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Dienstag, 29. Juni 2010
Rodin
Inzwischen, zurück in Suid-Holland, ist der Himmel nicht nur über den Fußballplätzen der Welt viel heller geworden; seit Tagen haben wir so strahlendes Wetter, daß es mich an die ersten richtig warmen Tage des Jahres überhaupt erinnnert, an unseren Frühling in Paris. Besonders an einen Nachmittag im Musée Rodin. Im ehemaligen Hôtel Biron, 1905 in ein Künstlerdomizil umgewandelt, hatte Matisse ein Atelier, gab Isadora Duncan Tanzunterricht, bevor sie doppelt und dreifach der Fluch des Automobils traf, und schrieb Rilke an den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und an Rodin: “Sie sollten sich dieses wundervolle Gebäude einmal ansehen, lieber großer Freund...”

Der liebe, große Freund kam und mietete gleich vier große Säle im Parterre des großzügigen Palais‘, das ihm später ganz als Stadtatelier überlassen wurde. Das Grün der sorgsam gestutzten Rabatten im ursprünglich doppelt so ausgedehnten Park tat den großstadtflirrenden Augen wohl und bildete ruhige, monochrome Hintergrundflächen für des Meisters zerklüftete „Kunst der Buckel und Höhlungen“. Rodin hat in meinen Augen phantastische Meisterwerke geschaffen und – bei der Gesamtzahl seiner Werke nicht verwunderlich – auch so einiges ziemlich Danebengegangenes.
Besonders als Meister grotesk übersteigerter Füße wird er mir nach unserem ausgiebigen Rundgang durch den Park und die Säle in Erinnerung bleiben. Und auch wenn er angeblich Jahre auf Vorstudien für die gewünschte Monumentalstatue Balzacs verwandt haben sollte, glaube ich, daß er diesen dicken Stern aus dem Pantheon der französischen Literatur nicht besonders gemocht hat. Anatomisch war es jedenfalls nicht unbedingt erforderlich, dem üppigen Bauch Balzacs in einer von Rodins Aktstudien zum Balzac-Denkmal als Gegengewicht einen derart flachen Hintern zu verpassen.
Nicht nur im Fall des von den Auftraggebern schließlich abgelehnten Balzac (“eine große, komische Maske, die einen Bademantel krönt”) löste Rodins anatomischer Hyperrealismus so manchen Skandal aus, der das teilnehmende Publikum in wüste und indignierte Beschimpfer und enthusiastische Befürworter spaltete. Der an anatomischen Details bekanntlich nicht uninteressierte Henry Miller, den ich in Paris las, schrieb bei seinen Betrachtungen über die mißliche Mode der weiblichen Schamrasur:
“It only goes to show you there‘s nothing to it after all, especially when it‘s shaved. It‘s the hair that makes it mysterious. That‘s why a statue leaves you cold. Only once I saw a real cunt on a statue - that was by Rodin.”

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Freitag, 25. Juni 2010
Über den Fluß


Nach längerer Zeit stehe ich wieder einmal am Ufer der Elbe, dem hellen Fluß in der ursprünglichen Bedeutung des Namens. Beim letzten Mal war er gar nicht hell und gar nicht zu sehen, so dicht wallte der Nebel, und die Fähre trieb lange, nicht endend durch undurchdringlich graue Watte, das bräunliche Wasser gluckste leise unter den zähen Fasern milchiger Schleier.
Diesmal ist es grau bedeckt, windig und viel zu kalt dafür, daß Mittsommer unmittelbar bevorsteht, aber der Strom ist in seiner ganzen Breite zu sehen und das jenseitige Ufer auch, und drüben in der flachen Marsch soll eine Stadt mit Namen Glückstadt liegen. Vom hiesigen Ufer ist außer ein paar Verbrennungsschloten nichts zu erkennen. Ich habe mich immer gefragt, ob der Name je anders als ironisch gemeint sein konnte. Woher aber die ewige Neugier in uns, wissen zu wollen, was auf der anderen Seite ist? Ich weiß es doch, und trotzdem bliebe ein unerfülltes Ziehen, wenn ich ihr nicht nachgäbe.
Grau stampft die Fähre durch das kabbelige Wasser näher, legt an, läßt die Laderampe herab, und ein Tor öffnet sich im Stahlrahmen der Landungsbrücke. Wir rollen an Deck, bereit zur Fahrt hinüber. “Scheer' Dich des Weges, alter Nimmersatt! / Was soll ich in der Totenstadt, / Ich, mit dem Jubel in der Brust!” Else Lasker-Schüler, Styx. Im Griechischen ist der Fluß weiblichen Geschlechts wie die Elbe im Deutschen. Lykophron nennt sie die schwarze Styx, ihr Name bedeutet Haß, aber vielleicht eher im Sinn von die Verhaßte, denn sie ist doch der bekannteste Fluß der Unterwelt, “unvergänglich alte Flut, die des schroffen Geklüfts Abhänge durchströmet. / Dort sind der dunkelen Erd', und des finstern tartarischen Abgrunds, / auch des verödeten Meers, und des sternumfunkelten Himmels, / aller Beginn' und Enden sind dort mit einander versammelt, / fürchterlich dumpf, voll Wustes, wovor selbst grauet den Göttern” (Hesiod, Theogonie). Und sie wird als einer der Unterweltflüsse genannt, über die Charon, Sohn der Nacht und der Finsternis, in seinem Kahn die Gestorbenen in des unerbittlichen Hades‘ Schatten- und Totenreich übersetzt.



Die Frage ist, wie tief sind uns solche Geschichten eingeschrieben? Der Fluß vor mir, die Fähre, das dunkle Tor rufen sie jedenfalls in mir hervor und ebenso die Frage, ob die Neugier auf ein jenseitiges Ufer, schon deshalb, weil das Übersetzen und das unbekannte Jenseits früher immer auch Gefahrenmomente enthalten konnten, nicht auch ein Teil Neugier auf das Jenseits schlechthin enthält. Dante, die Styx bei Baudelaire, Charon als Gondoliere in Thomas Manns Tod in Venedig, die Überfahrt in die Westfjorde in Frikki Fríðríkssons Film Children of Nature sind nur ein paar Beispiele aus Literatur und Film, die zeigen, daß solche Vorstellungen immer virulent geblieben sind. Hoffen wir also insgeheim, wenn wir an Bord einer Fähre gehen, den Vorgang des Sterbens auf eine für uns nachvollziehbare und angenehme Weise ein Stück weit symbolisch vorwegzuerleben? Das würde zumindest das kaum vernehmlich leise Unbehagen erklären, das sich oft in die Freude auf eine Schiffsüberfahrt mischt. Heute bin ich ganz ruhig, drüben im Jenseits liegt schließlich Glückstadt. Nur, wer weiß schon, wie jenseits Glück definiert wird? Ich sage bloß "Weilaghiri".
Glückstadt (Wikipedia): “Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde die Landesarbeitsanstalt... als frühes Konzentrationslager genutzt, in dem 150 politischen Gegner inhaftiert waren. Das Gebäude wurde bis 1974 als Landesfürsorgeheim zur Umerziehung von Jugendlichen weitergenutzt. Während dieser Zeit kam es systematisch zu gewalttätigem Missbrauch der Jugendlichen durch Heimangestellte.”



Heute zählt nicht das steinerne Herz, sondern das abenteuerliche. Wir rollen die Rampe hinauf, an Bord von Charons Nachen. Habe ich auch den Obolus unter der Zunge nicht vergessen? Die Rampe hebt sich, eine Kette wird vorgehängt, die Fähre legt ab.

Der Nebel hatte sich etwas gehoben, und ich sah, daß wir durch enge Kanäle flossen, weit mochte sich umher ein flaches trübes Sumpfdelta hinziehen (nur einmal glitt rasch ein Streifchen reinlichen Kieselufers vorbei). Ab und zu kamen schon halbverfallene Hütten; schwere Steinränder, aber grün schlüpfrig und naß, begannen die schlaff gluckenden tiefen Wasseradern zu säumen; vereinsamte Häuser erschienen, düster und feucht gefleckt; Aschtonnen, Abfallhalden und öde Baugruben der rußigen Vorstädte, eine häßliche gerade Brücke hallte hastig und tonlos dicht oben und war ein trübes rattiges Tor. Bei Speichern und Kohlenlagern stierten Mietskasernen aus schwarzen Fenstern, Kinder spielten langsam im Müll der Höfe, Weiber keiften. Wir standen mürrisch an Deck und wurden unaufhaltsam vorbei geführt; höher wurden die Häuserblocks, Kähne schlappten am algigen Bollwerk; dann glitten wir in ein mäßiges Becken, und das Schiff legte sich selbst längsseits der niedrigen Mauer" (A.S., Enthymesis oder W.I.E.H.)

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Donnerstag, 17. Juni 2010
Bilderberg: "Es geht um die wichtigsten Probleme, vor denen die Welt steht."
1.| Vouliagmeni 2009

Eine Schimäre? Ein Trugbild also, ein Hirngespinst, dieser Bilderberg-Club? Vor fünf, sechs Jahren noch hätte Ihnen eine so seriöse Zeitung wie der britische Guardian darin aus voller Überzeugung zugestimmt. “Conspiracy theorists of the world unite”, überschrieb er seine kurze Meldung zum Bilderberg-Treffen 2005 in Rottach-Egern. Letztes Jahr schickte er einen eigenen Reporter zum B-Treffen im griechischen Vouliagmeni, der sich zunächst nach Kräften lustig machte. (Alle Artikel dazu, aus denen ich im folgenden zitiere, gesammelt hier: Bilderberg) “It isn't happening. It doesn't exist. I'm flying out to Athens for no reason at all”, begann er seine damalige Artikelserie.
“It is definitely happening”, schrieb er am nächsten Tag. “I've seen the guns. I thought it might be a good idea to go to the Astir Palace resort for lunch. See just what kind of a cheese omelette the president of the Federal Reserve is going to be enjoying. I didn't get far... A security guard opened the cab door, leaned in: "We're closed now. Only guests." And to the driver, a bark of instructions to turn around. We turned around.”
Nach einem Beinahzusammenstoß mit der Polizei wegen eines Fotos ging ihm plötzlich etwas auf:
“it struck me: there really ISN'T any fotografia. There's none. Not a single member of the mainstream press. Not a single newshound camera on a tripod. Nothing. Nothing is happening here. Nothing to report. The limousines have started to arrive. Nothing to report. They've closed off an entire peninsula. There are roadblocks. Machine guns. Nothing to report. This is Bilderberg's 57th annual meeting. Nothing to report.”
Und Charlie Skelton begann nachzudenken: “Anyone who takes a "fair enough they should meet in private" position on Bilderberg should at least find it odd that we don't properly know who "they" are.” Und er stellte die auch in meinen Augen grundlegende Frage:
Should publicly elected officials be meeting in armed privacy to discuss global policy with unnamed private individuals?
Wie wenig privat die Atmosphäre um den jeweiligen Bilderberg-Treffpunkt nach außen hin ist, bekam Skelton während seines gesamten Aufenthalts in Athen und Umgebung zu spüren, und nicht nur er.
“It isn't just me who's been hauled into police custody for daring to hang around half a mile from the hotel gates. The few journalists who've made the trip to Vouliagmeni this year have all been harassed and harried and felt the business end of a Greek walkie-talkie. Many have been arrested. Bernie, from the American Free Press, and Gerhard the documentarian (sounds like a Dungeons and Dragons character) chartered a boat from a nearby marina to try to get photos from the sea. They were stopped three miles from the resort. By the Greek navy.”
Ein ganz privates Clubtreffen, das von der Marine bewacht wird? Schon merkwürdig, oder? Und das war noch nicht alles: “A police officer told the Associated Press (on condition of anonymity): "The resort was being protected by hundreds of police, navy commandos, coast guard speedboats and two F-16 fighter planes." That's right. Two F-16 fighter planes.”
Der Bilderberg will nach außen ein ganz unverfängliches, informelles Treffen sein. "I simply think it's people who have influence interested to speak to other people who have influence," erklärte einmal der einladende Viscount Davignon.
Der Berichterstatter des Guardian hat schon letztes Jahr in Vouliagmeni einen ganz anderen Eindruck gewonnen:
“Three days and I've been turned into a suspect, a troublemaker, unwanted, ill at ease, tired and a bit afraid. And I haven't even walked up the road to the Bilderberg hotel since the whole "get in the car!" [...]
Bilderberg is about positions of control. I get within half a mile of it, and suddenly I'm one of the controlled. I'm followed, watched, logged, detained, detained again. I'd been put in that position by the "power" that was up the road [...] Bilderberg is all about control. It's about "what shall we do next?" We run lots of stuff already, how about we run some more? How about we make it easier to run stuff? More efficient. Efficiency is good. It would be so much easier with a single bank, a single currency, a single market, a single government. How about a single army? That would be pretty cool. We wouldn't have any wars then. This prawn cocktail is GOOD. How about a single way of thinking?”


2| Sitges 2010
“Nothing to report.” – Charlie Skelton dürfte ja kein Journalist sein, wenn er in diesem Jahr nicht wiedergekommen wäre. Und diesmal kam er nicht allein, auch das spanische Fernsehen war zur Stelle und postierte ein Kamerateam – am letzten Kreisverkehr vor den Kontrollpunkten der Polizei und weit vom Hotel Dolce in Sitges entfernt. Drinnen hatte es sicher keine Drehgenehmigung erhalten. Der Guardian war inzwischen richtig neugierig geworden und wollte mehr als die Teichoskopien seines auf Heulsuse machenden Reporters vom Vorjahr. Darum arbeitete er sogar mit den verrufen zwielichtigen Globalisierungsgegnern und Amateurpaparazzi auf der Jagd nach Bilderberg-Teilnehmern zusammen und kaufte ihnen exklusiv ihre Fotos ab. Dank dieser wachen und wagemutigen Aktivisten konnte der Guardian diesmal recht umfangreiche Bildergalerien veröffentlichen, die eindeutig beweisen, wer am diesjährigen halb konspirativen Treffen der Bilderberger teilgenommen hat. Damit war bereits mehr Öffentlichkeit erreicht als jemals zuvor bei einem B-Meeting. Seitdem gibt es auf einmal eine Homepage, die sogar eine Tagesordnung sowie eine Liste der Teilnehmer bereitstellt und von unserem lieben Bundestagsabgeordneten und SPD-Vize Olaf Scholz, auch geborener Osnabrücker und diesjähriger Bilderberg-Teilnehmer, als offizielle Quelle genannt wurde. Ein wenig ist der Deckel nun also erstmals gelüftet worden, aber sogleich beeilten sich andere Journalisten, das Süppchen darunter auf kleine Flamme zu stellen: “Here's what Iain Hollingshead wrote about Bilderberg in the Daily Telegraph last week: "The reality of these conferences appears to boil down to a group of willy-waggling old men comparing their security details and dreaming of past glories", referierte Skelton und fragte zu recht: “Does that describe Jyrki Katainen, Finland's 39-year-old finance minister? Or Microsoft's chief research officer, Craig Mundie? Or Bill Gates? Or the prime minister of Spain?” Und er wunderte sich: “why attending Bilderberg has to remain such a mystery remains a mystery... Tony Blair attended in 1993, but lied about it in parliament. Why lie? Why hide? If it's a long weekend of ping-pong, why the secrecy? If it's a long weekend of global strategising, why not simply behave like adults and talk to the press about it?”

Right he is, und das hat sich vielleicht auch ein ehemaliger Bilderberger gedacht, nämlich der frühere NATO-Generalsekretär Willy Claes, der sich am Abend der Eröffnung des diesjährigen Bilderberg-Treffens in Sitges vom Belgischen Radio 1 interviewen ließ. Er bestätigte u.a., daß in der Tat Etienne Davignon und Henry Kissinger die zwei “steunpilaren rond welke heel de Bilderberg conferentie draait” seien, die beiden Stützpfeiler also, um die sich die gesamte Bilderbergkonferenz dreht. Die Königin der Niederlande und der König von Spanien nähmen ebenfalls “regelmatig” daran teil.
Auf die Frage, was denn nun auf den Konferenzen besprochen würde, gab Claes zur Auskunft, auf der Tagesordnung ständen jeweils “de meest belangrijke problemen met dewelke de wereld geconfronteerd is”. – Neinneinnein, wehrte er ab, es gäbe keine Abstimmungen und es würden auch keine Resolutionen zu Papier gebracht (womit er genau das wiederholte, was das Büro der Bilderberg-Gruppe an der Universität Leiden 2008 in einer der ganz seltenen Presseverlautbarungen erklärte), aber, so Claes weiter, jeder Vortragende gebe natürlich eine Art Zusammenfassung (Synthese) zu seinem Thema, “en iedereen is verondersteld gebruik te maken van die conclusies in het milieu waar hij invloed heeft hé.” Was ich und auch die englische Übersetzung so verstehen, daß von “jedem (Teilnehmer) angenommen oder erwartet wird, daß er von diesen Schlußfolgerungen Gebrauch macht in dem jeweiligen Bereich, in dem er über Einfluß verfügt.”
Heißt das etwas anderes, als daß vom Bilderberg gezielt und zugleich in verschiedenste Bereiche gestreut Meinungsbildung und vielleicht auch Einflußnahme auf Entscheidungsfindungen betrieben wird? Mit anderen Worten also mindestens Lobbyismus. Aber kann man es noch schlicht Lobbyarbeit, Einflüsterung oder versuchte Einflußnahme nennen, wenn diese niederen Tätigkeiten von den Chefs von Weltkonzernen und amtierenden Ministerpräsidenten persönlich ausgeübt werden?
“Stop, once and for all, saying that it's a bunch of has-beens meeting up for cocktails and cribbage”, ruft Skelton. “Calling Bilderberg a "talking shop" is like calling a war a "police action". It's like calling Henry Kissinger the winner of the 1973 Nobel peace prize.”

Weitere informative Seiten zum Thema:

Hinter den Kulissen: http://fosar-bludorf.com/bilderberger/
Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Bilderberg-Konferenz
BBC 2003: http://www.propagandamatrix.com/bbc_radio_4_bilderberg.mp3
Junge Welt: http://www.jungewelt.de/2010/06-11/044.php
Schall & Rauch: http://alles-schallundrauch.blogspot.com/2010/06/weitere-fotos-der-bilderberg-teilnehmer.html

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Mittwoch, 16. Juni 2010
Fußnote Holbrooke
Bekanntlich besitzt der westliche Balkan eine großartige Tradition des Geschichtenerzählens, die mindestens bis ins frühe 15. Jahrhundert zurückreicht. Die großen, jahrhundertelang ausschließlich mündlich überlieferten epischen Zyklen über die Schlacht auf dem Amselfeld (1389), um Marko Kraljevic und andere haben nicht nur die gesamte Heldensagenforschung weltweit beschäftigt, sondern auch kräftig zur Ausbildung der Konzepte von Oral Poetry und Oral History beigetragen. Viele Serben, Bosnier, Montenegriner usw. besitzen also ein gut geschultes Ohr für Geschichten und historisch bedeutsame Anekdoten und Pointen sowie ein hohes Geschichsbewußtsein.
Als gestern die Rede auf Richard Holbrooke kam, berichtete mir meine wojwodinische Herzogin von einer Anekdote, die sich damals das ganze zerfallende Jugoslawien mit einem auch von Schreck verzerrten Grinsen erzählt habe. Nachdem Holbrooke die drei Delegationen aus Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina Anfang November ‘95 wie in einem Konklave zusammengesperrt hatte, bekam er natürlich von jeder Seite auch die historischen Gründe aufgetischt, die entweder für Unabhängigkeit oder Zusammengehörigkeit, für Verbleib oder Abtrennung sprachen: die Türkenzeit, Schlacht auf dem Amselfeld, Osmanenreich, Islamisierung, Katholisierung, Habsburg, k.u.k Österreich-Ungarn, 1389, Schlacht auf dem Amselfeld (die sich nach unserem Kalender übrigens gestern jährte), Balkankriege, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Schlacht auf dem Amselfeld... bis Holbrooke eines Tages wieder einmal der Kragen geplatzt sei. Mit dem subtilen Verständnis des US-Amerikaners für die historischen Verflechtungen im alten Europa sei er in den Sitzungssaal einmarschiert und habe die Versammlung mit den Worten eröffnet:
“No history, no bullshit.”

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Dienstag, 15. Juni 2010
Ausflug nach Sitges. Eine Schimäre

Echidna (griech. Viper, Schlange), Tochter der Gaia und des Uranos, „halb schwarzäugige junge Frau mit herrlich prangenden Wangen, halb riesige Schlange von furchtbar drohendem Aussehn. Schillernd war sie, gefräßig und lag in den Tiefen der Erde“ (Hesiod, Theogonie 295f.), gebar ihrem Halbbruder Typhon (“der Rauchende”), einem Sohn der Gaia und des Tartaros von so riesigen Ausmaßen und mit einem so schrecklichen Gebrüll aus hundert Drachenköpfen, daß er sogar die olympischen Götter in die Flucht schlug, drei ebenso liebreizende Kinder: den Höllenhund Kerberos, die Sphinx und die Chimaira, wobei das griechische Wort χίμαιρα zunächst nichts anderes als Ziege bedeutet. Doch trug sie auf ihrem Ziegenleib auch noch den Kopf eines Löwen und den eines Drachen oder einer Schlange und spie, wie ihr Vater unter dem Ätna, mit allen dreien verderbliches Feuer. Ursprünglich lag ihre Höhle nahe dem antiken Olympos in Lykien, wo sich bis heute an einem Berghang austretende Gase am Sauerstoff entzünden: „das ewige Feuer der Chimäre“. Doch kann sie inzwischen auch andernorts ihre gräßlichen Häupter erheben, um Menschen zu verschlingen.

Stellen Sie sich vor, man habe Ihnen ganz diskret eine Einladung zugestellt, sich am ersten Juniwochenende zu einer informellen Tagung in einem erstklassigen Hotel in Spanien einzufinden, unterschrieben von Etienne Davignon, ehemals Vizepräsident der Europäischen Kommission, heute Vizepräsident des Stahlkonzerns Arbed, der Hotelkette Accor und der Fortis Bank, Aufsichtsratsmitglied bei Fiat, Suez, Anglo American Mining und der BASF, um nur einige der bedeutenderen Konzerne zu nennen. Sie fühlen sich geehrt und nehmen den nächsten Flieger. Am Flughafen in Spanien werden Sie von einigen athletischen Herren in stramm sitzenden Anzügen und mit kleinen Knöpfen in den Ohren empfangen und von einem schwarz livrierten Chauffeur in einer Luxuslimousine mit dem Stern zum Hotel gefahren. Ein massives Aufgebot von Polizei sichert die Zufahrtsstraßen und hat vor der Auffahrt zu dem auf einem Hügel abseits gelegenen Hotel Straßensperren und einen Checkpoint eingerichtet. Wird Ihnen nicht leicht unbehaglich?
Im Foyer sind Sie aber zum Glück nicht der einzige Neuankömmling. Der schwedische Außenminister Carl Bildt ist auch soeben eingetroffen; er unterhält sich gerade mit dem finnischen Finanzminister Jyrki Katainen und dem Konzernchef von Norsk Hydro, Svein Richard Brandtzæg. Es kommen ja viele Skandinavier nach Spanien: Sommer, Sonne, Sangria etc. Versteht man doch. Aber irgendwie scheint dieses Hotel gerade überhaupt ziemlich angesagt zu sein. Ein richtiges Prominest offenbar. Hinten beim Lift stehen EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia und Thomas Enders, Geschäftsführer von Airbus, in angeregter Unterhaltung beieinander. Scheinen sich gut zu verstehen, die beiden. In einer gemütlichen Sitzecke lümmelt - kann das echt wahr sein? - kein Geringerer als Bill Gates himself und neben ihm Eric Schmidt, Vorstandschef von Google, einträchtig bei einem stillen Wasser, von Konkurrenz keine Spur. An der anderen Seite des Tisches Peter Sutherland von Goldman Sachs und, kaum zu glauben, Josef Ackermann. In welche Räuberhöhle sind Sie nur hineingeraten? Der daneben muß dann wohl Marcus Agius, Vorstandsvorsitzender der Barclays Bank, sein, der mit einer Rothschild-Tochter verheiratet ist. Die ist aber nicht anwesend. Frauen? Sind überhaupt Frauen bei dieser Zusammenkunft von nicht gerade kleinen Lichtern aus Wirtschaft und Politik? Ach, draußen, unter einem großen Sonnensegel auf der Terrasse, sitzen bei einem Aperitif Gertrude Tumpel-Gugerell aus dem Direktorium der EZB und die junge Dambisa Moyo. Die hat doch auch mal bei der Weltbank gearbeitet, und bei Goldman Sachs. Schwerpunkt: Hedgefonds. Mittlerweile ist sie in Cambridge und am Royal Institute of International Affairs (Chatham House) und vom Time Magazine unter die 100 einflußreichsten Menschen der Welt gewählt worden.
Ex-Weltbankchef Wolfensohn tritt gerade hinzu und küßt beiden Damen die Hand, der alte Schwerenöter.
Das ist aber eine hochkarätige Versammlung hier, Mannomann! Und das sind noch nicht einmal alle. Vom Pool kommt gerade eine ganze Gruppe angeschlendert. An der Spitze unverkennbar Daimlerchef Dieter Zetsche und neben ihm Jacob aus der schwedischen Wallenberg-Dynastie. Etwas verdeckt dahinter wandelt der amtierende spanische Ministerpräsident Zapatero im Gespräch mit Weltbankchef Robert Zoellick. O je, was muß sich Zapatero da wohl anhören? Oder hecken sie etwa gemeinsam etwas aus?
Aber jetzt tut sich was am Eingang. Pagen entrollen einen orangen Teppich, und eine ellenlange Stretchlimousine schleicht wie auf Samtpfoten heran. Heraus steigt - ist sie‘s wirklich? - Beatrix Wilhelmina Armgard, Koningin der Nederlanden. Wie hat sie bei dem Manöver nur den Hut aufbehalten? Nach ihr entsteigen als Entourage lauter Lohnsklaven ihres fast Privatbetriebs Royal Dutch Shell dem Wagen, CEO Peter Voser, Jorma Ollila, ehemals Nokia-Chef, aber inzwischen auch in den Schoß der Muschel gekrochen, und der mit dem etwas steifen Bein muß Sir John Kerr sein, Abgeordneter des britischen Oberhauses und einer der Direktoren von Shell.
Hotel Dolce, Sitges Erst nachdem ihre Majestät sich in ihre Gemächer zurückgezogen hat, treffen die wahren grauen Eminenzen dieser höchst bemerkenswerten Zusammenkunft ein. Richard Holbrooke etwa. Nach Vietnam waren die indonesische Invasion in Osttimor und das Gwangju-Massaker 1980 in Korea weitere Meilensteine seiner Karriere, bevor dieser menschliche Marschflugkörper 1995 im Jugoslawienkrieg einschlug und zu Milosevic gesagt haben soll: „Diese Soldaten hinter mir befehligen die amerikanischen Luftstreitkräfte, die bereit stehen, Sie zu bombardieren, wenn wir nicht zu einer Einigung kommen“. Momentan ist der feinfühlige Diplomat Obamas Sonderbeauftragter für Afghanistan und Pakistan. Begleitet wird er hier vom Staatssekretär für Europa- und Eurasienfragen im US-Außenministerium, Philip H. Gordon. Javier Solana schleicht auch händereibend herum. Inzwischen ist er aus seinen politischen Ämtern ausgeschieden, aber was heißt das schon? Er kann sich auf Spanisch doch trotzdem ganz freundschaftlich mit dem venezolanischen Medienmogul Gustavo Cisneros unterhalten, der als erbittertster Feind von Präsident Hugo Chavez gilt. Und dann kommt als letzter ER, inzwischen zwar am Stock und fast ein wenig gestützt auf Gordon Campbell, den Premier von British Columbia, aber immer noch der Drahtzieher schlechthin, Henry A. Kissinger aus Fürth, dem man unter vielen anderen das geflügelte Wort zuschreibt: „Globalisierung ist nur ein anderes Wort für US-Herrschaft.“
Hätten Sie es für möglich gehalten, all diesen Mächtigen dieser Erde an einem einzigen Ort zu begegnen? Angenommen, Sie hätten es tatsächlich geschafft, an jenem Juniwochenende einen Aufenthalt im Hotel Dolce in Sitges zu buchen, hätten Sie sich bei Ihrem ersten Rundgang nicht gekniffen und gefragt, in welchem bösen Traum Sie da gelandet seien? Hätten Sie den nächsten Kellner gefragt, dann hätte der ihnen womöglich leise nur ein Wort zugeraunt: Bilderberg.
“Ach Quatsch! Gibt‘s doch gar nicht”, wäre es Ihnen entfahren, “Bilderberg! Diese Vereinigung von Macht & Geld ist doch nur ein Ammenmärchen von irgendwelchen Verschwörungstheoretikern.” Eine Schimäre.

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Montag, 14. Juni 2010
O Mann, war das schön!
Eine deutsche Mannschaft, die durch Spiel so überlegen zum Erfolg kommt. Wie lange habe ich so etwas nicht mehr gesehen? Der Auftritt gestern läßt doch fast an die Netzertruppe der frühen Siebziger denken. Gute Kondition und Physis, taktische Disziplin, gut einstudierte Spielzüge, das alles kennen wir ja, aber gestern abend kamen auch noch feine Ballbehandlung, exzellente Schußtechnik und überhaupt technische Fähigkeiten zum Zungenschnalzen, Spielfreude, Kreativität (!) und eine fast elegante Leichtfüßigkeit hinzu, die alle so hart erarbeitet sein müssen, daß man es ihnen nicht mehr ansieht. Frei nach meinem Lieblingssatz des fliegenfischenden Vaters in Norman Macleans Erzählung A River Runs Through It:
“All good things come by grace and grace comes by art and art does not come easy.”
Meine Achtung vor Löw als Bundestrainer steigt. Er könnte es vielleicht fertigbringen, das altdeutsche hierarchische System der um sich beißenden Kahns und Ballacks endlich vergessen zu machen und durch ein viel moderneres und sympathischeres zu ersetzen. Es hat Freude gemacht, die unbekümmerten jungen Burschen, die Özils und Cacaus, die Lahms und die Müllers spielen zu sehen. Bitte weiter so!

Ausländische Beobachter sehen das ganz ähnlich. “Ist eine deutsche Nationalmannschaft jemals spielerisch überzeugender in ein Turnier gestartet?”, fragt die NZZ und spricht von “fabelhaftem Fußball”. “Australien hatte dem deutschen Angriffswirbel nichts entgegenzusetzen. Hier traf unbeschwerte Leichtigkeit auf bleierne Schwere.” Der österreichische Kurier schreibt: “präsentierte sich die Löw-Elf in der Folge ruhig, ideenreich, ballsicher und voller Spielfreude. Tugenden für die der dreimalige Weltmeister bis jetzt nicht unbedingt bekannt war. Bis jetzt. – Fast hatte es den Anschein, als würde sich der Ausfall des "Capitano" zu einer "glücklichen Fügung" umkehren. Die jungen Offensivkräfte wirkten befreit, fast schon enthemmt. Die sonst defensiv exzellent organisierten Socceroos verkamen oft zu staunenden Statisten.”
Und wer ein bißchen Schwedisch versteht, sollte sich mal die Leserkommentare in der führenden schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter zu Gemüte führen.
Selbst der australische Daily Telegraph konzediert den “Germans an effortless victory against a Socceroos side made to look second-rate for the entire 90 minutes... ragged by an athletic and far superior German team.”
In den Niederlanden fiel das Echo erwartungsgemäß verknautschter aus, immerhin werden die Australier von einem Niederländer trainiert: “Deutsche walzten Australien nieder”, titelte De Telegraaf und schickte einen Artikel mit der Schlagzeile hinterher: 'Oranje klaar voor wereldtitel'.

Neulich gab es doch schon einen ähnlich unbeschwert fröhlichen Auftritt einer Vertreterin unserer Kükengeneration. Sollten wir als Eltern nicht völlig versagt haben?

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Donnerstag, 10. Juni 2010
Bankrotterklärung in den Niederlanden
Gestern Mittag brachte die niederländische Tageszeitung de Volkskrant eine tragische Meldung, die fast einem nationalen Debakel gleichkommt: Die Amsterdamer Fahrradfabrik, die die berühmten “bakfietsen” herstellt, ist pleite, eine nationale Institution, fast ein Symbol ging den Bach runter.
Am Abend war die niederländische Katastrophe dann perfekt: die Niederländer haben ihre Maske liberaler Weltoffenheit fallen und die Hosen heruntergelassen; die rechtsliberale Partei für Freiheit und Demokratie (VVD) gewinnt bei den Parlamentswahlen fast 6 Prozent Stimmen hinzu, die fremdenfeindliche, rechtspopulistische Wilderspartei PVV hat sich mit 10 Prozent Zuwachs mehr als verdoppelt. Zusammen kommen die beiden Parteien im niederländischen Vielparteiensystem auf 36 Prozent der Stimmen. Während die Sozialdemokraten geringe Verluste erlitten, wurde die christdemokratische Partei des bisherigen Ministerpräsidenten Balkenende praktisch halbiert. Die holländische Wählerschaft polarisiert sich und rückt mehrheitlich deutlich nach rechts.
Wilders, der, frisch aufblondiert, wie ein Boxchampion zur Musik von “Eye of the Tiger” in das Restaurant auf der Scheveninger Pier einmarschierte, dröhnte natürlich: “Vrienden, het onmogelijke is gebeurd. Dat betekent dat we de grootste winnaar van deze verkiezingen zijn. Dat 1,5 miljoen mensen ons hebben gekozen. Nu kan niemand meer om de PVV heen!” (“Freunde, das Unmögliche ist passiert. Das bedeutet, daß wir die größten Gewinner dieser Wahl sind. Daß uns 1,5 Millionen Menschen gewählt haben. Jetzt kommt niemand mehr an der PVV vorbei!”)
Tja, so ist das wohl. Regen und Nebel hängen heute über Den Haag. Es wird demnächst noch kälter werden hier.

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