Diesmal bringt er lieber selbst um, literarisch zumindest: “Du wirst sterben, heute noch, du weißt es nur noch nicht”, beginnt sein neuer Roman Les identités remarquables. So schön knackig fängt es an, aber schon nach drei Seiten geht‘s dann los:
Tu t‘étais lié avec Laroque, heureux et fier de vous savoir les derniers de votre date à vous passionner ainsi pour les ídees générales, la crise de la culture et les problèmes historiques... Ce qui ne t‘a jamais coupé de la matière dont nos corps sont faits. Il y avait beaucoup de filles dans ta vie, tu t‘es efforcé de ramener cette multitude à l‘unité, même quand cela t‘est apparu un sacrifice...”
Klingt irgendwie gut, nicht? Aber in meiner unbeholfenen Übersetzung kommt hoffentlich in etwa rüber, was da (in einem Kriminalroman) wie ausgedrückt wird: “Du hattest dich mit Laroque zusammengetan, glücklich und stolz in der Überzeugung, daß ihr die Letzten eures Alters wart, die sich leidenschaftlich für die großen Ideen, die Krise der Kultur und die historischen Probleme interessierten... Das aber hat dich nie von dem Stoff abgeschnitten, aus dem unsere Körper gemacht sind. In deinem Leben hat es viele Mädchen gegeben, du hast dir Mühe gegeben, diese Vielheit auf eine Einheit zurückzuführen, auch wenn es dir wie ein Opfer erschien... C‘est affreux de laisser s‘eloigner toutes ces réalités qu‘on a follement aimées sous les tours des roues dentées du temps. Es ist schrecklich, sich von all diesen wirklichen Dingen, die man so unsterblich geliebt hat, unter den Umdrehungen der Zahnräder der Zeit entfernen zu lassen.” - Puh, der Autor ist noch in seinen Dreißigern, die Person, von der er spricht 27! Selbst als er seinem Freund ein Hühnchen kocht, geht das nicht ohne permanente Subtilitäten bei der Zubereitung wie dem begleitenden hochgeistigen Kulturgeschwafel über “le jeu subtil de Nicolas Cage” und die Genialität von Scorsese. “Voilà bien un homme chez qui l‘on n‘a pas à déplorer l‘éclipse de l‘imagination et l‘appauvrissement de l‘esprit critique”. - Mon dieu, ist es da verwunderlich, daß ich mir zum literarischen Reisebegleiter durch Paris lieber Henry Miller erkoren habe?
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Die alten Läden, die Marktstände, die Bäume auf den Resten des kleinen Friedhofs bei der Kirche des hl. Medardus, wo in den 1720er Jahren die “Konvulsiven” in Trance halbnackt auf den Gräbern tanzten, bis König Louis XV. ein Schild aufstellen ließ, daß es “auf Befehl des Königs bei Gott verboten ist, an diesem Ort Wunder zu machen”, “diese ganze Palette von Epochen, Stilen und Ereignissen verleiht diesem Ort einen Geist, der sich mit keinem anderen vergleichen läßt”, schreibt Hazan.
Wir nehmen‘s auch eine Nummer kleiner, freuen uns an dem herrlichen Angebot von frischestem Obst und Gemüse, Deftigem und Delikatessen, wir staunen, daß es schon französische Erdbeeren gibt, die einander so ähnlich sehen, als kämen sie aus dem Klonlabor, und doch Aroma haben, und wir lassen uns schließlich in einem kleinen Straßencafé zwischen den Marktständen vor der Kirche nieder, bestellen einen knackigen Salat mit Ziegenkäse, Brot dazu und einen von diesen leichten Roséweinen, die sich in Frankreich als schlichte Tafelweine erstaunlicherweise sogar oft trinken lassen. Es ist Mittag, die Tische füllen sich zusehends mit Angestellten, die rasch eine Kleinigkeit essen, einen Kaffee trinken oder auf einer der Bänke in dem winzigen Kirchhofgärtchen für eine halbe Stunde die warme Frühlingssonne genießen wollen. Wer hätte das gedacht, aber so schön kann Paris sein.
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Ob man die Finanzkrisen in Griechenland und Island miteinander vergleichen kann, weiß ich nicht; aber während derzeit alle Welt auf Griechenland blickt, sieht es in Island, das momentan mehr durch echte Asche von sich reden macht, so aus, als wollten Eva Joly und Sonderermittler Ólafur Hauksson Ernst machen mit ihrer Ankündigung, die wahren Schuldigen am Zusammenbruch der isländischen Banken dingfest zu machen und ihrer Verurteilung zuzuführen.
Vor kurzem nahm die isländische Polizei “zwei ehemalige Direktoren der pleitegegangenen Kaupthing-Bank fest, denen Unterschlagung, Dokumentenfälschung und die Manipulation von Aktienkursen durch Scheingeschäfte vorgeworfen wird. Ihnen drohen Gefängnisstrafen von bis zu acht Jahren. Den ersten Verhaftungen werden wohl noch andere folgen: Sowohl weitere Kaupthing-Chefs, die Leiter der beiden anderen Pleitebanken Landsbanki und Glitnir und mehrere Großindustrielle stehen auf Haukssons schwarzer Liste... Drei Minister, drei Zentralbankchefs und der Leiter der Finanzaufsicht riskieren, vor ein Sondergericht gestellt zu werden”, berichtete Hannes Gamillschegg letzen Samstag in der Stuttgarter Zeitung.
Gestern reichten die Konkursverwalter der Glitnir-Bank beim New York State Supreme Court offiziell Klage wegen Betrugs im großen Stil gegen den Mitbegründer und ehemaligen Hauptanteilseigner Jón Ásgeir Jóhannesson, seine Frau Ingibjörg Pálmadóttir, seinen ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Lárus Welding und weitere leitende Köpfe der Bank ein. Ihnen wird vorgeworfen, mittels ungedeckter Kredite nicht weniger als 2 Milliarden Dollar durch die Bank in die eigenen Taschen geschleust zu haben. Gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers wurde wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht, Verschleierung und Fahrlässigkeit ebenfalls Klage erhoben. (Das New Yorker Gericht ist zuständig, weil Glitnir das Geld damals teilweise durch den Verkauf von Schuldverschreibungen in den USA beschafft hatte.) Am gleichen Tag erwirkten die Konkursverwalter vor einem Gericht in London, wo Jón Ásgeir und etliche weitere der isländischen Wirtschaftskriminellen nach wie vor ein recht komfortables Leben führen, eine Anordnung, daß sein weltweit verstreutes Vermögen überall eingefroren werden soll.
Und ebenfalls gestern schrieb Interpol auf Antrag des isländischen Sonderermittlers mit internationalem Haftbefehl den ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden der Kaupþing-Bank, Sigurður Einarsson, wegen Aktenfälschung und Betrugs zur Fahndung und Festnahme aus. Der erklärte an seinem Londoner Wohnsitz, er denke nicht daran, der Vorladung nach Island Folge zu leisten, und vertraue auf die Respektierung seiner Menschenrechte in Großbritannien. - Of all places. Man sollte doch meinen, daß die wegen des Icesave-Skandals auf Isländer so wütenden Briten ihn als erste hoppsnehmen.
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So alt kann der Baum davor nicht sein, denn zu jener Zeit war die Art in Europa noch nicht heimisch. Der Baum ist eine Robinie, die erste oder zweite Robinie in Europa, denn Robinien wuchsen ursprünglich nur in Nordamerika. Die Wikinger oder Normannen haben sie nicht von dort mitgebracht, aber nachdem Champlain am Sankt-Lorenz-Strom die erste dauerhafte französische Kolonie in Kanada gegründet hatte, erteilte die Hofgärtnerei des Königs den Auftrag, Pflanzen aus La Nouvelle France für die königlichen Gärten über den Atlantik heranzuschaffen. 1623 erhielt der kgl. Hofgärtner Jean Robin Setzlinge einer unbekannten Baumart, von denen er einen in den Botanischen Garten der Sorbonne und einen zweiten neben St. Julien-le-pauvre pflanzte. Als später Linné die Art klassifizierte, benannte er sie nach ihrem ersten Pflanzer Robinie. Auf deutsch nennt man sie wegen ihrer schönen Blüten auch Silberregen, und dieser schönen Blüten wegen wollten auch andere Monarchen und Aristokraten sie bald in ihren Parks haben. 1640 wurde das erste Exemplar nach England geliefert, und dreißig Jahre später wurden Setzlinge im Arboretum des Berliner Lustgartens neben dem Schloß gepflanzt. Ihr Holz gilt als widerstandfähiger und dauerhafter als Eiche, und die erste Robinie auf europäischem Boden, die, wenn auch altersgebeugt, noch immer vor der alten Kirche von St. Julien steht, beweist ihre Langlebigkeit.
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Und dann stehen wir auf einmal vor Unserer Dame und stellen fest, die Menschen, die sich da in zierlichen Reihen wie am Schnürchen um die Rabatten schlängeln, genießen nicht die warme Frühlingssonne, sondern harren auf Einlaß. Aber wie hieß es noch: “Denken! Nicht mit Glauben begnügen: weiter gehen.” Wir gehen weiter. Noch einen Schritt zurück in der Zeit. Doch auch der Fassade des Justizpalasts hängt da, wo sich der Eingang zur Sainte-Chapelle befinden soll, ein langer Bandwurm von Wartenden aus dem Maul. Bon, das Wetter ist eh viel zu schön, spatzwandeln wir also zum Bug der Insel, lassen uns auf dem Pont Neuf den leicht kühlenden Luftzug über der Seine zufächeln, und blicken uns um.
“Wie hat sich Paris in den letzten zehn Jahren verändert?” fragt Monsieur Hazan, um sein Buch über die Stadt irgendwie zu beginnen. Wunderliche Frage; ist doch alles noch da: Notre Dame, Sacré Cœur, Triumphbogen, und fröhlich grüßt der Eiffelturm... Aber dieses pyramidenförmige Gewächshaus vor dem Louvre stand doch beim letzten Mal noch nicht da. Das Centre Pompidou befand sich noch im Bau, und das tut es heute noch, ist ja schließlich immer noch eingerüstet, n‘est-ce pas? Das Quartier Latin auf dem linken Ufer habe sich seit den Neunzigern kaum verändert, behauptet Hazan. Mein letzter Besuch liegt noch viel länger zurück, und sauberer, aufgeräumter als damals ist es allemal, da hat M. Hazan schon recht, aber es gefällt mir trotzdem in den historischen, engen Gassen, auch wenn Hazan meint, es passiere gar nichts mehr auf dem Rive gauche. Man schlendert gelassener, weniger behelligt von Lärm und Autoverkehr als auf den Boulevards auf dem rechten Ufer, und in dem winzigen Park um Saint-Julien-le-Pauvre unmittelbar gegenüber Notre Dame finde ich meine kleine Ruheoase.
Der Platz ist so alt, daß von genau hier einst die beiden wichtigsten Fernstraßen der Römer in Gallien ausgingen, nach Südosten die Heerstraße nach Burgund sowie die Nordsüdverbindung von Soissons nach Orléans. Auf dieser Straße war im Jahr 463 der letzte römische Heermeister für Gallien, Aegidius, von seinem befestigten Legionslager Augusta Suessionum gegen die Westgoten bei Orléans gezogen. 23 Jahre später wurde sein Sohn Syagrius vor der eigenen Haustür in Soissons von den Franken unter Chlodwig geschlagen und damit die letzte weströmische Enklave beseitigt. Syagrius floh über die Loire zu den Westgoten, wurde aber zu seinem Entsetzen von deren König Alarich II. an die Franken ausgeliefert. Chlodwig ließ ihn hinrichten. Der erste König aller Franken machte Paris erstmals zur Hauptstadt. Nach seinem Tod teilten die Söhne das Frankenreich 511 wie einen geschlachteten Ochsen in vier gleiche Teile; Orléans und Soissons wurden neben Reims wieder Hauptstädte ihrer Teilreiche, Paris blieb Residenz des primus inter pares, Childebert. Vielleicht ließ schon er an der Straßenkreuzung am südlichen Seineufer für Reisende ein Hospiz mit kleiner Kapelle anlegen, ehe Paris unter den fortgesetzten Reichsteilungen und Bruderkriegen der nachfolgenden “langhaarigen Merowinger” wieder an Bedeutung verlor. Als der dort regierende Charibert 567 ohne männlichen Erben starb, entfesselten sein Bruder Sigibert von Austrien in Reims und sein bei der Reichsteilung benachteiligter Halbbruder Chilperich von Neustrien in Soissons eine jahrelange blutige Fehde. Beide heirateten Schwestern, die Töchter des Westgotenkönigs, doch ließ Chilperich seine Frau bald auf Anstiften seiner langjährigen Geliebten Fredegunde erdrosseln, und daraus entwickelte sich eine Familientragödie, die nicht nur im Nibelungenlied Spuren hinterließ, sondern auch fast die zerstörerischen Ausmaße des in ihm geschilderten Untergangs erreichte und beinah zum Aussterben der Merowingerdynastie geführt hätte. Als sich der Geschichtsschreiber Gregor, Bischof von Tours, im Jahr 577 in Paris aufhielt und Quartier im Hospiz von St. Julien genommen hatte, erschienen am Himmel Zeichen: zwanzig Lichtstrahlen gingen im Osten auf und wanderten über den nördlichen Himmel nach Westen; einer von ihnen überragte die anderen, löste sich dann aber plötzlich auf.
(Ich glaube, sie kündigten den Tod des Merowech an).”
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“Le vieux Paris n‘est plus (la forme d‘une ville
change plus vite, hélas! que le cœur d‘un mortel)”
(Baudelaire: “Le Cygne”)
Vor fünfzig Jahren, 1960, ernannte die damalige französische Regierung einen Beauftragten für eine neuerliche Modernisierung und Erweiterung der Stadt und ließ entsprechende Pläne ausarbeiten. Um diese Zeit mußte Paris Jahr für Jahr 200.000 Zuwanderer aufnehmen. Dabei fehlten schon Hunderttausende von Wohnungen und an die 800.000 bestehende waren kaum mehr zu sanieren und abbruchreif. “Gas- und Elektrizitätsnetz sind überlastet, die Trinkwasserzufuhr ist an heißen Sommertagen gefährdet. Jährlich müssen 50 000 Anträge auf Telephonanschlüsse zurückgestellt werden”, schrieb der Spiegel damals in einem Report. Zu dieser Zeit war die eigentlich von Anfang an überholte Thier-Stadtmauer von 1840 schon längst abgerissen, und ihrem Verlauf folgend baute man bis 1973 den achtspurigen Boulevard Périphérique, den heute jeder, der mit dem Auto nach Paris fährt, hassen gelernt hat. Urbanistisch funktioniert er nach wie vor als Stadtmauer, denn er markiert nach wie vor die offizielle Stadtgrenze, und wer jenseits, in den Trabantenvorstädten der Banlieue, lebt, darf sich zumindest im östlichen Halbrund auch wirklich ziemlich effektiv ausgesperrt fühlen. Hazan nennt die Périphérique dort zutreffend “an unbridgeable barrage of concrete and noise... where the only human beings on foot are natives of Lviv or Tiraspol trying to survive by begging at the traffic lights. The gulf between Paris and the banlieue remains a yawning one in this sector, for reasons that are political in the strong sense. The present population of the former Paris ‘red belt‘ is now for the greater part of ‘immigrant origin‘, i.e. made up of Blacks and Arabs; the very people, or their relatives, who had been driven out of the city by renovation and rising rents... The combined action of town planners, property speculators and police has never stopped pressing the poor, the ‘dangerous classes‘, further from the centre of the city.”
In der Stadt lebt relativ konstant eine Bevölkerung von zwei bis drei Millionen Bürgern, draußen ist die Zahl der Umwohner inzwischen auf gut zehn Millionen angewachsen. “Eine koordinierte städtebauliche Planung der Region wurde dadurch nicht erleichtert, die Stadt franste meist einfach nur aus, die "Banlieue", war bald kein Ort mehr, sondern "bloß eine Entfernung". Dass sie existiert, nehmen manche Bewohner der Innenstadt nur wahr, wenn die perspektivlose Jugend, die dort wohnt, randaliert.” (Sascha Lehnartz am 19.7.2009 in der Welt)
Der Druck von draußen nach drinnen ist immens, denn natürlich möchte jeder aus den No-future-Ghettos der Banlieue dahin, wo die Arbeitsplätze und Aufstiegsmöglichkeiten liegen, in die Stadt, und dort rückt man so eng zusammen, wie es nur eben geht. Das 11. Arrondissement östlich von Bastille und Place de la Republique, durch das wir gerade liefen, wies schon bei der Volkszählung vor fast zwanzig Jahren eine Bevölkerungsdichte von 40.627 Einwohnern/km² auf. Das sind zehnmal so viele wie in München und immerhin noch dreimal so viele wie in Kreuzberg. Die Zahl der innerstädtischen Einwohner explodiert nur darum nicht vollends, weil einfach der verfügbare Wohnraum viel zu begrenzt und kaum mehr erweiterbar ist. Der sichtbarsten Folge davon begegnen wir auf unserem Spaziergang auf Schritt und Tritt: SDF‘s. Früher hießen sie einmal Clochards und sahen alle aus und sangen wie Georges Moustaki, le métèque. Doch ihr Nimbus wurde dann irgendwann genauso fadenscheinig und verschlissen wie ihre Kleider und müffelte auch ein wenig, weshalb die Verwalter menschlichen Elends sie in ihrer Beamtensprache mit einer aseptisch-technisch klingenden Abkürzung bedachten: SDF = sans domicile fixe = ohne festen Wohnsitz.
Im vergangenen Winter sind allein in Paris mehr als 300 solcher Obdachloser auf offener Straße erfroren. Wie viele es von ihnen gibt, weiß keiner ganz genau, weil sich unter ihnen natürlich eine Dunkelziffer von Illegalen ohne Papiere aufhält. Die der Hilfsorganisation Emmaüs angeschlossene Fondation Abbé Pierre hat letztes Jahr wieder eine Sozialerhebung zur Obdachlosigkeit in Frankreich durchgeführt. Sie kam zu dem Ergebnis, daß es landesweit mindestens 100.000 SDF‘s gibt, rechnet aber noch einmal mehr als 500.000 Menschen hinzu, die ebenfalls kein festes Heim haben. 50.000 Franzosen etwa leben dauerhaft in Hotelzimmern und Pensionen, 40.000 in provisorischen Unterkünften wie Wohncontainern und Baracken, 100.000 in Wohnwagen und auf Campingplätzen usw. Insgesamt rechnet die Stiftung vor, daß mehr als 3,5 Millionen Franzosen in prekären Umständen hausen. Am größten ist die Wohnungsnot in Paris. Da ist das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt so verheerend, daß schon Menschen in fester Anstellung auf der Straße in Zelten leben, weil sie einfach keine Wohnung bekommen. Zelte kann man überall in der Stadt finden, selbst auf den Mittelstreifen der Boulevards. Eins sah ich zum Beispiel direkt am Fahrbahnrand des Boulevards des Invalides zwischen Musée Rodin und Invalidendom.
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“Come in and find out!” (Nachdem die Parfümeriekette Douglas durch eine Umfrage entdeckte, daß die meisten Kunden ihren Slogan als “Komm rein und find wieder raus!” verstanden, ließ sie ihn rasch fallen.) Ich hingegen fand als erstes heraus, daß der berühmte Schlager (ich kenne die Fassung von Jacques Dutronc, und die von Vanessa Hachloum finde ich auch schlimm) "Il est cinq heures, Paris s‘éveille" eine glatte Lüge ist. Paris schlief, tief und fest. Die Boulangerie an der Ecke hatte geöffnet, wo man diesen in die Länge gezogenen Weißmehlteig bekommt, der nach dem Backen maximal zwei Stunden frisch und genießbar bleibt, ehe man ihn nur noch an die Tauben verfüttern kann, die sich darum natürlich zu einer allgegenwärtigen und nur vorzeitig an Herzverfettung sterbenden Pariser Plage entwickelt haben.
Die einzige, die in Paris niemals schläft, ist die Müllabfuhr. Doch selbst durch ihren unermüdlichen Einsatz schafft sie es lediglich, die Straßen der Stadt oberflächlich von groben Verunreinigungen zu befreien. Und auch wenn ständig irgendwo reichlich Wasser durch die Rinnsteine gespült wurde, drängte sich zumindest in den östlichen Stadtteilen bald unweigerlich das Bild auf, Paris sei zwar nicht die große Hure Babylon, aber doch eine von langer, nächtlicher Schicht flügelmüde heimkehrende Bordsteinschwalbe. Ihre Wimperntusche lief in schwarzen Rinnsalen das Gesicht hinab, der Stuck auf den Wangen bröckelte, der Lippenstift auf der Fassade war verwischt, die Haare hingen ihr in fettigen Strähnen auf die mit Graffiti tätowierten Schultern, und an dem einstmals imposanten Vorbau war einiges in Schräglage geraten. Wer sich mit ihr einließ, wurde das Gefühl nicht mehr los, daß sich die eigene Haut mit einem Schmutzfilm aus rußigem Staub und Fett überzog.
Es war die gleiche dunkle Tönung, die auch die Menschen an Kleidung, Gesicht und Händen aufwiesen, die an den Straßenrändern aus Zelten oder notdürftig mit Bindfaden zusammengehaltenen Kartons und Plastikplanen krochen oder sich in der Kühle des Aprilmorgens benommen und fröstelnd von Parkbänken aufrappelten.
“The Place St. Sulpice, so quiet and deserted, where toward midnight there came every night the woman with the busted umbrella and the crazy veil; every night she slept there on a bench under her torn umbrella, the ribs hanging down, her dress turning green, her bony fingers and the odor of decay oozing from her body; and in the morning I‘d be sitting there myself, taking a quiet snooze in the sunshine, cursing the goddamned pigeons gathering up the crumbs everywhere.”
(Henry Miller, Tropic of Cancer)
Benjamin daher weiter: “Die Breite der Straßen soll ihre [der Barrikaden] Errichtung unmöglich machen und neue Straßen sollen den kürzesten Weg zwischen den Kasernen und Arbeitervierteln herstellen.” 32.000 neu aufgestellte Gaskandelaber und 15.000 sonstige Straßenlaternen sorgten dafür, daß etwaige Aufrührer auch nicht im Schutz der Nacht ihren Umtrieben nachgehen konnten.
“J‘ai le culte du Beau, du Bien, des grandes choses, / De la belle nature inspirant le grand art”, schrieb Haussmann fast zynisch in seinen eitlen Memoiren mit dem Titel Bekenntnisse eines alt gewordenen Löwen: “Ich pflege den Kult des Schönen, Guten, der großen Dinge, / der schönen Natur, die große Kunst inspiriert.”
“Haussmanns urbanistisches Ideal waren die perspektivischen Durchblicke durch lange Straßenfluchten. Es entspricht der im XIX. Jahrhundert immer wieder bemerkbaren Neigung, technische Notwendigkeiten durch künstlerische Zielsetzungen zu veredeln”, merkte Benjamin dazu an. “Die Institute der weltlichen und geistlichen Herrschaft des Bürgertums sollten... ihre Apotheose finden, Straßenzüge wurden vor ihrer Fertigstellung mit einem Zelttuch verhangen und wie Denkmäler enthüllt.”
Einen Teil der Stadtzerstörung, Stadtsanierung und Zurichtung für den Bürgerkrieg im großen Maßstab durch den Artiste démolisseur, wie sich Haussmann selbst nannte, haben wir am Vorabend gesehen: Der Canal Saint-Martin hatte den Revolutionären von 1848 als Wassergraben zur Verteidigung gegen das anrückende Militär gedient. Haussmann ließ ihn in seinem unteren Verlauf um sechs Meter tiefer graben und anschließend mit dem breiten Boulevard Richard Lenoir zudeckeln, um Schußfeld und eine weitere Aufmarschstraße gegen die Arbeiter im roten Osten der Stadt zu schaffen.
Die breiten Boulevards, das Netz der Kanalisation unter der Oberfläche, die einheitliche Traufhöhe, Geschoßzahl und Fassadengestaltung der großen Bürgerhäuser, alles, was das unverwechselbare Gesicht von Paris bis heute prägt, existiert erst seit 150 Jahren und trägt die persönliche Handschrift von Georges-Eugène Baron Haussmann, der das in römischer Zeit gegründete alte Paris weitgehend ausradiert hat. Bei seiner Absetzung im März 1870 saß die Stadt auf einem Schuldenberg von 1.518.799.082 Francs, der erst 1929 vollständig abgetragen war.
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