber Kritik an ihnen “entbehrt jeder Rechtfertigung”, hat er erklärt, denn ich bin der 1. Mann im Staat, und wer mich kritisiert läßt “den notwendigen Respekt für mein Amt” und damit für mich vermissen. L‘état c‘est moi, hat mal jemand mit ähnlicher Staatsauffassung gesagt - obwohl... der Vergleich ist für einen Horst Köhler letztlich zu hoch gegriffen. Was man einer Frau Käßmann als honorig anrechnen konnte, riecht bei Herrn Köhler nach Davonlaufen. Das reicht aber noch lange nicht, um die ehemalige Bischöfin jetzt aus dem wohlverdienten Privatleben auf einmal als Nachfolgerin Köhlers auch nur ins Gespräch zu bringen.
Hier noch ein Nachruf.

Das wahrhaft empörende Ereignis des Tages fand aber heute vor der Küste von Gaza statt.

... link (8 Kommentare)   ... comment


Samstag, 29. Mai 2010
Der Dolchstoß des Bundespräsidenten
O weh! Das Geschrei ist groß, der Bundes-Horst hat auf seinem fast spontan zu nennenden Besuch bei der kämpfenden Truppe in Afghanistan letzten Sonntag viel Porzellan zerschlagen und nahezu jeden vor den Kopf gestoßen, mit dem er eigentlich unter einer Decke stecken sollte: den Herrn Karsai, weil sich unser Bundespräsident, das Staatsoberhaupt einer der Afghanistan besetzt haltenden befreienden Militärmächte, wie ein Dieb in der Nacht ins Land geschlichen hat anstatt offiziell den Vordereingang in Kabul zu benutzen. (Ich kann ihn ja gut verstehen, wer möchte schon so eine schmierige Hand wie die Karsais schütteln müssen?), aber auch die eigenen Soldaten, weil sie nicht genügend Siegeszuversicht in die Mikrophone posaunten. "Warum höre ich das nicht von Ihnen?" (Ich kann sie ebenfalls gut verstehen.) Vor allem aber die ganzen politischen Maulhuren und Kriegs(be-)treiber und -verbrämer in Parlament, Parteien, Politik und Medien. Die sehen durch ein vielleicht unbedacht offenes Wort Köhlers jetzt ihre gesamte Wortakrobatik um die “umgangssprachlich” vielleicht ganz irrig schon einmal Krieg genannten, in Wahrheit aber natürlich nur Freiheit, Sicherheit & Demokratie sichernden Maßnahmen am Hindukusch entlarvt. Grünen-Fraktionsvize Frithjof Schmidt schäumte, die Äußerungen des Bundespräsidenten seien "brandgefährlich". "Sie entsprechen weder der Rechtsgrundlage noch der politischen Begründung des Afghanistan-Einsatzes", sagte Schmidt. Die Ausführungen Köhlers offenbarten ein für das Präsidentenamt inakzeptables Verständnis von Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. (SZ, 27.5.10) „Köhler schadet der Akzeptanz der Auslandseinsätze der Bundeswehr”, erklärte auch Thomas Oppermann, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, in Spiegel Online. Deutschland führe in Afghanistan keinen Krieg um Wirtschaftsinteressen, es gehe dort um die Sicherheit Deutschlands”, hält er brav an der Struck-Doktrin fest. Wer anderes behaupte oder fordere, "redet der Linkspartei das Wort. Wir wollen keine Wirtschaftskriege", so Oppermann.
“Im Ergebnis ist Köhler allen in den Rücken gefallen, die den Einsatz im Bundestag beschlossen haben - und auch den Soldaten in Afghanistan, die sich bisher nicht als Kämpfer für den Welthandel sahen”, kommentierte Daniel Brössler erbost in der Süddeutschen, wo er unseren Bundespräsidenten unverblümt einen Schwadroneur nannte. - Wenn sich die Bundeswehrsoldaten bisher nicht als “Kämpfer für den (deutschen) Welthandel” sahen, war es höchste Zeit, daß sie jemand wieder an längst öffentlich erklärte Ziele deutscher Außen- und Sicherheitspolitik erinnerte. Daß das ausgerechnet der erste Mann im Staat übernehmen würde, hätte ich Horst Köhler gar nicht zugetraut.

c) ddp

Kaum war die Bundesrepublik Deutschland um das Staatsgebiet der DDR erweitert worden und konnte das Ausgreifen der Bundeswehr ins Ausland keinen gefährlichen Konflikt in der Frontstellung des Kalten Krieges mehr provozieren, da wurde auch sogleich eine breite Debatte über denkbare militärische Abenteuer in Gebieten entfacht, zu denen der Bundeswehr vom Grundgesetz der Zutritt eigentlich verboten war. In unerschütterlicher Bündnistreue hatte die alte Bundesrepublik bereits im Ersten Golfkrieg 1987 Marineverbände zur Unterstützung der Amerikaner ins östliche Mittelmeer entsandt und damit die eigene Verfassung unterlaufen. Gleiches wiederholte sich im Zweiten Golfkrieg 1990; die Verlegung von Kampfflugzeugen in die Nähe der irakischen Grenze kam hinzu. Konnte man dies noch als Maßnahmen zum Schutz des NATO-Partners Türkei ausgeben, so gilt das anschließende Minenräumen im Persischen Golf unbestritten als erster “Out of area”-Einsatz der Bundeswehr. Ähnliche “rein humanitäre Aktionen” folgten in Kambodscha (1992/93), bei der “Stabilisierungsmission” der UNO in Somalia (1993/94) sowie bei der Durchsetzung des Embargos gegen Restjugoslawien 1992-96. Der Öffentlichkeit und Soldaten, die vielleicht in der Überzeugung der BW beigetreten waren, das Grundgesetz (Art. 26 GG (1) "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen") verbiete jeden bewaffneten Einsatz außerhalb des Verteidigungsfalls und des Bündnisgebiets, mußte klar gemacht werden, daß sich der politische Wind inzwischen gedreht hatte.
Helmut Kohls neuer Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) erließ zu diesem Zweck noch im Jahr seines Amtsantritts 1992 neue Verteidigungspolitische Richtlinien. Unter Punkt II. Deutsche Wertvorstellungen und Interessen taucht dort als Zielsetzung auf: “Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt”.
Einer seiner Nachfolger, Peter Struck (SPD), hat diese Zielsetzung nicht nur bestätigt, sondern noch ausgeweitet. Seine Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2003 “machen deutlich, dass sich die Einsätze der Bundeswehr weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen lassen” (§27) , m.a.W. also deutsche Kriegseinsätze weltweit denkbar und möglich sein sollen. Zwar sprach Struck, dem man nachrühmte, er habe oft Klartext geredet, statt von Krieg lieber wie ein Versicherungsmakler von “Risikovorsorge”, aber was Köhler jetzt klar aussprach, sagte auch Struck damals lieber noch durch die Blume: “Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen und -mitteln zusätzlich verwundbar.” Und darum wollte Struck den “Wandel der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz.” (§84)
Sein Nachfolger Jung (CDU) schrieb der Bundeswehr unter den Zielen deutscher Sicherheitspolitik 2006 schon fast selbstverständlich ins Weißbuch, “den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands zu fördern”.
Am 6. Mai 2008 beschloß die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag eine Sicherheitsstrategie für Deutschland. Darin hob sie “unsere Abhängigkeit von Energie und Rohstoffen sowie einer sicheren Versorgungsinfrastruktur” hervor und folgerte daraus: “Die Herstellung von Energiesicherheit und Rohstoffversorgung kann auch den Einsatz militärischer Mittel notwendig machen, zum Beispiel zur Sicherung von anfälligen Seehandelswegen oder von Infrastruktur wie Häfen, Pipelines, Förderanlagen etc. Bereits heute wird die Bundeswehr eingesetzt”.

Hat Köhler irgendetwas anderes oder darüber Hinausgehendes gesagt? Kaum. Er sagt nur explizit, was man bisher lieber blumig umschrieb, nämlich daß deutsche Interessen sich den “ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt” notfalls auch militärisch erzwingen werden: “Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege... es wird wieder sozusagen Todesfälle geben... Man muss auch um diesen Preis sozusagen seine am Ende Interessen wahren.”

Wer ihn jetzt rhetorisch wilhelminischer Kanonenbootpolitik bezichtigt wie der Kriegsbefürworter Trittin, sollte vorsichtig sein, daß er sich mit diesem Schuß nicht den eigenen Bug beschädigt. Immerhin stehen durch die Zustimmung von Politikern sämtlicher im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der Linken zur Zeit deutsche Soldaten schon in Afghanistan, Usbekistan, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Sudan, Somalia, Mogadischu, Libanon und Kongo.

1. schwerwiegende Konsequenz aus Bundes-Horstis Plauderei im Flieger? Das hier.

... link (3 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 26. Mai 2010
Frühling in Paris, da kann man nichts machen
Aufgefressen werden offenbar viele, die sich länger in Paris aufhalten, versuchen müssen, dort ein Auskommen zu finden, und daran scheitern. Aber wir sind nur zu Besuch hier, können es bald wieder verlassen, und bis dahin unbeschwert das herrliche Frühlingswetter genießen.
Frühling – Seine – Sonne – Sonntag – Paris.
Alte Klischees müssen ja nicht immer falsch und unzutreffend sein.













Und was sagt Das letzte Buch dazu?
"Easter came in like a frozen hare. Today it is lovely again and along the Champs-Elysées at twilight it is like an outdoor seraglio choked with dark-eyed houris. The trees are in full foliage and of a verdure so pure, so rich, that it seems as though they were still wet and glistening with dew. From the Palais du Louvre to the Etoile it is like a piece of music for the pianoforte."








... link (0 Kommentare)   ... comment


Sonntag, 23. Mai 2010
and dynamite it was
Man beachte die Zeile ganz unten auf dem Umschlag der Originalausgabe:
“Not to be imported into Great Britain or the U.S.A.”
Zusammen mit der Banderole: ”Ne doit pas étre exposé en étalage ou en vitrine” hatte der Verleger selbst, Jack Kahane, Besitzer des in Paris ansässigen englischsprachigen Verlags Obelisk Press, die Warnung gleich vorweg ohne jede behördliche Auflage anbringen lassen. Tatsächlich verbot der US-Zoll die Einfuhr des Buchs. Der amerikanische Dichter Karl Shapiro erzählte in seiner Einleitung zur ersten amerikanischen Ausgabe, daß Miller kurz nach seinem Erscheinen von Frankreich nach England reisen wollte, aber von den Hafenbehörden dort festgesetzt und mit dem nächsten Schiff zurückgeschickt wurde. Vier Jahre später, nachdem die ersten Exemplare des zunächst schwer verkäuflichen Buchs als Schmuggelware doch in den USA aufgetaucht waren, wurde Tropic of Cancer in den Vereinigten Staaten als obszön gerichtlich verboten.
Na klar, Miller hatte es drauf angelegt, er wollte ein radikales Buch schreiben, und er wollte nichts auslassen und verschweigen. Am 25. August 1932 schrieb er seinem New Yorker Freund Emil Schnellock: "I start tomorrow on the Paris book: first person, uncensored, formless – fuck everything!"
And so he did, nicht bloß alles, sondern auch (fast) jede, und dabei beobachtete und beschrieb er jede Einzelheit.

“The eternal preoccupation: cunt... what do you think the crazy bitch had done to herself? She had shaved it clean... not a speck of hair on it. Did you ever have a woman who shaved her twat?
It‘s repulsive, ain‘t it?
And the more I looked at it the less interesting it became. It only goes to show you there‘s nothing to it after all, especially when it‘s shaved. It‘s the hair that makes it mysterious. That‘s why a statue leaves you cold. Only once I saw a real cunt on a statue - that was by Rodin.”

(Dies auch als kleiner Kommentar eines großen Connaisseurs zu einer in den letzten Jahren um sich greifenden Modeerscheinung. -
It‘s the hair that makes it mysterious.)


Daß eine so explizite Sprache in der damaligen Zeit natürlich Anstoß erregen mußte, war Miller von Anfang an klar.
“ I think it will cause a riot, and, at the same time, prove a seller -- just because it is sensational in character”, schrieb er dem Freund im Juli ‘32. Aber sensationell und ultimativ sollte es nicht bloß in Hinsicht auf sexuelle Freizügigkeit sein. Ursprünglich hatte Miller den Titel The Last Book vorgesehen. Mit ihm sollte alles gesagt, kein weiteres Buch mehr nötig und möglich sein. Denn das Ende stand sowieso bevor. So dachte er damals wohl tatsächlich, denn um diese Zeit war Spenglers Untergang des Abendlands seine Bibel. Und das letzte Buch der Bibel ist die Apokalypse. Das Buch, an dem er schrieb, “is to be a new Bible - The Last Book... We will exhaust the age. After us not another book”, heißt es im Wendekreis des Krebses zu Beginn. Endzeitstimmung also; damals nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs natürlich nicht unüblich und weit verbreitet. Bei Miller aber äußert sie sich nicht resignativ, sondern aggressiv:

“The age demands violence, but we are getting only abortive explosions. Revolutions are nipped in the bud, or else succeed too quickly. Passion is quickly exhausted. Men fall back on ideas, comme d‘habitude. Nothing is proposed that can last more than twenty-four hours... For a hundred years or more the world, our world, has been dying. And not one man, in these last hundred years or so, has been crazy enough to put a bomb up the asshole of creation and set it off. The world is rotting away, dying piecemeal. But it needs the coup de grâce, it needs to be blown to smitherens.”

Die Änderung des Titels streicht das Kranke der Zeit und der Welt noch heraus. Allein klimatisch indiziert er Schwüle, den Beginn der feucht und morbid dampfenden Tropen. Seiner damaligen Geliebten, Freundin und Mäzenin Anais Nin schrieb er: “Cancer also means for me the disease of civilization, the extreme point of realization along the wrong path — hence the necessity to change one’s course and begin all over again.” Letzteres wird aus der Bedeutung des Krebses als Sternzeichen verständlich: “CANCER = House of Birth + Death”, steht über einem damals in Paris entworfenen, aber nie vollendeten anderen Manuskript Millers. “There was always the astrological implication too”, erklärte er 1956 in einem Radiointerview “a symbolic title I had chosen for a number of reasons, primarily because the cancer is the crab, and the crab has the power, or the ability to walk backwards, forwards, sideways, any direction do you see. I liked that symbol, you know? […] Able to go any direction at will, do you see.”
Sich ganz nach Belieben in jede erdenkliche Richtung zu bewegen, ist natürlich genau das, was der Erzähler in seinem inneren Monolog oder stream of consciousness unaufhörlich tut. Aber das Bild vom Krebs als Krankheit taucht ebenso immer wieder auf, gleich zu Beginn als “cancer of time”, die uns auffrißt, oder später in gleicher Weise auf die Stadt gemünzt:
Paris “grows inside you like a cancer, and grows and grows until you are eaten away.”


... link (0 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 18. Mai 2010
Wendekreis des Krebses

I am living at the Villa Borghese. There is not a crumb of dirt anywhere, nor a chair misplaced. We are all alone here and we are dead.
The cancer of time is eating us away.
I have no money, no resources, no hopes. I am the happiest man alive.

Seit Jahren habe ich keinen so starken Romananfang gelesen. Und es ist der Anfang eines Debütromans. Henry Miller: Tropic of Cancer.

1891 kam Miller als Sohn eines aus Bayern eingewanderten Schneiders in New York zur Welt. Gut zehn Jahre zuvor war als Gratispassagier des Norddeutschen Lloyd ein 22 Jahre junger Mann namens Knut Pedersen aus Norwegen in New York gelandet. Einer von 29.000 norwegischen Auswanderern jenes Jahres. Aber er blieb nicht einer unter 29.000, und er blieb nicht in den USA. Zurück in Norwegen schrieb er in einer Art “halluzinatorischem Raptus” (W. Baumgartner) die ersten fünfzig Seiten eines Romans, die Edvard Brandes anonym in seiner Kopenhagener Avantgardezeitschrift Ny Jord (“Neue Erde”) veröffentlichte. Im Jahr vor Millers Geburt erschien der ganze Roman und wurde sofort ein Skandalerfolg: Sult, Hunger. Sein Autor nannte sich inzwischen Knut Hamsun.
Miller hat Sult gelesen, unzweifelhaft. Oft genug spielt er auf das Hunger-Motiv an und damit herum, in gewiß nicht zufälliger Häufung öfters im Zusammenhang mit Literatur. “We need good titles. We need meat – slices and slices of meat – juicy tenderloins, porterhouse steaks, kidneys, mountain oysters, sweetbreads”, phantasiert der Erzähler, der nicht offen zugeben will, daß er ausgehungert durch die Straßen von Paris streift, ehe er auf seine literarischen Ambitionen zurückkommt:
“I‘m going to remember this title and I‘m going to put down everything that goes down in my noodle – caviar, rain drops, axle grease, vermicelli, liverwurst...”
An anderer Stelle gibt er mit seiner angeblich unzerstörbaren Gesundheit an und revidiert dann: “When I say ‘health‘ I mean optimism, to be truthful... Carl finds it disgusting, this optimism. ‘I have only to talk about a meal‘, he say, ‘and you‘re radiant!‘ It‘s a fact. A meal! That means something to go on – a few solid hours of work, an erection possibly. I don‘t deny it. I have health, good solid, animal health. The only thing that stands between me and a future is a meal.” Als hätte das nicht der namenlose Held sagen können, der hungernd durch die Straßen von Kristiania streunte. Aber Miller hat nicht nur “Hunger” gelesen und im Paris der damaligen Weltwirtschaftskrise vielleicht wirklich ab und zu Hunger geschoben, er hungerte auch nach Literatur und soll sie pfundweise verschlungen haben. Strindberg war ganz bestimmt ebenfalls darunter, aber Miller hatte den Mut, die beiden Giganten aus dem Norden nicht nur aufzugreifen, sondern sie gleich in seinem ersten Roman fortzusetzen und über sie hinauszugehen, ganz im Sinn seiner darin verkündeten Poetik:

“Art consists in going the full length. If you start with the drums you have to end with dynamite”

... link (0 Kommentare)   ... comment