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Montag, 19. Juli 2010
Maitagorry (II)
Auf der offenen Heide und erst recht auf den großen, grell die Sonne reflektierenden Sandflächen wurde es fast unerträglich heiß. Anfangs wehte noch ein Hauch und führte eine wunderbar belebende Mischung an Düften mit sich, erdig, holzig, nach grünen Kiefernnadeln, Harz und würzigem Wacholderholz mit einer Kopfnote von süßem Gras, ein Duft, bei dem es mir unter dem Schädeldach kribbelt wie nach einer Kopfmassage mit ätherischen Ölen und Menthol. So konnte ich immer weiter radeln, ohne zu ermüden. Dabei strömte mir längst der Schweiß über Stirn und Rücken, aber so lange der Wind anhielt, füllte mich jeder Atemzug mit einem belebenden Elixier. Duftdoping.
Irgendwann schlief auch der letzte Luftzug noch ein, das Licht wurde fahl, stumpf gleißend, die Hitze legte sich wie geschmolzenes Blei über die weite Senke, auf deren Grund ich bald nur noch kroch, jede Pedalumdrehung ein schweißtreibender Kraftakt. Dann kam auch noch eine leichte Steigung, aber an ihrem Ende oben winkte ein lichter Hain aus Kiefern mit ausladenden Schirmkronen, die das Licht hellgrün siebten. Nachdem ich mich hinauf gequält hatte, hielt ich an. Eine bessere Stelle, um in lichtem Schatten zu verschnaufen, im Gras zu liegen und zu lesen oder von diesem erhöhten Ansitz den Blick über die Heide schweifen zu lassen, konnte ich nicht finden.
Die grausame Dürre hielt an. Seit über fünf Monaten kein Tropfen Regen. Barral träumte, die Schlange Leheren senge ihn. Bis in den Vormittag lag der Herr wie betäubt, nackt auf dem Estrich. Keine Wolke am tiefblauen Himmel. Er ritt zur Gallamassa baden. Larrart mit Gesellen und Kindern war da. "Schmiedest du heute nicht?" -- Wir haben das Feuer ausgehen lassen." -- "Maita?" -- "Daheim, Mon Dom."
Unter dem Vordach der Schmiede schlang er den Zügel des Pferdes um den Ring, lockerte den Sattel und deckten den Schäfermantel über die Kruppe. Drinnen hörte er Maitagorry singen. Kein Mensch auf den Straßen. Er ging ins Haus. Sie war nicht zu finden. Er legte den Messergurt ab und nahm den Riemen. Im Keller schien sie zu sein. Auf der Treppe begegneten sie sich. Er trat an die Wand. Einen Eimer Eis auf dem Kopf, stieg sie vorüber. Rätselhaft aus der Schräge sah sie ihn an. Olivbraun glänzte ihre Haut, grauweiß stumpf leuchtete ihr Schurz. Oben setzte sie den Bottich ab. Vorsichtig armend mit offenen Zähnen, betrachtete sie den Herrn in der fernen Ecke. "Komm doch", lockte sie. "Komm doch. Wenn es nur das ist, komm doch." Ohne den Blick von ihm zu wenden, griff sie über die Hüfte und löste das Tuch. -- "Es ist nicht nur das, Maita. Ich will, daß es regnet." -- "Dann komme der Herr. Dann küsse Luziade mir den Fuß. Dann peitsche er die Fee Maitagorry in seine Seele. Komm, wie einst ich kam. Erniedrige dich, wie einst ich mich erniedrigte. Schön ist dein Rücken. Seidig ist dein Rücken. Ich setze meinen Fuß auf dich. Ich stoße dich in die Schande, weil du der Herr bist, der mein Herz verbrennt." Mit einem Tritt warf sie den Knienden um, lief an den Gewölbepfeiler, zog sich am Kettenring auf. "Komm doch, ich will ein Kind. Knecht, Liebster, Wilder, Luziade, brauner Fels. Maitagorry wird dich begraben in Eis."
Wortlos vor Wut und Liebe leckte er ihre Wunden, damit sie heilen konnten, warf sich aufs Pferd und galoppierte über die Felder. Die Luft war bleiern. Die Sonne sog Wasser. Ein malvenfarbener Hof umgab das Gestirn. Die Vögel schlüpften ins Buschwerk. Geschmeiß flog in sirrenden Wolken um Roß und Reiter. Über dem Tec wuchs eine Wetterwand auf, grauweiß wie Maitas Schurz.
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Freitag, 16. Juli 2010
Von Kiefern und Käfern
“Lichter? (Ich hob mich auf den Pedalen) – : – Nirgends. Also wie immer... doch, da hinten ästen sie: ein Bulle und zwei Kühe. Der Hirsch flemte mißtrauisch vom Waldrand aus, die Kühe ästen unter seinem Schutz sorglos mitten auf der Lichtung. Schöne starke Kiefern aber. Ich radelte weiter. Kam bald aus dem Wald ins Offene: hohes, gelbes Gras lief dort unter der Sonne in Wellen zum Horizont, einem schmalen Saum aus dunklen Wäldern. Auch auf der kleinen Savanne kein Mensch, gut. Stattdessen bogen sich junge Wacholdermädchen kokett und widerspenstig, standen in Gruppen oder bildeten Kreise, manche hielten sich auch stolz abseits, für sich. Das hatten sie den Älteren abgeguckt, knorrigen, alten Kiefern, eigenbrötlerisch und trotzig, die sich im Lauf der Jahrzehnte doch dem Wind beugen, von ihm sich die Äste verdrehen, knicken oder zu Boden drücken lassen mußten.
Als ich aus dem Schatten des Waldes herauskam, wehte mir als erstes der sonnendurchwärmte Duft von trockener, sandiger Erde und reifem Gras in die Nüstern, das roch wie ein Kornfeld kurz vor der Ernte. Man müßte die Biographie jedes Körnchens schreiben. “Lebensbeschreibung eines Wacholders”; “So wuchs die Kiefer da rechts”; “Wir Moos”; “Ich war ein Vogel Habicht”; warum soll nicht eine Schneise ein Wesen sein, hatte einmal ein literarischer Hungerleider gefragt, Schmidt hatte er sich geschimpft.
Der Baum da vorn auf dem kleinen Sandrücken neben dem Weg war einmal ein Wesen gewesen. Ein Sturm, ein Gewitter hatte ihn vor Jahren zu Boden gestreckt. Jetzt lag er da wie der Kadaver eines verendeten Tiers, gierige Räuber hatten ihm mit scharfen Krallen die weiche Bauchseite aufgerissen, und nach ihnen taten sich die Aasverwerter an ihm gütlich, fraßen sich durch die Eingeweide und folgten den Fasern, Adern und Kanälen, deren Verläufe sie bloßlegten und so Wuchsrichtungen und Deformationen dieses einstmals kräftigen, zähen Leibes präparierten. Im Tod und Verwesen noch gab er unzähligen Maden, Käfern, Pilzen und Bakterien Nahrung; lebte auch er nicht mehr, so lebte es in ihm und von ihm umso wimmelnder. Nach dem Fall des Großen laben sich die Kleinen umso genüßlicher an seiner Leiche. Der Tisch war reich gedeckt, die kleinen Aasfresser selbst boten sich unbedacht in reicher Zahl Beutejägern, die auf sie erpicht waren. “Subtile Jagden”, so hatte Jünger seine teilnehmende Beobachtung an diesen Kreisläufen immer genannt, und außer Eingeweihten hat kaum jemand verstanden, warum dieser lange bellizistische Krieger und Abenteurer sich Zeit seines Lebens für Käfer interessiert hat.
“Den Hang zu Subtilen Jagden fand ich für mich immer sinnvoll, während meine Freunde sie als eine entlegene, hoffmanneske Ecke meiner Welt betrachteten. Freilich bleibt es dem Einzelnen zumeist verborgen, warum er solche Dinge treibt”, hat Jünger selbst einmal im Tagebuch selbstkritisch angemerkt. “Mir scheint indessen, daß mir das Alphabet nicht mehr genügt. Ich bedarf einer Schrift, die der ägyptischen oder auch der chinesischen mit ihren hunderttausend Ideogrammen gleicht: daher adoptierte ich diese. – Auf diese Weise gewinne ich eine Reihe von Punkten, von Typen, mit denen sich die Welt wie mit den Knoten eines Netzes überzieht. Man schneidet so die Dinge feiner an als mit Worten, doch liegt das Luxuriöse des Verfahrens darin, daß es allein zum eigenen Genuß verwendbar ist und sich der Mitteilung entzieht.”
So sehr entzog es sich bei ihm der Mitteilung gar nicht, wenn er etwa beschreibt, wie er im Juni ‘41 vor den Toren von Paris auf einem Baumpilz eine “rotbraune Orchesia” aus der Familie der Düsterkäfer “erbeutete”: “Auch leuchtete mir wieder der Anblick der dunklen, sonst so unscheinbaren Staphyliniden ein. Im hellen Sonnenlichte tanzen sie mit aufgerecktem Hinterleib gleich schwarzen Flammen auf den frischen Krusten des Uferschlammes in höchster Lebensglut. Im Funkeln ihrer Rüstung erkennt man, wie vornehm doch die schwarze Farbe ist.”
Ich verstehe von Käfern nichts, aber einen dicken schwarzen Mistkäfer, der mir über den Feldweg krabbelte, konnte ich immerhin noch bestimmen. In Jüngers ägyptischer Ideogrammschrift stand seine Hieroglyphe für das Wort xpr, dessen Bedeutungen die stets schlaue Wikipedia mit “werden” und “entstehen” wiedergibt. Welche Omen und mystischen Fingerzeige des Weltgeistes hätte Jünger nicht alle in der Begegnung mit diesem heiligen Pillendreher neben dem toten Baum gesehen. Symbol für Re, der die Sonnenscheibe in seiner Barke über den Himmel gondolierte, Symbol der Schöpferkraft, weil er nach dem Ablaufen des alljährlichen Hochwassers so schnell aus dem Nilschlamm kroch, daß man kaum an eine natürliche Fortpflanzung glauben mochte. Doch der hier war kein Scarabaeus sacer, sondern ein gewöhnlicher Waldmistkäfer, der ebenso wie die pharaonischen Skarabäen zur Unterordnung der Koprophagen oder Kotfresser gehörte. Doch dann kletterte er an einem glatten Stein hinauf, rutschte ab, fiel unbeholfen auf den Rücken und offenbarte mir das metallischste blauviolette Schillern, das ich im Tierreich je gesehen habe.
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Montag, 12. Juli 2010
Endspiel. Fin de partie
"Hast du es nicht satt?"
"Doch!" (Pause) "Was denn?"
"Dieses... alles."
Zugegeben, die Worte fielen nicht gestern abend, sondern in einem anderen, gleichnamigen Drama, aber gepaßt hätten sie schon auf dieses Killer-Finale in Johannesburg zwischen Spanien und den Niederlanden. Aus Gründen der Gerechtigkeit siegte diesmal am Ende die Armada, denn wofür die Niederländer den deutschen Fußball jahrzehntelang beschimpft haben: destruktives Spiel, das haben sie gestern weit über den Rahmen des Erlaubten und erst recht des Fairen hinaus selbst praktiziert und völlig zu recht wieder einmal verloren.
“Wieder Zweiter, wieder kein Weltmeister”, trauert de Volkskrant, bewahrt aber unter den Tränen genügend Klarblick, um die eigene Mannschaft einer “manchmal niederträchtigen Spielweise” anzuklagen. “Het Nederlands elftal van 2010 is een vechtmachine in het oranje”, die holländische Mannschaft von 2010 ist eine Kampfmaschine in Oranje, konstatiert die Zeitung und mahnt, es sei Zeit für eine Besinnung, was man wohl vor allem als Rückbesinnung auf die einstigen Tugenden des holländischen Fußballs verstehen soll. Der spanische Radiosender Cadena SER hatte schon während der Übertragung des Endspiels festgestellt, das Team von Bert van Marwijk habe alles vergessen wollen, was den holländischen Fußball einer früheren Generation auszeichnete. “Es glaubte, um gewinnen zu können, müßte es die eigene Geschichte verraten.”
Was dabei herauskam, beschreibt de Volkskrant so: “Verkrampft, manchmal unverschämt, mit Fouls, die mit Fußball nichts mehr zu tun haben. De Jong hätte für seinen Karatetritt gegen Alonsos Brustbein die rote Karte bekommen müssen”, und endet bitter: “Das Finale einer WM ist doch kein Spiel mehr, es ist bitterer Ernst... doorgaan tot de botten kraken, durchziehen bis die Knochen krachen, das war dieses Finale.”
In der Tat. Es war das “kartenreichste” Finale aller Zeiten, und niederländische Spieler erhielten zu recht die Mehrzahl aller Verwarnungen (8) und (nur) einen Platzverweis. Schiedsrichter Webb, über den sich Sneijder, Robben & Co. als gute Verlierer nach dem Spiel auch noch lamentierend beschwerten, hätte viel entschiedener durchgreifen müssen. Dann wären mindestens De Jong und van Bommel auch noch vom Platz geflogen. Als besagter van Bommel auf dem Weg in die Pause den Schiedsrichter ansprach, vermutete der Reporter des Guardian, der Niederländer habe sich wohl erkundigt, wie oft er noch zutreten dürfe, bevor er mit einem Platzverweis rechnen müsse. “That was the level to which the match had descended.” – Nur in einem einzigen Spiel der WM-Geschichte hat es noch mehr gelbe Karten gegeben; das war ein Achtelfinale vor vier Jahren, Portugal gegen..., richtig: Holland.
“Dutch found guilty of crimes against football”, brachte es das englische Boulevardblatt The Sun auf den Punkt. “Never mind the quality, feel the justice”, frohlockte dagegen der ebenfalls englische Telegraph. “To 1974 and 1978 can now be added 2010 in the Dutch Hall of Hurt.”
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Sonntag, 11. Juli 2010
Maitagorry
Die Sonne sticht von einem vor Hitze weißen Himmel, der trockene Wind zwirbelt den Staub auf den Wegen zu Schleiern, die wilde Pirouetten drehen: Tanzt in der Stille des Mittags, Nymphen des Pan! Bussarde pfeilen hoch oben die Luft mit weit tragenden Klagerufen.
Ein gnadenlos dörrender Sommer brachte die erste Mißernte; hungern mußte niemand; die Zehntscheuer leerte sich. Maitagorry, das Feuerweib, wurde unfruchtbar. Als Bäuerin ging sie durch Schmach und Schimpf. Schön, aber schlank, blühend, aber tot. Man hielt die Schwurfinger erdwärts.
Die Leute murrten; der Schoß der Erde blieb trocken. Das Vieh klagte vor Durst. Sie trieben es zum Saufen in die Kieswüste des Stromes. Sie selbst tranken Wein. Auf den Stalltüren mehrten sich angenagelte Eulen. Barral nahm sie ab und hieb sie den Bauern um die Ohren; die Eule sei ein nützlicher Vogel; ob sie zur Dürre auch Wühlmäuse noch haben wollten? Zwei Brunnengräber erstickten im Schacht. Bei der Beerdigung bekreuzigte sich Ghissi, als Mon Dom erschien. Abends auf dem Kirchplatz fragte er Ubarray, was das solle; ringsum sei es nicht besser. Ubarray zuckte die Schultern. Morgens hängten sie an das Haus Etche-Ona einen Steinkauz. Als der Herr, durch das Hämmern geweckt, heraustrat, starrten sie ihn feindselig an.
Die Erde glühte. In der Schmiede war es noch heißer. Außer dem Feuerschurz hatte niemand etwas an. Die Muskeln glänzten wie Öl. Die Hämmer klingelten auf die Reife. Man fertigte nichts mehr als Reife, sie warm auf Bottiche zu keilen. Abkühlend schlossen sie das Holz zusammen. Aus der dunkelsten Ecke kam Maitagorry, das Baumwolltuch um die Hüften gewickelt, ein Kreuz zwischen den Brüsten. Barral nahm es in die Faust. Ein Ruck, und das Kettchen riß. Ihre Augen blitzten. "Larrart wird es tun", sagte Barral. - "Larrart." Sie lächelte mitleidig. "Du bist es. Dich will ich haben." - "Du wagst es, mich du zu nennen?" - "Ja!" fauchte sie. Der Lärm der Arbeit übertönte die Worte. Die Gesellen schauten nicht hin. - "Maita, ich schlage keine Frau, die ich liebe." - "Oh, wie feige bist du. Dann verdorren wir alle, wie ich! dann sterbe ich vor dir, niemand begräbt dich, dann verfluche ich die Erde, dich, mich, meine Kinder!" - Barral schob sie fort. Sie schlug die Zähne in seine Hand und flog zu Boden. "Maita! komm zu dir!" Die Bälge sausten. Die Hämmer klingelten. - "Zu Euch", sagte sie und rutschte auf Knien zu ihm, ihn zu umarmen. Er sah ihren Rücken zucken. "Guter Herr. Guter Herr. Für Euch bin ich geboren. Was ich habe, ist Euer. Auch mein Zorn. Auch mein Haß. Auch meine Rache."
Er zwang sie am Handgelenk hoch. "Rache?" - Ihre Tränen strömten. "Fürchterlich sind die Geister. Mon Dom, Ihr fürchtet sie nicht? Zypressen brennen, wenn Leheren vorbeikriecht. Verraten. Euer Schreck verrät Euch. Luziade, goldbrauner Hirt, ich weiß, wo du sterblich bist. Wo hast du die Peitsche? Nur mit der Peitsche wirst du mein Herr. Nur wenn ich blute, regnet es. Blute ich nicht, regnet es Blut. Kälber mit zwei Köpfen. Blinde Kinder. Mord... Trage deine Schuld, oder ich erwürge dein Gewissen, ich sitze auf deinen Träumen, und wenn ich will, so halte ich dein Herz auf, bis es nicht mehr pulst."
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Mittwoch, 7. Juli 2010
Natternköpfe züngeln
Es ist heiß zwischen den alten, bewachsenen Dünen, Pappelwolle fliegt umher und bedeckt flockig den sandigen Boden; ein Geruch nach warmem Pferdeschweiß steigt auf. Blaue Kerzen von Natternköpfen säumen dicht die schmalen Pfade. Ihren Namen haben sie von den wie Schlangenzungen aus den kleinen Blütenkelchen züngelnden Griffeln, und natürlich (aber-)glaubte man früher, im Amulett getragen, würden sie vor Schlangenbissen schützen. Auch sollen alle blau blühenden Pflanzen den Blitz und Donner schleudernden Göttern heilig gewesen sein, denn bläulich zuckt das Licht der Blitze. Am Vormittag hat der Wind gedreht, kommt jetzt feucht und warm aus Südwest, doch statt einer Gewitterwolke, aus der Zeus oder Thor ihre Blitzkeile schleudern könnten, entsteht draußen auf dem Meer Nebel, die berüchtigte zeevlam der holländischen Küste wallt heran. Bald ist alles wie in grauen Rauch gehüllt, die Sonne verlischt, die Temperatur fällt spürbar.
Nach ein paar Stunden löst sich der Spuk auf, und in der Nacht grollt tatsächlich ein Gewitter los, die Blitze geistern grell über den Himmel, aus dem ein Regendrusch niederrauscht. Ich denke an Maitagorry und die Schlange Leheren im Zypressenpalast und mir wird heiß, aber wer liest heute noch solche Bücher?
Nach ein paar Stunden löst sich der Spuk auf, und in der Nacht grollt tatsächlich ein Gewitter los, die Blitze geistern grell über den Himmel, aus dem ein Regendrusch niederrauscht. Ich denke an Maitagorry und die Schlange Leheren im Zypressenpalast und mir wird heiß, aber wer liest heute noch solche Bücher?
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Sonntag, 4. Juli 2010
Im Zeichen der 4
By Jolly, ich hatte ja keine Ahnung, wie aktuell meine erneute Beschäftigung mit siebzig Jahre alten Tagebüchern aus dem II. Weltkrieg sein würde (ich lese sie ausschließlich aus literarischem Interesse an ihrem Autor), bis ich wieder einmal die Sportseiten des Guardian aufblätterte. Auf der Insel leckt man sich natürlich immer noch die Wunden, die die erneute deftige Packung gegen eine deutsche Nationalelf (“England's nemesis”) gerissen hat. Wer vor und nach solchen Spielen schon einmal eine englische Zeitung gelesen hat, weiß, daß dort immer wieder gern Parallelen zwischen Fußball und Weltkrieg gezogen werden, aber manchmal faßt man sich trotzdem noch an den Kopf.
“Soccer is now, thankfully, the way European nations fight each other”, erklärt ein johnbarry in einer Zuschrift zu einem ansonsten lesenswerten Guardian-Artikel über die “Flair Revolution” des deutschen Fußballs. Und dann holt johnbarry richtig aus: “Watching the England - Germany match, I was struck by how closely the rival approaches mirrored their respective military doctrines of decades ago”, schreibt er und kommt gleich zum Kern seiner Analyse: “In essence, the German team's tactics were pure blitzkrieg. Very fast breaks whenever a hole opened up. Keeping up the pace of attack so the defense had no time to organise. Pouring support behind whichever player had broken through the defence.”
Schätze, johnbarry ist altgedienter WKII-Veteran, der auch beim Fußballgucken sein schmächtiges Offiziersstöckchen fest unter den Arm geklemmt hält. Oder er ist noch aktiver Stabsoffizier der Royal Army, denn er führt ergänzend ein noch älteres Konzept deutscher Militärkonzeption ins Feld: “...An offensive strategy which depended --- as did blitzkrieg --- on the absolute confidence that every player on the German side understood the battle-plan so well that no last-second coordination was necessary. Every player was free to use his initiative, within that well-understood operational strategy. The military version of this the Germans called auftragstaktik. – By contrast, the England team looked as if they were in thrall to Montgomery 's laborious set-piece approach in the Western Desert or before Caen.”
Bleibt nur zu hoffen, daß bei der jetzt in England ausgebrochenen Bewunderung für deutsche Militärtaktik der nächste englische Nationaltrainer nicht angehalten wird, das Spielfeld in ein Gefechtsfeld zu verwandeln.
So allein steht Mr johnbarry mit seiner in meinen Augen etwas bizarren Analogie übrigens gar nicht. Das norwegische Dagbladet titelt nach dem 4:0-Sieg über Argentinien: “Dette er Blitz Fussball!”
Spielen und Jonglieren mit Analogien zwischen fußballerischen Spielweisen und ernsteren (und gefährlicheren) Dingen oder auch nationalen Charaktereigenschaften scheint doch einfach zu verlockend zu sein. Hier in den Niederlanden gibt es zum Glück noch ein paar Stimmen, die diesen Blick auch einmal auf die eigene Mannschaft und die eigene derzeitige geistige Einstellung im Land richten: “Hört Van Marwijk, und ihr hört Wilders”, lautet die Schlagzeile eines Artikels im Rotterdamer NRC Handelsblad. “Nur wenige Wochen nach dem Wahlerfolg von Wilders legt Oranje ein Spiel an den Tag, das meilenweit entfernt ist von der fortschrittlichen Bravour, mit der ganze Generationen aufgewachsen sind... Man höre nur, wie der Trainer von Disziplin spricht, die Rufe nach einer strengen Hand. Und man höre, was Wilders sagt.”
Wenn das so ist, kann man der deutschen Mannschaft mit ihrer fortschrittlichen Bravour ja nur alles Gute wünschen, im Endspiel.
Aber so offen wollen wir Deutsche (im Unterschied etwa zu Brasilien, Maradona und der oranje elftaal) ja heutzutage keine Titelaspirationen anmelden. Die Mannschaft deutet da eher durch Zahlenspiele etwas an: 4:0 gegen Australien, 4:1 gegen England, 4:0 gegen Argentinien -- kann das etwas anderes heißen als: wir wollen den 4. Titel?
Raphael Honigstein von Sports Illustrated, der offenbar eine ganze Menge von Fußball in Deutschland weiß, hat im Zusammenhang mit Jogi Löw eine bedenkenswerte Nebenbemerkung fallen gelassen: "The whole of Germany is at his feet, grateful for much more than reaching the third semifinal in a row (in 2006, he was Jurgen Klinsmann's assistant): Löw has rebranded, nay: reconstructed the team into a side that neutrals enjoy watching. In doing so, he has fulfilled a deep-seated need of his countrymen: after being feared (war) and grudgingly respected for their achievements (post-war) they desperately wanted to be liked. And that doesn't just go for the soccer."
“Argentina kissed good-bye its 2010 World Cup South Africa dreams after falling strongly in one of the saddest chapters of our history in this tournaments”, faßte der in Englisch erscheinende Buenos Aires Herald die Trauer in Argentinien zusammen, aber insgesamt hat die argentinische Presse die Niederlage erstaunlich sachlich und gelassen hingenommen.
clarín, ebenfalls aus Buenos Aires, titelt zwar: “Klose, unser Scharfrichter gestern und heute”, analysiert dann in einem weiteren Artikel aber nüchtern “10 Gründe für unser Ausscheiden”, und nennt an erster Stelle die Unfähigkeit und das Versagen Maradonas als Trainer. “Die Spieler haben gelernt, daß es den Weihnachtsmann nicht gibt, Maradona ist wieder zu einem gewöhnlichen Sterblichen geworden.”
pagina 12 haut in die gleiche Kerbe. Das einzige, wozu man der argentinischen Mannschaft gratulieren könne, sei, daß sie nun gezeigt habe, daß sie doch verlieren könne. Ansonsten habe sie schon gegen Mexiko erkennen lassen, daß sie mit taktisch disziplinierten und gut eingestellten Gegnern nicht zurechtkomme, weil sie selbst keine taktische Vorbereitung erhalten habe. Letzten Endes müsse man aber auch schlicht einmal die Überlegenheit eines Gegner anerkennen: “Die Deutschen haben einfach sehr gut gespielt.”
Die Karikatur aus pagina 12besagt: "Die Deutschen sind undankbar. Wo sind sie denn hingegangen, als sie sich verstecken mußten...?"
Vaya con dios, Senor Maradona. Rosenkranzbeten ist eben doch keine überlegene Taktik.
Jetzt kann er sich in Ruhe einen dritten und vierten Arm wachsen lassen, um noch mehr Protzuhren gleichzeitig zu tragen.
“Soccer is now, thankfully, the way European nations fight each other”, erklärt ein johnbarry in einer Zuschrift zu einem ansonsten lesenswerten Guardian-Artikel über die “Flair Revolution” des deutschen Fußballs. Und dann holt johnbarry richtig aus: “Watching the England - Germany match, I was struck by how closely the rival approaches mirrored their respective military doctrines of decades ago”, schreibt er und kommt gleich zum Kern seiner Analyse: “In essence, the German team's tactics were pure blitzkrieg. Very fast breaks whenever a hole opened up. Keeping up the pace of attack so the defense had no time to organise. Pouring support behind whichever player had broken through the defence.”
Schätze, johnbarry ist altgedienter WKII-Veteran, der auch beim Fußballgucken sein schmächtiges Offiziersstöckchen fest unter den Arm geklemmt hält. Oder er ist noch aktiver Stabsoffizier der Royal Army, denn er führt ergänzend ein noch älteres Konzept deutscher Militärkonzeption ins Feld: “...An offensive strategy which depended --- as did blitzkrieg --- on the absolute confidence that every player on the German side understood the battle-plan so well that no last-second coordination was necessary. Every player was free to use his initiative, within that well-understood operational strategy. The military version of this the Germans called auftragstaktik. – By contrast, the England team looked as if they were in thrall to Montgomery 's laborious set-piece approach in the Western Desert or before Caen.”
Bleibt nur zu hoffen, daß bei der jetzt in England ausgebrochenen Bewunderung für deutsche Militärtaktik der nächste englische Nationaltrainer nicht angehalten wird, das Spielfeld in ein Gefechtsfeld zu verwandeln.
So allein steht Mr johnbarry mit seiner in meinen Augen etwas bizarren Analogie übrigens gar nicht. Das norwegische Dagbladet titelt nach dem 4:0-Sieg über Argentinien: “Dette er Blitz Fussball!”
Spielen und Jonglieren mit Analogien zwischen fußballerischen Spielweisen und ernsteren (und gefährlicheren) Dingen oder auch nationalen Charaktereigenschaften scheint doch einfach zu verlockend zu sein. Hier in den Niederlanden gibt es zum Glück noch ein paar Stimmen, die diesen Blick auch einmal auf die eigene Mannschaft und die eigene derzeitige geistige Einstellung im Land richten: “Hört Van Marwijk, und ihr hört Wilders”, lautet die Schlagzeile eines Artikels im Rotterdamer NRC Handelsblad. “Nur wenige Wochen nach dem Wahlerfolg von Wilders legt Oranje ein Spiel an den Tag, das meilenweit entfernt ist von der fortschrittlichen Bravour, mit der ganze Generationen aufgewachsen sind... Man höre nur, wie der Trainer von Disziplin spricht, die Rufe nach einer strengen Hand. Und man höre, was Wilders sagt.”
Wenn das so ist, kann man der deutschen Mannschaft mit ihrer fortschrittlichen Bravour ja nur alles Gute wünschen, im Endspiel.
Aber so offen wollen wir Deutsche (im Unterschied etwa zu Brasilien, Maradona und der oranje elftaal) ja heutzutage keine Titelaspirationen anmelden. Die Mannschaft deutet da eher durch Zahlenspiele etwas an: 4:0 gegen Australien, 4:1 gegen England, 4:0 gegen Argentinien -- kann das etwas anderes heißen als: wir wollen den 4. Titel?
Raphael Honigstein von Sports Illustrated, der offenbar eine ganze Menge von Fußball in Deutschland weiß, hat im Zusammenhang mit Jogi Löw eine bedenkenswerte Nebenbemerkung fallen gelassen: "The whole of Germany is at his feet, grateful for much more than reaching the third semifinal in a row (in 2006, he was Jurgen Klinsmann's assistant): Löw has rebranded, nay: reconstructed the team into a side that neutrals enjoy watching. In doing so, he has fulfilled a deep-seated need of his countrymen: after being feared (war) and grudgingly respected for their achievements (post-war) they desperately wanted to be liked. And that doesn't just go for the soccer."
“Argentina kissed good-bye its 2010 World Cup South Africa dreams after falling strongly in one of the saddest chapters of our history in this tournaments”, faßte der in Englisch erscheinende Buenos Aires Herald die Trauer in Argentinien zusammen, aber insgesamt hat die argentinische Presse die Niederlage erstaunlich sachlich und gelassen hingenommen.
clarín, ebenfalls aus Buenos Aires, titelt zwar: “Klose, unser Scharfrichter gestern und heute”, analysiert dann in einem weiteren Artikel aber nüchtern “10 Gründe für unser Ausscheiden”, und nennt an erster Stelle die Unfähigkeit und das Versagen Maradonas als Trainer. “Die Spieler haben gelernt, daß es den Weihnachtsmann nicht gibt, Maradona ist wieder zu einem gewöhnlichen Sterblichen geworden.”
pagina 12 haut in die gleiche Kerbe. Das einzige, wozu man der argentinischen Mannschaft gratulieren könne, sei, daß sie nun gezeigt habe, daß sie doch verlieren könne. Ansonsten habe sie schon gegen Mexiko erkennen lassen, daß sie mit taktisch disziplinierten und gut eingestellten Gegnern nicht zurechtkomme, weil sie selbst keine taktische Vorbereitung erhalten habe. Letzten Endes müsse man aber auch schlicht einmal die Überlegenheit eines Gegner anerkennen: “Die Deutschen haben einfach sehr gut gespielt.”
Die Karikatur aus pagina 12besagt: "Die Deutschen sind undankbar. Wo sind sie denn hingegangen, als sie sich verstecken mußten...?"
Vaya con dios, Senor Maradona. Rosenkranzbeten ist eben doch keine überlegene Taktik.
Jetzt kann er sich in Ruhe einen dritten und vierten Arm wachsen lassen, um noch mehr Protzuhren gleichzeitig zu tragen.
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Donnerstag, 1. Juli 2010
Der Entomologe
“Ich spreche natürlich von der Welt der großen Städte”, hielt Miller über sein Schreiben im Wendekreis des Krebses fest, “von der Welt der Männer und Frauen, denen die Maschine den letzten Tropfen Saft ausgepreßt hat.” Und wenig später, wir befinden uns im Jahr 1933, überfällt ihn die Vision einer neu heraufdämmernden Ära:
Nach dem deutschen Überfall auf Polen Anfang September 1939 hatten, wie bekannt, die Westmächte England und Frankreich Hitlers Deutschem Reich den Krieg erklärt, ohne allerdings ernsthafte Kampfhandlungen aufzunehmen. Erst ein halbes Jahr später kam es zu einem militärischen Wettlauf zwischen Engländern und Deutschen um die Besetzung Norwegens, das die Wehrmacht binnen eines Monats zu ihren Gunsten entschied. Daraufhin befahl Hitler am 10. Mai 1940 den Angriff auf die Beneluxländer und Frankreich. Bei dem auf alliierter Seite für unmöglich gehaltenen deutschen Vorstoß durch die Ardennen („Les Ardennes sont impérmeables aux chars!“) führte auch ein schon im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Hauptmann seine Kompanie hinter den schnellen Panzerspitzen nach Westen. Am 23. Mai 1940 überschritt seine Infanterieeinheit die Grenze nach Luxemburg, zwei Tage später kampierten sie im belgischen Ardennenstädtchen Neufchâteau. “Die Stadt macht einen anarchischen Eindruck. Der größte Teil der Einwohner ist geflüchtet... Ich teilte Nachtstreifen zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein und unterrichtete die Mannschaft nochmals darüber, daß kein Grad der Zerstörung Übergriffe in Dingen des Eigentums rechtfertigen kann”, trug er in das Tagebuch ein, das er führte, so oft ihm der Vormarsch Zeit dazu ließ.
Einer seiner Offiziere hat später ergänzt, der Kompaniechef habe ihm damals eingeschärft: “Betreten Sie stets jedes Haus, als sei es Ihr eigenes, und denken Sie an die Möglichkeit, daß Sie in die gleiche Lage wie diese Unglücklichen kommen können.”
Am nächsten Tag passierten sie die Grenze zu Frankreich und erreichten Sedan, wo zwei Wochen vorher 60.000 Mann eines deutschen Armeekorps unter General Guderian auf einer Pontonbrücke die Maas überschritten hatten.
“Das Haus, das ich bezogen habe, ist insofern angenehm, als es nur eine Gartenfront besitzt und schwer zu finden ist. Es liegt am Ufer der Yèvre, eines stillen und reich verzweigten Flüßchens, von dessen Grunde die Wasserpflanzen leuchten und das von überhängenden Bäumen beschattet ist. Vor der Veranda grünt ein Rasenplatz; er ist von dichten Büschen eingefaßt und gegen das Wasser durch eine Rampe von Schwertlilien geschirmt... In diesem stillen, wie von einer Wildnis eingerahmten Garten nehme ich mittags lesend ein Sonnenbad, und abends nach dem Essen befahre ich das Flüßchen, in dem Forellen spielen, mit dem Kanu.”
In dieser Idylle der Etappe kam er auch endlich dazu, seine unterwegs aufgesammelten Funde zu sortieren, die ihn vielleicht mehr als vieles andere erkennen ließen, daß er sich in einem fremden Land befand.
“Was mich betrifft, so lese ich manches davon auch an den Insekten ab, an ihren neuen Formen und an der Art, in der sich das Verhältnis der Gattungen verschiebt. Übrigens ordnete ich heute einige Prisen ein, die ich auf dem Vormarsch aufgriff.” –
Moment! Da kämpfen auf einem riesigen Schlachtfeld, das von Rhein, Maas und Mosel bis an den Atlantik reicht, mehr als 5 Millionen Soldaten mit dem damals modernsten Vernichtungsgerät in einem verheerenden, bis dahin unvorstellbar rasant voranschreitenden Krieg, in dem in nur fünf Wochen mehr als 500.000 Soldaten fallen oder verwundet werden, da werden ganze Städte, wie Rotterdam, in Schutt und Asche gebombt mit Tausenden von zivilen Opfern, überall entlang der Vormarschstraßen herrschen Chaos und Vernichtung, stehen rauchende Trümmer, liegen verwesende tote Menschen und Tiere; und mittendrin sammelt ein Offizier auf dem Vormarsch Käfer und Schmetterlinge. Kann man sich das vorstellen? Ist das nicht zu grotesk und absurd, um wahr zu sein?
“Das Paradoxe solcher Geschäfte inmitten der Katastrophen ist mir nicht entgangen, doch fand ich es zugleich beruhigend – es verrät sich darin ein Vorrat an Stabilität, selbst der zivilisatorischen Verhältnisse. Außerdem habe ich seit 1914 im gefährlichen Raum zu arbeiten gelernt.” – Arbeiten. Meint er damit das “Handwerk des Krieges” oder das Käfersammeln? Leidet da jemand an einer posttraumatischen Belastungsstörung, oder ist er ein kaltschnäuziger Hund? Oder ist er tatsächlich so kaltblütig?
Persönlicher Mut bis zur Verwegenheit ist tatsächlich das Letzte, was man diesem Mann absprechen kann. Am Mittag seines 45. Geburtstags Ende März 1940 waren im Bereich seiner Kompanie, die noch am Westwall in Stellung lag, zwei Frontneulinge leichtsinnig aus der Deckung zum Rheinufer hinabgegangen und unter Feuer genommen worden. “Die beiden Artilleristen blieben auf der grünen Böschung liegen, die weithin sichtbar ist. Nachdem ich den Ort besichtigt hatte, beschloß ich, die beiden zu bergen... ich fühlte mich dazu aufgelegt.” Trotz heftigen Dauerbeschusses durch ein überschweres Maschinengewehr gelang es ihm, den einen von den beiden verletzt, aber noch lebend zu bergen. (Wenig später erhielt er zu seinen Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg für diesen mutigen Einsatz noch das Eiserne Kreuz verliehen. Auf seine Handlungen und Haltungen, die vielleicht noch sehr viel mehr Mut verlangten, komme ich später zu sprechen.) Immer wieder gab er in seinen Schriften der Überzeugung, die er nicht zuletzt in den Menschenmassen verschlingenden Materialschlachten des I. Weltkriegs gewonnen hatte, Ausdruck, daß auch der Einzelne nicht nur Erleidender eines Schicksals ist, sondern durch seine Haltung, seine Handlungen und vor allem durch seine geistige Einstellung die Verhältnisse um sich selbst mitgestaltet. Verwundet wurde er oft genug, allein im I. Weltkrieg elfmal, aber trotzdem (oder gerade deswegen) glaubte er offenbar an so etwas wie seine Aura persönlicher Unbesiegbarkeit, so lange er die entsprechende Haltung bewahrte. “Lehrreich” fand er den Vorfall, als ein französischer Soldat “im Priesterwalde, 1917 im Morgennebel, die Handgranate nach mir warf. Das bestärkte mich in dem Entschluß, mich niemals zu ergeben, dem ich bereits im Weltkrieg treu geblieben bin. In jeder Waffenstreckung liegt auch ein unverbesserlicher Akt, von dem die Urkraft des Kämpfers betroffen wird.”
Und noch im Frieden hielt er im Tagebuch für sich fest, es sei “sehr wichtig, daß man bei verdächtigen Renkontres, etwa wenn man im Wald angesprochen wird, die Sicherheit bewahrt. In unserer Eigenschaft als Menschen verfügen wir über Hoheitssiegel, die schwer zu brechen sind, wenn wir sie nicht selbst beschädigen... Man muß nur wissen, wie Marius, daß man unverletzlich ist.”
Der Zwischenfall am Rhein (und die anschließende Auszeichnung) machte ihm “übrigens die Spanne besonders deutlich, die für mich zwischen dem Ersten und diesem Zweiten Weltkrieg liegt. Damals die hohen Orden für die Erlegung von Gegnern, heute das Bändchen für einen Rettungsgang”, schrieb er am 23.6.40 ins Tagebuch. “Das Geheimnisvolle an solchem Wechsel liegt darin, daß er Veränderungen in unserem Innern entspricht - wir bilden uns die Welt, und was wir erleben, ist nicht dem Zufall untertan. Die Dinge werden durch unseren Zustand angezogen und ausgewählt: die Welt ist so, wie wir beschaffen sind. Jeder von uns vermag also die Welt zu ändern – das ist die ungeheure Bedeutung, die den Menschen verliehen ist. Und daher ist es auch so wichtig, daß wir an uns arbeiten.”
Der Appell klingt wie eine fast magische Beschwörung, vor allem wenn man weiß, daß der gleiche Mann eine Studie vorgelegt hat, in der er, wie Henry Miller oder die Futuristen, das 20. Jahrhundert als eine Epoche der Maschinisierung des gesamten Lebens zeichnete, die den Menschen weitgehend entindividualisiere. (Der Völkische Beobachter geiferte in seiner Rezension vom 23.10.1932, der Autor gerate allmählich in die “Sphäre der Kopfschüsse”.) Nichtsdestotrotz hat er den Appell, an sich zu arbeiten, immer wieder auch an sich selbst gerichtet, und in wesentlichen Dingen war er längst nicht mehr derselbe Mann, der wie Millionen andere voller Abenteuerlust freiwillig in den Ersten Weltkrieg gezogen war. Den Zweiten hat er niedergedrückt und voller Befürchtungen kommen gesehen. “Alle Zeichen deuten auf Krieg in kurzer Zeit”, notierte er ein halbes Jahr vor dem Überfall auf Polen und hielt danach oft genug Träume (von seiner eigenen Hinrichtung etwa) und Stimmungen in seinem Tagebuch fest, die deutlich genug von Sorge und Gedrücktheit bis hin zur Depression künden. Sein Tagebuch bleibt ihm “im totalen Staat das letzte mögliche Gespräch”, wie er später im Vorwort festhielt. “Das sind Notizen auf der Fahrt durch Meere, in denen der Sog des Malstroms fühlbar wird und Ungeheuer auftauchen.” Ausgerechnet die Wehrmacht scheint ihm fast als so etwas wie eine Zuflucht vor den Ungeheuern vorgekommen zu sein, und er mag sie für sich paradoxerweise als so etwas wie das ruhige Auge im Sturm empfunden haben. Jedenfalls solange der “Sitzkrieg” am Westwall noch nicht in Bewegung geraten war. “Mein Ehrgeiz, soweit er sich auf militärische Dinge richtet, ist heute erloschen; und damit lebe ich in einem Zustand der Selbstgenügsamkeit”, schrieb er im März 1940 einem Freund aus dem Gefechtsstand, seiner “Auwaldhütte” am Altrhein bei Iffezheim. Und ohne Rücksicht auf die Zensur der Feldpost fuhr er fort:
"The earth is moving out of its orbit, the axis has shifted; from the north the snow blows down in huge knife-blue drifts... A new day is dawning, a metallurgical day, when the earth shall clink with showers of bright yellow ore... at the periphery the light waves bend and the sun bleeds like a broken rectum. – More and more the world resembles an entomologist‘s dream.”Nur wenige Jahre später sollte wirklich ein Entomologe, ein Käferbetrachter, seinen Einzug oder, genauer, seinen Einmarsch in Paris halten.
Nach dem deutschen Überfall auf Polen Anfang September 1939 hatten, wie bekannt, die Westmächte England und Frankreich Hitlers Deutschem Reich den Krieg erklärt, ohne allerdings ernsthafte Kampfhandlungen aufzunehmen. Erst ein halbes Jahr später kam es zu einem militärischen Wettlauf zwischen Engländern und Deutschen um die Besetzung Norwegens, das die Wehrmacht binnen eines Monats zu ihren Gunsten entschied. Daraufhin befahl Hitler am 10. Mai 1940 den Angriff auf die Beneluxländer und Frankreich. Bei dem auf alliierter Seite für unmöglich gehaltenen deutschen Vorstoß durch die Ardennen („Les Ardennes sont impérmeables aux chars!“) führte auch ein schon im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Hauptmann seine Kompanie hinter den schnellen Panzerspitzen nach Westen. Am 23. Mai 1940 überschritt seine Infanterieeinheit die Grenze nach Luxemburg, zwei Tage später kampierten sie im belgischen Ardennenstädtchen Neufchâteau. “Die Stadt macht einen anarchischen Eindruck. Der größte Teil der Einwohner ist geflüchtet... Ich teilte Nachtstreifen zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein und unterrichtete die Mannschaft nochmals darüber, daß kein Grad der Zerstörung Übergriffe in Dingen des Eigentums rechtfertigen kann”, trug er in das Tagebuch ein, das er führte, so oft ihm der Vormarsch Zeit dazu ließ.
Einer seiner Offiziere hat später ergänzt, der Kompaniechef habe ihm damals eingeschärft: “Betreten Sie stets jedes Haus, als sei es Ihr eigenes, und denken Sie an die Möglichkeit, daß Sie in die gleiche Lage wie diese Unglücklichen kommen können.”
Am nächsten Tag passierten sie die Grenze zu Frankreich und erreichten Sedan, wo zwei Wochen vorher 60.000 Mann eines deutschen Armeekorps unter General Guderian auf einer Pontonbrücke die Maas überschritten hatten.
“Das Ganze ist ein ungeheures Foyer des Todes, dessen Durchschreitung mich gewaltig erschütterte. In einem früheren Abschnitt meiner geistigen Entwicklung versenkte ich mich oftmals in Visionen einer völlig ausgestorbenen und menschenleeren Welt, und ich will nicht bestreiten, daß diese dunklen Träumereien mir Genuß bereiteten. Hier sehe ich die Idee verwirklicht und möchte glauben, daß, wenn auch die Soldaten fehlten, der Geist sehr bald gestört sein würde –Mitte Juni, Paris war gerade von deutschen Truppen eingenommen worden, erreichte das Regiment des Hauptmanns das Dorf Montmirail in der Champagne, cirka hundert Kilometer östlich von Paris. “Montmirail ist das Schloß von Larochefoucauld, und es bedeutet für mich, zu dessen eiserner Ration seit langem auch die ‘Maximen‘ zählen, einen Akt der geistigen Dankbarkeit, zu erhalten, was zu erhalten ist. Daher ließ ich es gleich unter Bewachung stellen und begann mit der Aufräumung”, notierte der literarisch interessierte Infanteriehauptmann. Als der Abschluß des Waffenstillstands zwischen der Regierung Pétain und dem Deutschen Reich bekannt wurde, lag seine Kompanie in der geographischen Mitte Frankreichs, in Bourges.
ich fühlte schon in diesen beiden Tagen, wie der Anblick der Vernichtung an seinen Angeln hob.”
“Das Haus, das ich bezogen habe, ist insofern angenehm, als es nur eine Gartenfront besitzt und schwer zu finden ist. Es liegt am Ufer der Yèvre, eines stillen und reich verzweigten Flüßchens, von dessen Grunde die Wasserpflanzen leuchten und das von überhängenden Bäumen beschattet ist. Vor der Veranda grünt ein Rasenplatz; er ist von dichten Büschen eingefaßt und gegen das Wasser durch eine Rampe von Schwertlilien geschirmt... In diesem stillen, wie von einer Wildnis eingerahmten Garten nehme ich mittags lesend ein Sonnenbad, und abends nach dem Essen befahre ich das Flüßchen, in dem Forellen spielen, mit dem Kanu.”
In dieser Idylle der Etappe kam er auch endlich dazu, seine unterwegs aufgesammelten Funde zu sortieren, die ihn vielleicht mehr als vieles andere erkennen ließen, daß er sich in einem fremden Land befand.
“Was mich betrifft, so lese ich manches davon auch an den Insekten ab, an ihren neuen Formen und an der Art, in der sich das Verhältnis der Gattungen verschiebt. Übrigens ordnete ich heute einige Prisen ein, die ich auf dem Vormarsch aufgriff.” –
Moment! Da kämpfen auf einem riesigen Schlachtfeld, das von Rhein, Maas und Mosel bis an den Atlantik reicht, mehr als 5 Millionen Soldaten mit dem damals modernsten Vernichtungsgerät in einem verheerenden, bis dahin unvorstellbar rasant voranschreitenden Krieg, in dem in nur fünf Wochen mehr als 500.000 Soldaten fallen oder verwundet werden, da werden ganze Städte, wie Rotterdam, in Schutt und Asche gebombt mit Tausenden von zivilen Opfern, überall entlang der Vormarschstraßen herrschen Chaos und Vernichtung, stehen rauchende Trümmer, liegen verwesende tote Menschen und Tiere; und mittendrin sammelt ein Offizier auf dem Vormarsch Käfer und Schmetterlinge. Kann man sich das vorstellen? Ist das nicht zu grotesk und absurd, um wahr zu sein?
“Das Paradoxe solcher Geschäfte inmitten der Katastrophen ist mir nicht entgangen, doch fand ich es zugleich beruhigend – es verrät sich darin ein Vorrat an Stabilität, selbst der zivilisatorischen Verhältnisse. Außerdem habe ich seit 1914 im gefährlichen Raum zu arbeiten gelernt.” – Arbeiten. Meint er damit das “Handwerk des Krieges” oder das Käfersammeln? Leidet da jemand an einer posttraumatischen Belastungsstörung, oder ist er ein kaltschnäuziger Hund? Oder ist er tatsächlich so kaltblütig?
Persönlicher Mut bis zur Verwegenheit ist tatsächlich das Letzte, was man diesem Mann absprechen kann. Am Mittag seines 45. Geburtstags Ende März 1940 waren im Bereich seiner Kompanie, die noch am Westwall in Stellung lag, zwei Frontneulinge leichtsinnig aus der Deckung zum Rheinufer hinabgegangen und unter Feuer genommen worden. “Die beiden Artilleristen blieben auf der grünen Böschung liegen, die weithin sichtbar ist. Nachdem ich den Ort besichtigt hatte, beschloß ich, die beiden zu bergen... ich fühlte mich dazu aufgelegt.” Trotz heftigen Dauerbeschusses durch ein überschweres Maschinengewehr gelang es ihm, den einen von den beiden verletzt, aber noch lebend zu bergen. (Wenig später erhielt er zu seinen Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg für diesen mutigen Einsatz noch das Eiserne Kreuz verliehen. Auf seine Handlungen und Haltungen, die vielleicht noch sehr viel mehr Mut verlangten, komme ich später zu sprechen.) Immer wieder gab er in seinen Schriften der Überzeugung, die er nicht zuletzt in den Menschenmassen verschlingenden Materialschlachten des I. Weltkriegs gewonnen hatte, Ausdruck, daß auch der Einzelne nicht nur Erleidender eines Schicksals ist, sondern durch seine Haltung, seine Handlungen und vor allem durch seine geistige Einstellung die Verhältnisse um sich selbst mitgestaltet. Verwundet wurde er oft genug, allein im I. Weltkrieg elfmal, aber trotzdem (oder gerade deswegen) glaubte er offenbar an so etwas wie seine Aura persönlicher Unbesiegbarkeit, so lange er die entsprechende Haltung bewahrte. “Lehrreich” fand er den Vorfall, als ein französischer Soldat “im Priesterwalde, 1917 im Morgennebel, die Handgranate nach mir warf. Das bestärkte mich in dem Entschluß, mich niemals zu ergeben, dem ich bereits im Weltkrieg treu geblieben bin. In jeder Waffenstreckung liegt auch ein unverbesserlicher Akt, von dem die Urkraft des Kämpfers betroffen wird.”
Und noch im Frieden hielt er im Tagebuch für sich fest, es sei “sehr wichtig, daß man bei verdächtigen Renkontres, etwa wenn man im Wald angesprochen wird, die Sicherheit bewahrt. In unserer Eigenschaft als Menschen verfügen wir über Hoheitssiegel, die schwer zu brechen sind, wenn wir sie nicht selbst beschädigen... Man muß nur wissen, wie Marius, daß man unverletzlich ist.”
Der Zwischenfall am Rhein (und die anschließende Auszeichnung) machte ihm “übrigens die Spanne besonders deutlich, die für mich zwischen dem Ersten und diesem Zweiten Weltkrieg liegt. Damals die hohen Orden für die Erlegung von Gegnern, heute das Bändchen für einen Rettungsgang”, schrieb er am 23.6.40 ins Tagebuch. “Das Geheimnisvolle an solchem Wechsel liegt darin, daß er Veränderungen in unserem Innern entspricht - wir bilden uns die Welt, und was wir erleben, ist nicht dem Zufall untertan. Die Dinge werden durch unseren Zustand angezogen und ausgewählt: die Welt ist so, wie wir beschaffen sind. Jeder von uns vermag also die Welt zu ändern – das ist die ungeheure Bedeutung, die den Menschen verliehen ist. Und daher ist es auch so wichtig, daß wir an uns arbeiten.”
Der Appell klingt wie eine fast magische Beschwörung, vor allem wenn man weiß, daß der gleiche Mann eine Studie vorgelegt hat, in der er, wie Henry Miller oder die Futuristen, das 20. Jahrhundert als eine Epoche der Maschinisierung des gesamten Lebens zeichnete, die den Menschen weitgehend entindividualisiere. (Der Völkische Beobachter geiferte in seiner Rezension vom 23.10.1932, der Autor gerate allmählich in die “Sphäre der Kopfschüsse”.) Nichtsdestotrotz hat er den Appell, an sich zu arbeiten, immer wieder auch an sich selbst gerichtet, und in wesentlichen Dingen war er längst nicht mehr derselbe Mann, der wie Millionen andere voller Abenteuerlust freiwillig in den Ersten Weltkrieg gezogen war. Den Zweiten hat er niedergedrückt und voller Befürchtungen kommen gesehen. “Alle Zeichen deuten auf Krieg in kurzer Zeit”, notierte er ein halbes Jahr vor dem Überfall auf Polen und hielt danach oft genug Träume (von seiner eigenen Hinrichtung etwa) und Stimmungen in seinem Tagebuch fest, die deutlich genug von Sorge und Gedrücktheit bis hin zur Depression künden. Sein Tagebuch bleibt ihm “im totalen Staat das letzte mögliche Gespräch”, wie er später im Vorwort festhielt. “Das sind Notizen auf der Fahrt durch Meere, in denen der Sog des Malstroms fühlbar wird und Ungeheuer auftauchen.” Ausgerechnet die Wehrmacht scheint ihm fast als so etwas wie eine Zuflucht vor den Ungeheuern vorgekommen zu sein, und er mag sie für sich paradoxerweise als so etwas wie das ruhige Auge im Sturm empfunden haben. Jedenfalls solange der “Sitzkrieg” am Westwall noch nicht in Bewegung geraten war. “Mein Ehrgeiz, soweit er sich auf militärische Dinge richtet, ist heute erloschen; und damit lebe ich in einem Zustand der Selbstgenügsamkeit”, schrieb er im März 1940 einem Freund aus dem Gefechtsstand, seiner “Auwaldhütte” am Altrhein bei Iffezheim. Und ohne Rücksicht auf die Zensur der Feldpost fuhr er fort:
“Ich fechte aus einem Bedürfnis nach Sauberkeit. Wo gefochten wird, darf man noch hoffen, am wenigsten jenen Menschen zu begegnen, deren Nähe so widrig ist. Ich habe schon das Wort ‘deutsch‘ aus allen meinen Büchern gestrichen, damit ich es nicht mit jenen teilen muß.”
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