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Dienstag, 2. Dezember 2008
Notenbank besetzt
Ob das mit dem Ärmelaufkrempeln der Isländer klappt, bezweifelt Jean Stubenzweig in seinem Kommentar hier (vielen Dank dafür übrigens) und bekommt jetzt Zustimmung von einem der knorzigen Querdenker aus der isländischen Historikerzunft. Wie die neu gegründete isländischen Netzeitung Nei. meldet, erklärte Professor Gísli Gunnarsson von der Universität Islands kürzlich die angebliche Tüchtigkeit der Isländer zu einer bloßen Legende. In seiner unnachahmlich brummeligen Art (ich kenne ihn noch von früher) sagte er: “Jahrhundertelang haben sich die Isländer auf ihren Höfen von Januar bis April die Decke oder ein Fell über den Kopf gezogen und sind im Bett liegen geblieben. Glücklich, wer eine Tranfunzel und ein paar Bücher sein Eigen nannte oder selbst Verse schmieden konnte.”

Aber aus der Lethargie jener dunklen alten Zeiten sind die Leute dort oben nahe dem Polarkreis spätestens durch den Beinahezusammenbruch ihrer gesamten Volkswirtschaft aufgeschreckt worden. Auf den nach wie vor stattfindenden Protestversammlungen wird der Ton immer schärfer. Nach neuesten Umfragen wollen mehr als siebzig Prozent aller Isländer den Rücktritt der Regierung und sofortige Neuwahlen. Ein im Althing eingebrachtes Mißtrauensvotum hat die große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten mit ihrer Mehrheit im Parlament letzte Woche dickfellig abgelehnt. Ministerpräsident Geir Hilmar Haarde will die tiefe Krise seiner Regierung offenbar nach dem Muster seines ihm an Statur noch überlegenen Vorbilds Helmut “Birne” Kohl “aussitzen”. Die Tüchtigkeit der Isländer wird sich daran messen lassen, ob sie es schaffen, die Regierung Haarde doch vorzeitig aus ihren Amtsräumen im ehemaligen Gefängnis am Lækjartorg zu jagen.
Letzte Woche ließen die Veranstalter der Kundgebungen vor dem Parlament eine junge Jurastudentin namens Katrín Oddsdóttir ans Mikrophon. Unter dem Jubel der Anwesenden donnerte sie aus den Lautsprechern: “Du verbietest uns nicht, zu wählen, Geir Hilmar! Wenn ihr uns daran hindern wollt, unserem Willen in der Wahlkabine Ausdruck zu verleihen, dann werden wir auf andere Weise abstimmen. Wir werden wählen, indem wir auswandern, indem wir die Gesetze brechen, die ihr im Widerspruch zur Verfassung erlassen habt, mit vielen Streiks, mit Demonstrationen und, wenn es denn nötig ist, indem wir euch aus den öffentlichen Gebäuden hinausprügeln, in denen ihr nichts mehr zu suchen habt!... Die Regierung muß zurücktreten... und dann muß gewählt werden. Friedliche Proteste eignen sich gut für friedliche Zeiten. Hier aber wurde ein Angriff auf die Grundrechte verübt, die unsere Verfassung schützt, und das ist gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung an das Volk in diesem Land. Und deswegen sage ich: Die Regierung bekommt eine Woche Zeit, um Neuwahlen auszuschreiben und ihr Unvermögen zu bekennen, uns aus der Krise zu führen, in die sie uns gebracht hat. Wenn nicht, werden wir, das Volk, das Parlament besetzen, das Regierungsgebäude und die Ministerien, und wir werden die Verantwortlichen hinaus prügeln.”

Gestern hatten die Demonstranten wieder zu einer Versammlung gerufen. An einem normalen Werktag diesmal, an dem die Leute zur Arbeit müssen. Aber eben doch nicht an einem ganz normalen Arbeitstag. Am 1. Dezember 1918 nämlich haben die jungen Vorkämpfer für die Unabhängigkeit Islands der Regierung in Kopenhagen die Autonomie und Selbstverwaltung der Insel abgerungen und seine Anerkennung als eigener Teil der dänischen Krone in einer Personalunion mit dem dänischen Königshaus. Seitdem wird der 1. Dezember als eine Art halboffizieller Unabhängigkeitstag gefeiert. Gestern nun kamen weniger Menschen zur Kundgebung als am Wochenende davor, doch dafür setzte sich ein Teil der Menge spontan zur nahe gelegenen Notenbank in Bewegung, in der noch immer der inzwischen meistgehaßte Mann Islands residiert, der langjährige Regierungschef Davíð Oddson.

Offenbar wollte sie mit der von Katrín Oddsdóttir ausgerufenen Drohung Ernst machen, die Verantwortlichen nötigenfalls aus ihren Bunkern zu holen.
Die zum Objektschutz eingesetzte Polizeistaffel zog erstaunlicherweise ab, als gut 200 Demonstranten anmarschierten. Nach einer Viertelstunde nur konnte ein Teil der Menge tatsächlich ungehindert ins Foyer der Notenbank eindringen. (Ich versuche, mir Ähnliches vor der EZB in Frankfurt vorzustellen, aber irgendwie will es mir nicht gelingen.) In der Zwischenzeit hatte drinnen, hinter einer Trennscheibe, eine weitere Neuerung in Island Stellung bezogen: schwer gepanzerte Bürgerkriegspolizei. Als sie den Einsatz von Tränengas androhte, hoben die Leute die Hände und setzten sich auf den Boden. Anderthalb Stunden saßen sie in dieser Pattsituation und forderten mit Sprechchören den Abgang von Davíð Oddson, der sich derweil leiseweinend durch die Tiefgarage verdrückte. Am Ende wollte die Polizei räumen lassen. Doch die Demonstranten erklärten, wenn die Polizei zuerst abzöge, würden sie die Bank freiwillig verlassen. Tatsächlich rückte die Polizei bis auf drei Beobachter ab. Die Demonstranten gingen friedlich nach Hause. - Ein Beispiel, das Schule machen sollte, nicht wahr, Herr Bundesinnenminister?

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Donnerstag, 27. November 2008
Last helicopter out of Reykjavík
...und zurück blieb ein ruiniertes, von diesen Nadelstreifenstrauchdieben des frühen 21. Jahrhunderts um seine Ersparnisse betrogenes Volk.
Es brauchte einige Wochen, bis die Isländer aus ihrer Betäubung zu erwachen begannen. Dann gingen die ersten auf die Straße, zuerst wenige, inzwischen Tausende. Nach dem Vorbild der Leipziger Montagsdemonstrationen werden seit sieben Wochen jeden Samstag auf dem Platz vor dem Parlament Kundgebungen abgehalten. Als die regierende Clique mit der gewohnten Arroganz der Macht bloß Stillhalteparolen ausgab und weiterhin an ihren Sesseln klebte, wurde aus der Menge tatsächlich 1 Ei geworfen. “Ein einziges Ei. So verdammt angepaßt und verklemmt sind wir”, schrieb mir ein befreundeter Schriftsteller aus Island wütend. “Aus Angst, uns lächerlich zu machen, trauen wir uns nicht, unsere Wut rauszulassen.”
Aber das sollte sich ändern.
Was bis dahin geschehen war, resümierte der nicht nur in Island für sein freches Schandmaul bekannte Schriftsteller Hallgrimur Helgason in seinem Blog und forderte den Rücktritt der Regierung:
“Wir haben niemals gescheite Geschäftsleute gehabt, in tausend Jahren nicht, und erst recht niemanden, der in anderen Ländern irgendwelche Siege errang. Fünfhundert Jahre lang haben uns dänische Kaufleute unterdrückt. Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert durfte Island die langersehnte Handelsfreiheit feiern. Da kamen die Kälber aus dem Stall gelaufen und hopsten schnaubend ungelenk über die offene Weide. Mit Reife war es natürlich nicht weit her, und so kam es, wie es kommen mußte. Ein sieben Jahre alter Aktienmarkt verhielt sich, wie sich ein Siebenjähriger eben aufführt: Die ersten Firmen, die wir im Ausland aufkauften, waren englische Süßigkeiten- und Spielwarenläden. Danach investierten wir in Rennautos... Hoffentlich lernen wir aus dieser Erfahrung. Und werden erwachsen.
Am Morgen des 29. September wurden wir früh geweckt. Glitnir war verstaatlicht. Und zu den schlechten Nachrichten über den Bankenbankrott kam noch die unglaubliche Tatsache, daß Davíð immer noch im Amt war. Dabei hatte der Notenbankchef sich einfach über den Ministerpräsidenten hinweggesetzt. Geir hockte irgendwo in einer Ecke, als Davíð die Übernahme von Glitnir bekanntgab. Die Regierung war entmachtet worden. Die Richtigkeit dieser Maßnahme konnten wir nicht beurteilen, aber es machte schon wütend, daß der Oberrambo der Sandkastenspiele der letzten Jahre seine Widersacher nun einfach geschluckt hatte. Es kostete ihn keine Woche, sondern bloß ein einziges Wochenende, um sie “in die Knie zu zwingen” (wie er einmal angekündigt hatte). In einer Republik war ich eingeschlafen und in einer Monarchie aufgewacht. Man versuchte dem Ministerpräsidenten Dampf zu machen, aber es zeigte sich immer deutlicher, daß er eher selbst zurücktreten als seinen Boss schassen würde. Denn das würde die Partei spalten, und die Zukunft der konservativen Partei ist diesen Männern wichtiger als die Zukunft des Landes. Darum müssen sie zurücktreten.

Jetzt erkennen wir, daß die ökonomische Expansion der letzten Jahre mehr mit dem Ego ihrer Leithämmel zu tun hatte als mit echten Erfolgen, dem Auf- und Ausbau des Landes. Ihre Hinterlassenschaften sind erbärmlich. Kein einziges starkes Unternehmen, das etwas produziert, kein Werk von Menschenhand, keine anständige Infrastruktur. Lediglich eine nicht einmal halb fertiggestellte Konzerthalle, ein paar Betonklötze auf Borgartún und ein paar Dutzend Luxusautos, die das Stadtbild zieren. Wir möchten alle laut losbrüllen, aber bis jetzt haben wir überwiegend an uns gehalten. Wir möchten alle etwas tun, und jetzt ist die Gelegenheit dazu. Wir können damit anfangen, uns heute um 15 Uhr auf dem Austurvöllur zu versammeln und zu fordern, dass die Regierenden etwas anderes sagen als: ‛Das ist eine gute Frage.' Der Rücktritt von Geir und Davíð ist ein unumgänglicher Beginn für das, was danach kommen soll. Danach hören wir uns das Heulen und Zähnefletschen der Reichen an. Und dann krempeln wir die Ärmel auf und bauen eine neue und gerechtere Gesellschaft.”

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Dienstag, 25. November 2008
Istanic. Die Volkswirtschaft, die nicht untergehen konnte
Wie schnell sich die Wahrnehmung eines ganzen Landes ändern kann! Woran dachten Sie bis vor kurzem bei Island? Vulkane & Geysire, unberührte wilde Natur, Islandpferde, Wikinger, Walfang... Als auf der Feier am Wochenende bekannt wurde, daß ich einiges mit Island zu tun habe, kam als erste Frage stets: “Und, hatten Sie auch ein Konto in Island?”

Island heute? “The victim of an economic 9/11", hieß es zuletzt in der Financial Times. “The Icelandic krona’s freeze in the capital markets had now spilled over into the day-to-day transactions of Icelanders abroad. Holidaymakers and business travellers venturing “til Útlanda”, as it is called, found their credit cards refused, and those wishing to buy foreign currency could not find willing sellers, aside from one or two who limited their purchases to €200.

Iceland is the only country in the world that indexes its loans in addition to charging interest. This means that when Icelanders borrow IKr1,000 from the bank and inflation increases by 5 per cent, the bank increases their debt to IKr1,050 at the end of the year. A great deal for the bank and fine for you, too – so long as the property’s value and your salary are increasing by inflation and more. The majority of Icelandic mortgages are based on this punitive system and with inflation running at nearly 20 per cent, they will see their IKr1,000 loan turn into a IKr1,200 loan. The interest burden will increase proportionally. This is bad enough, but when coupled with falling house prices, it means that many face a particularly savage variety of negative equity. The impact on highly geared borrowers, which in practice means most Icelanders, would be hard enough even with two incomes, but with unemployment set to soar, many households are going to go under.

Picture a pig trying to balance on a mouse’s back and you’ll get some idea of the scale of the problem. In a mere seven years since bank deregulation and privatisation, Iceland’s financial institutions had managed to rack up $75bn of foreign debt. Iceland’s banks borrowed more than $250,000 for every man, woman and child in Iceland, and placed an impossible burden on the modest reserves of the central bank in the event of default. And default they have.”

Der finanzielle Schaden ist gewaltig. Für die Volkswirtschaft, aber auch für fast jeden einzelnen Haushalt in Island. Doch darüber hinaus hat er auch Schäden in der isländischen Seele hinterlassen. Isländer, erläutert der einige Jahre in Island lebende Autor des Artikels, “survived plague, famine, earthquakes and volcanoes. There were times when some even considered abandoning the island. But they stayed on. They stayed and survived. Icelanders will tell you that only the fittest survived, but that is only half the story, because survival requires another key attribute: stubbornness. And Icelanders have it in spades. It is a national trait, and they view it not as a weakness but as a virtue. It comes from experiencing hardship and enduring it. It means finding satisfaction in a simple task done well and sticking to it; finding comfort and solace in family and kinship and being bound by those familial bonds and duties. And perhaps most important of all, it means believing in the independence of the individual as part of the fabric of nationhood, and fighting for that independence. Put simply, the country has values.
And this is what sets this catastrophe apart from the earthquakes and plagues of former years. This is a man-made disaster and worse still, one made by a small group of Icelanders who set off to conquer the financial world, only to return defeated and humiliated. The country is on the verge of bankruptcy and, even more important for those of Viking stock, its international reputation is in tatters. It hurts.

Many became uncomfortable with the excesses of the Viking Raiders. The liveried private jets, the Elton John parties, the residences in St Moritz, New York and London and the yachts in St Tropez – all flaunted in Sed og Heyrt, Iceland’s equivalent of Hello! magazine – were not, and this is important, they were not Icelandic. There was a strong undertow of public opinion that felt that all this ostentatious celebration of lavish lifestyles and excess was causing the nation to disconnect from its thousand-year heritage.
One of the most telling images was the departure of Jon Ásgeir’s private jet on news that the government had nationalised Glitnir Bank (in which his investment vehicle Stodir was a leading shareholder), wiping out his shareholding and rattling the debt-burdened house of cards that is his Baugur business empire. Painted black and as sleek as a Stealth bomber, the aircraft was photographed taxiing from its hangar by Morgunbladid, a daily newspaper. Like the last helicopter out of Saigon, the departure of Ásgeir’s jet symbolised the end of an era, the last act of Iceland’s debt-fuelled spending spree.” (FT, 14.11.08)

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Montag, 24. November 2008
ßänk ju for träwelling Lufthansa and Deutsche Bahn


Seit fast einem Jahr verzichte ich auf ein Auto, organisiere ich meine Reisen und meinen Alltag mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich will jetzt nicht das schmückende Beiwort “heroisch” dafür aufbieten, aber entbehrungsreich ist dieser Verzicht zugunsten der Umwelt manchmal schon, und ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir uns die Milchmädchenrechnung über die jeweiligen Vor- und Nachteile von eigenem Auto vs. ÖPV schon aufgemacht haben; bisher immer mit dem Ausgang, die Anschaffung eines Autos noch einmal zu vertagen.
Letzte Woche nun wurde uns ein gut erhaltener Gebrauchtwagen zu einem äußerst fairen Preis angeboten. Die Probefahrt verlief zufriedenstellend. Doch da wir zum Wochenende hin noch viel zu tun hatten, baten wir uns Bedenkzeit aus. Ich mußte am Freitag beruflich nach Frankfurt, am Samstag wollten wir von Den Haag zu einer großen Feier von Freunden in der Nähe von Bremen aufbrechen. An einem Tag von Amsterdam nach Frankfurt und zurück zu fliegen, ist doch heutzutage kein Problem.
Dachte ich.
Dann folgte der von einigen frischen Windböen begleitete gewaltige Wintereinbruch von etwa 1,5 cm Neuschnee.
Als ich Freitag früh am Amsterdamer Flughafen ankam, prangten mir von der Leuchttafel in der großen Halle schon etliche Verspätungsmeldungen entgegen. Mein Flug gehörte natürlich dazu. Auch zur neu angesetzten Abflugzeit war das Flugzeug nicht einmal eingetroffen. Eine weitere Stunde später durften wir endlich einsteigen, nur um im geschlossenen Flieger zu erfahren, dass wir wegen irgendwelcher zugeteilter Zeitfenster noch eine Stunde am Boden rumsitzen durften. Nach einem seekrank machenden Schaukelflug erschien ich gegen 15 Uhr endlich in der Sitzung, die seit 10 Uhr lief.
Am Abend eilte ich mit bangen Vorahnungen zum Flughafen, denn ich mußte doch zurück, weil wir am nächsten Morgen früh mit dem Zug nach Bremen wollten. Die Schneemassen (1,5 cm) in der Stadt waren zu Matsch gefahren und geschmolzen, vom stürmischen Wind war allenfalls noch eine steife Brise zu spüren. Entsprechend und zu meiner Erleichterung meldete die Anschlagstafel keine Verspätung. Ich proceede zum gate. Auch dort alles im grünen Bereich. Aus völlig übertriebenem Sicherheitsbedürfnis frage ich zusätzlich den Lufthanseaten an der Abfertigung. "Ja, keine Probleme, die Maschine steht schon abflugbereit am Gate." Tatsächlich ist draußen vor dem Fenster eine Maschine mit dem Kranich auf der Heckflosse angedockt zu sehen. Ich bin beruhigt. Und es passiert auch nichts; gar nichts. Selbst die zum Einsteigen vorgesehene Zeit verstreicht ereignislos. Als immer mehr Menschen fragend zur Uhr gucken, knackt es im Lautsprecher und eine kleinlaute Stimme bedauert, es habe sich nun unvorhergesehen doch eine kleine Verzögerung ergeben: "Die Crew ist leider noch nicht eingetroffen." Aber ganz bestimmt werde sie ganz bald kommen, und dann gehe es sofort los. Irgend jemand lacht. Sarkastisch. Den anderen, mich eingeschlossen, schwant Übles. Aber noch wollen wir nicht alle Hoffnung fahren lassen. Eine weitere Stunde verstreicht, dann treffen plötzlich neue Passagiere ein, aus kleinen Grüppchen wird ein Pulk, aus Pulks eine Menge. Bald stellt sich heraus, es sind Leute, die schon für die nächste Maschine abgefertigt werden wollen. Leichtes Chaos breitet sich aus. Der Mann am Schalter ist selbst verwirrt, greift zum Telefonhörer und dreht der ihn überfordernden Welt den Rücken zu. Tickets und Boardingpässe werden ihm unter die Nase gewedelt. Per Lautsprecher erklärt er den Neuankömmlingen schließlich, sie müßten sich noch gedulden, bis die Maschine nach Amsterdam abgefertigt sei. Als sich die Aufregung endlich etwas legt, hört man sein Telefon klingeln. Er hebt ab und wird blaß. Die Uhr tickt inzwischen auf Mitternacht zu. Er reißt sich zusammen, streicht aus seiner Stimme jede persönliche Teilnahme und teilt wie eine Ansage vom Band spröde mit: "Der Flug nach Amsterdam ist für heute soeben ersatzlos gestrichen worden. Begeben sie sich bitte zum Lufthansaschalter in Terminal A. Dort werden sie auf morgige Flüge umgebucht und erhalten einen Übernachtungsgutschein."
Großes Chaos bricht aus. Kaum eine Stunde später habe ich nach tumultuarischen Szenen vor dem Lufthansaschalter einen Hotelvoucher, ein Overnightkit mit einem hübschen Nachthemdchen, Zahnbürste, Einmalrasierer etc. erhalten, sowie eine Umbuchung auf den ersten Amsterdamflug am nächsten Morgen. Meinem Vorschlag, mich auf einen Flug direkt nach Bremen umzubuchen, konnte leider nicht entsprochen werden. Mehr als hundert Flüge wurden an diesem Tag allein in Frankfurt abgesagt, erfahre ich später. Entsprechend sieht es vor dem Flughafen aus, wo Kleinbusse Hunderte von gestrandeten müden und wütenden Fluggästen ausfahren sollen, die aus der Kälte wenigstens in ein warmes Hotelbett kommen wollen. Mir bleiben darin drei Stunden.
Als ich vom Nachtportier am Telefon aus dem Schlaf gerissen werde: “Good morning, Sir, it is Viertel vor three. You wanted a Weckruf”, rieselt vor dem Fenster gleichmäßig leiser Schneefall. Natürlich verkehrt um diese frühe Zeit noch kein Shuttlebus. Ich muß mir ein Taxi rufen lassen. Es gleitet ruhig durch die dünne Schneeschicht. Trotzdem die bange Frage. Aber: es soll geflogen werden. Nachdem die Maschine enteist ist.
Mit halbstündiger Verspätung lande ich in Schiphol, habe zum Glück kein Gepäck dabei, jogge aus dem Flughafen zum Bahnhof. Auf der Anschlagstafel: nächster Zug nach Den Haag in 2 Minuten. Stürze die Rolltreppe runter, springe in den Zug. Komme um 10.28h im Haag an, die Herzogin hat mir etwas Wäsche zum Wechseln mitgebracht, um 10.34h fährt unser Zug nach D'land. Geschafft. Ich auch ein wenig.

Bis zur Grenze geht alles fahrplanmäßig. Dahinter verkündet eine Durchsage, wir hätten einen ungeplanten Aufenthalt von 45 Minuten, weil der Gegenzug mit unserer deutschen Lok noch nicht eingetroffen sei. Armes Deutschland! Jetzt hat die Bahn schon nicht mehr Lokomotiven für jeden ihrer Züge. Nach 25 Minuten ruckt der Zug dann auf einmal doch an. Und zuckelt von Bentheim bis Rheine. Die Durchsage dort lautet: "Wegen eines Personenschadens ist die Strecke bis auf weiteres gesperrt."
Nach einer halben Stunde werden wir detailliert aufgeklärt: "Der Unfallarzt ist jetzt an der Unglücksstelle. Wenn die verunfallte Person bereits verstorben ist, wird die Wartezeit noch lange dauern. Sollte sie noch leben, wird die Strecke wahrscheinlich bald freigegeben."
Wir warten auf den Obduktionsbericht.
Plötzlich eine neue Durchsage: "Reisende Richtung Bremen und Hamburg können den Regionalzug Richtung Osnabrück auf dem übernächsten Gleis benutzen." Es kommt Leben in die Großraumwagen. Als wir den übernächsten Bahnsteig erreichen, fallen die Blätter der Anzeigetafel wie Herbstlaub vom Schicksalsbaum, und in der Ferne entschwinden ein paar Rücklichter. Der Zug ist abgefahren. Fast zeitgleich tönt von unserem alten Bahnsteig zur Eile hetzend die Durchsage herüber: "Steigen Sie bitte ein, wir können unsere Fahrt jetzt fortsetzen."
Fluchend und schimpfend erreichen wir den Zug. Ein paar ältere Damen mit schweren Koffern sind leider zurückgeblieben. Der Zug fährt ohne sie ab. Die nächste Regionalbahn nach Quakenbrück kommt bestimmt irgendwann.

Der Rückweg verlief fast störungsfrei, bis auf die drei verpassten Anschlusszüge in Holland. Unser Zug endete nämlich wegen eines Unfalls auf der Strecke irgendwo unterwegs im Schneeregen, und wir liefen am Ende mit einem Vorortzug, auf Holländisch sehr zutreffend stoptrein, spätabends in Den Haag ein. Entschlossen, um fast jeden Preis das Auto zu kaufen. Montagmorgen geht eine SMS vom Verkäufer ein: “Last weekend a technical problem arised because of which I will not sell the car to someone familiar. I am very sorry but it saves you probably a lot of money.”
Fjandinn hafi það!

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Dienstag, 18. November 2008
Gulating

So heißt es gewohnt knapp im ältesten erhaltenen Prosawerk Nordeuropas, der kurz nach 1120 verfaßten Íslendingabók von Ari fróði Þorgilsson, einer ziemlich verläßlichen und teils durch Zeugenbefragung gut informierten Quelle. “Als Island weithin besiedelt war, brachte ein Mann aus dem Osten mit Namen Úlfljótur die ersten Gesetze aus Norwegen hierher (nach Island). Man nannte sie Úlfljótsgesetze, und sie waren überwiegend denen nachgestaltet, die man damals Gulathingsgesetze nannte... und die waren auf Rat Þorleifs des Weisen, eines Sohns von Hörða-Kári, beschlossen worden.” - Warum wurden ausgerechnet Gesetze des norwegischen Gulathing zur rechtlichen Grundlage des entstehenden Freistaats in Island und keine anderen?

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Montag, 17. November 2008
Granit
Oben auf dem Bergrücken ist die Bodenschicht kaum mehr als eine Handbreit dick, meist noch dünner. Da ist sie vielerorts weggeplatzt und abgeschabt von Wind und Frost wie der Bast, den sich die Rentiere vom Geweih fegen, und blanker Fels tritt in Rippen bleich hervor wie Knochen.


Granit: Knochen der Erde. Die Menschen hier leben auf Granit. Steinhart. Stifters "Sanftes Gesetz" scheint auf den ersten Blick gar nicht zu passen, obwohl er es in Granit und Bunte Steine formuliert hat. Doch sah er im Granit vor allem das Dauerhafte, Beständige, das er so gern um sich gehabt hätte. Hier sieht man, daß nicht nur weicher Sandstein "mit tiefen Löchern von den herabfallenden Tropfen versehen" wird. Wasser höhlt auch Granit, und als Gletschereis schrammt und hobelt es tiefe Rillen und lange Riefen hinein und trägt in Sekunden der Ewigkeit ganze Berge und Gebirge ab. Die Spuren der Eiszeit sind auch hier oben auf dem Gipfel zu erkennen. Der Blick reicht weit, bis in den hier sehr breiten Sognefjord hinab. Wolkenfetzen treiben tief herabhängend vom Meer herein. Es beginnt zu regnen. Wir machen uns an den Abstieg.
Eine Stunde vor Untergang blitzt die Sonne durch erste Lücken in den Regenwolken. Schnell reißen sie weiter auf. Wundervolles Abendlicht.

"Wenn nicht so die Abendsonne gegen uns schiene", sagte der Großvater, "und alles in einem feurigen Rauch schwebte, würde ich dir die Stelle zeigen können".


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Dienstag, 11. November 2008
Tuchfühlung mit Bäumen
Ein erster Erkundungsspaziergang führte auf den Bergrücken gleich hinter der Hütte. Oberhalb des Waldes stand hohes Heidegestrüpp, von den ersten Nachtfrösten rot gefärbte Beerensträucher, Wacholder, Birken und viele rotstämmige Föhren, wie ich sie gern mag, und mir fiel wieder ein, was ich einmal nach einem Waldspaziergang in der Heide notiert hatte:

Beim Aufwachen winkte er schon, der Baum vor meinem Fenster: Wind!
Endlich Luft und hoher Himmel!
Atlantikgraue Galeonen mit Goldrand segelten hart am Wind über watteaublauen Grund. Draußen führten nur wenige Hunde ihre Herrchen spazieren.
"Kalt & stürmisch heute. Sauwetter!"
"Ja. Herrlich!"
Im Wald nickten Kiefern auf hohen Stelzfüßen einander über meinen Kopf hinweg rauschende Neuigkeiten zu. Ein Buntspecht übersetzte mir's morsend im Stakkato. Ranke Birkinnen nestelten lüstern vielfingrige Zweige ineinander. "Ich sei, gewährt mir die Bitte..." Doch als einige muskulöse Buchenprotze murrend mit den Ästen knackten, wollten sie mit mir Menschenkerl nicht mehr handgemein werden. "Wartet, bis sie euch zu Stuhlholz dämpfen!" murmelte ich und schlenderte, um sie eifersüchtig zu machen, zu einer Schulklasse junger Tannen hinüber. Kichernd lupften die Koketten die grünen Röcke.
Später trat ich hinaus auf einen Windbruch. Zwischen erdverklumpten Wurzelballen wogte savannengelb gefiedertes Gräservolk. Oben in der Bläue waren Bussarde zum Trocknen aufgespannt und riefen klagend: "tué".

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