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Dienstag, 24. März 2015
Raus aus der Stadt!
Heftige Stürme, hochragende Berge vor winzigen Höfen, eisige Nächte mit Nordlicht, Sonnenfinsternisse, unberechenbare Vulkanausbrüche – die Natur in Island gibt einem recht bald ein Gefühl zurück, das wir in unserem alltäglichen Leben in Mitteleuropa längst verloren haben: ein kleiner, verschwindend kleiner Teil von etwas zu sein, das größer, viel größer ist als wir, diese weltbeherrschende und -verderbende Spezies.
Dieses Gefühl kann erschreckend wirken. Es kann sich aber auch zu einem beglückenden und trügerischen Gefühl der Verbundenheit mit diesem Größeren, das wir Natur nennen, entwickeln. Trügerisch, weil wir aus dem Umstand, Teil von etwas zu sein, oft die Erwartung von Anteilnahme ableiten. Doch Anteilnehmen kann nur etwas, das selbst empfindet. Der Lavastrom, der sich noch immer als unaufhaltsamer Brei aus glühflüssigem Gestein über das Land wälzt, zeigt, welche Gefühle die Natur hegt.
Am Morgen, nachdem der Sturm abgezogen war, bedeckte eine dünne Schicht Neuschnee die gerade erst von Eis und Schnee befreite Erde. Am Himmel zog eine dunkel blaugraue Wolkenwand nach Nordwesten, dahinter war der Himmel klar und in der Frühe noch zart hellblau. Die Frostluft knisterte bei jedem Atemzug in der Nase wie der gefrorene Schnee unter den Füßen oder die Spikes der Autoreifen auf der Straße.
Früher brauchte man keine halbe Stunde zu fahren, um aus der Stadt hinaus in Gegenden zu kommen, in denen einem beim Wandern den ganzen Tag lang kein Mensch begegnete. Das ist nicht mehr so. In der Zwischenzeit hat Reykjavík neue Wohnviertel und Gewerbegebiete weit ins Land vorgeschoben wie Lava. Und die Zahl der Touristen, die das ganze Jahr durchs Land gekarrt werden, hat in meinen Augen eine kritische Größe erreicht. Doch seit sie alle z.B. im Blindflug durch den Tunnel unter dem Hvalfjörður rauschen, ist es im Fjord selbst wieder einsamer geworden. Wer weiß schon noch, daß sich in einer engen Kluft in seinem hintersten Teil Islands höchster Wasserfall versteckt? Schmal, aber fast 200 Meter hoch, im Winter nur ein Rinnsal unter Eispanzern. Und selbst wer es in einem Reiseführer liest, macht sich selten die Mühe.
Der Anblick des magischen Snæfellsjökuls jenseits des Faxaflói am Morgen der Sonnenfinsternis war zu unwiderstehlich gewesen. Ich mußte da hinaus.
Hinter dem engen und oft tückisch stürmischen Trichter des Hvalfjörður, der vom Meeresspiegel übergangslos 800 Meter in die Höhe ragenden Steinhalde des Hafnarfjalls und der Brücke über den Borgarfjörður breitet sich das Land in die herrliche Weite der Moore, die sanft in den Atlantik gleiten. Im Westen zur Linken also die Löngufjörur, die ‟langen Strände” aus (in Island seltenem) goldgelbem Sand, und der in Ufernähe hellgrüne, mit zunehmender Tiefe blaue Atlantik, um mich herum die wie ein Schneeleopard gelbbraun und weiß gefleckten Feuchtwiesen der Moore und weit voraus die noch völlig verschneite Bergkette aus Vulkangipfeln, die das Rückgrat der Halbinsel Snæfellsnes bildet. Es atmet sich unheimlich leicht und frei in dieser Weite.
Zwei Tage vor meinem Abflug nach Island hatte ich im englischen Guardian einen sehr sympathischen Artikel über die Präzision und die poetische Kraft fast vergessener gälischer topographischer Begriffe gelesen. Für einen ‟schmalen Wasserlauf in einem Moor, der durch Vegetation so gut wie vollständig zugedeckt wird” kennt das Gälische ein Wort: chaochan. Rionnach maoim ist der Ausdruck für ‟Schatten ziehender Wolken, die an einem hellen, windigen Tag über Moore wandern”. Worte, für die ich in Island viel Verwendung hätte, wenn ich sie aussprechen könnte. Jede Sprache kennt spezielle Ausdrücke für charakteristische Phänomene in der natürlichen Umgebung ihrer Sprecher: snjór, fönn, hjarn, mjöll sind nur einige isländische Namen für verschiedene Zustandsformen von gefrorenem Niederschlag, die wir in der Regel alle nur mit ‟Schnee” übersetzen, weil den meisten von uns die differenzierende Beobachtung und Benennung abgehen; anders als im Alpenraum, wo man noch zwischen Schnee, Firn, Harsch usw. zu unterscheiden vermag.
Der Guardian-Artikel stammt von Robert MacFarlane, einem englischen Reiseschriftsteller der jüngeren Generation, Jahrgang 1976. Vor dem Abflug steckte ich mir noch schnell sein drittes Buch in den Rucksack. Obwohl es von den Britischen Inseln handelt, dachte ich, es könnte eine nach Island passende Lektüre sein. Der Titel: The Wild Places.
‟Anyone who lives in a city”, las ich darin noch im Flugzeug auf einer der ersten Seiten, ‟will know the feeling of having been there too long.”
Oh, ja, Mr. MacFarlane hatte mir etwas zu sagen.
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