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Montag, 6. Juni 2011
Das Tübinger Triumvirat

"Unten wurde eine Bootskette ums Haus geschleift. Zwei Fackeln wandelten durch die Gasse; Murmeln, Auflachen, Stille. Sinclairs fahler Blick, von den Lichtpunkten in der Tiefe flüchtig durchblitzt, verschwand wieder im Dunkel. Die Gasse sei eng, durch die er laufe."

(Peter Schünemann: Scardanellis Gedächtnis, 2007)




In dieser Enge Tübingens wuchs einmal geistiges Leben, und was für eins! In der alten Burse (die vorübergehend auch einmal die berühmt-berüchtigte Autenriethsche Klinik beherbergte, doch ob dort noch viel über Jens und Bloch gesprochen wird, weiß ich nicht) und vor allem im nahegelegenen Tübinger Stift. Hier, ja hier, gab es eine der “fruchtbarsten Perioden der Literatur- und Philosophiegeschichte überhaupt” (Stephan Wackwitz). Allerdings nicht von allein und aus dieser Enge, sondern maßgeblich angeregt und befeuert durch den Ausbruch der Revolution im benachbarten Frankreich entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Tübinger Stift ein wahrer “Enthusiasmus des Geistes”, so Hegel, der sich selbst davon anstecken und mitreißen ließ. Die Stiftsinsassen richteten am Jahrestag der Erstürmung der Bastille “Freiheitsbäume” auf und schrieben einander “jakobinische” Billets und Gedichte, Hymnen, die begeistert den Anbruch einer neuen Zeit feierten, während das absolutistische Regime des Herzogs Carl Eugen (vor dem Schiller außer Landes geflohen war und das den Dichter Daniel Schubart wegen kritischer Äußerungen zehn Jahre in Festungshaft einmauerte) durch häufigere Visitationen und verschärfte Ausbildungsverordnungen die Zügel im Stift straffer und straffer anziehen ließ.
Welche Energie mußte ein Hölderlin aufwenden, um dieser theokratischen Zwangsmaschinerie zu entkommen, in der er mit allem verwurzelt feststeckte. Sein Vater war auf dem Klosterhof in Lauffen am Neckar, auf dem Hölderlin 1770 zur Welt kam, ebenso “Klosterhofmeister und geistlicher Verwalter” gewesen wie schon dessen Vater. Die pietistisch erzogene Mutter war Pfarrerstochter, die Großmutter väterlicherseits Prälatentochter, die mütterlicherseits Tochter eines Dekans. Der zweifach verwitweten Mutter kam überhaupts nichts anderes in den Sinn, als den vierzehnjährigen Jungen auf eine protestantische Klosterschule zu geben. Kleidung und Lebensweise hatten dort “mönchischen Zuschnitts” zu sein, das Lesen “schädlicher Bücher und Romanen” war bei Karzerstrafe verboten, vor allem aber mußte sich der eintretende Schüler schriftlich verpflichten, “sich auf keine andere Profession dann die Theologiam zu legen”. Sein künftiger Lebensweg lag damit also bereits vollkommen fest.
Aber Hölderlin rebellierte. Mit siebzehn erklärte er der Mutter in einer ernsten Aussprache seinen Wunsch, “aus dem geistlichen Stand zu treten”. Die Mutter ist entgeistert und schickt ihn zurück ins Kloster Maulbronn. Hölderlin gehorcht und reagiert mit Krankheit, spuckt Blut wie ein Schwindsüchtiger. In einem Gedicht mit dem Titel Mein Vorsatz schreibt er:

“Ach Freunde! welcher Winkel der Erde kann
mich decken, daß ich ewig in Nacht gehüllt
dort weine? Ich erreich ihn nie, den
weltenumeilenden Flug der Großen.”

Briefe an die Mutter unterzeichnet er fortan mit “Ihr gehorsamster Sohn” und Nachnamen.

Nach erfolgreichem Abschluß in Maulbronn erfolgt 1788 der Umzug ins Tübinger Stift.


Tübinger Stift

“Viele sind am protestantischen Tugendterror zerbrochen, an den gnadenlosen Sitten hinter den niedlichen Butzenscheiben, an der dumpfen Atmosphäre, der formelhaften Frömmigkeit. Das Leben im Stift ist ein Kreuz. Wer nicht spurt, landet im »Karzer«. »Püncktlichkeit, Praecision, Genauigkeit« heißt die Parole. Und danach ein »scharfes Examen«. Um sechs Uhr in der Früh werden die Studenten geweckt, hören die Predigt und lesen Psalmen. Das ist das berüchtigte Tübinger Frühstück, ein anderes wird nicht gereicht.”
(Thomas Assheuer: Die Gefährten, in: Die Zeit, 27.12.2007)

Hölderlins Zimmergenosse im 2. Stock wird ein gleichaltriger Mitschüler aus einem ebenfalls pietistischen, Stuttgarter Elternhaus: Georg Friedrich Hegel. Drei Schuljahre später kommt noch der fünf Jahre jüngere Schelling hinzu, der Überflieger, das “Wunderkind Schwabens”, den Hölderlin schon von der Nürtinger Lateinschule kannte. Hegel - Hölderlin - Schelling zur gleichen Zeit in einem Zimmer, in Tübingen.
“Was für eine Fügung der Geistesgeschichte”, meint Manfred Frank (Auswege aus dem deutschen Idealismus).
“In ruhigen Zeiten wären die drei vermutlich Pfarrer geworden und ihre philosophischen Passionen in einem pietistischen Herrgottswinkel vertrocknet”, vermutet Assheuer. Aber alle drei haben bekannt, daß ihnen im Tübinger Stift die Theologie gründlich ausgetrieben wurde. Dort habe er seinen Glauben verloren, schrieb Schelling nach Hause an den Vater, und Hegel: »Ich glaube, es wäre interessant, die Theologen aus jedem Ausfluchtswinkel herauszupeitschen, bis sie keinen mehr fänden und sie ihre Blöße dem Tageslicht ganz zeigen müssten.«
Zusammen lesen sie den Aufrührer Schiller und vor allem den einzigen Revolutionär, den Deutschland bis dahin hervorgebracht hatte: Kant.
Über Stipendiaten aus der württembergischen Enklave Mömpelgard/Montbéliard informieren sie sich direkt über die Vorgänge im revolutionären Frankreich. Besonders Hölderlin opponiert immer heftiger. Keine vier Monate nach dem Sturm auf die Bastille haut er in Tübingen auf offener Straße (in der Münzgasse) einem Lehrer den Hut vom Kopf. Die dafür aufgebrummten sechs Stunden im Karzer hat er sicher voller Genugtuung auf einer Backe abgesessen, aber seine Erbitterung und Wut saßen tiefer. Im Entwurf seines Gedichts Die Weisheit des Traurers aus dem gleichen Monat verheißt er seinem Landesherrn:

“schon schleicht der Tod in dir / es naht, Tyrann, der furchtbaren Rache Tag... Ewige Rache den Völkerschändern!”

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