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Dienstag, 4. Juni 2013
Kleine Meerjungfrau auf Reisen



...and from their haunted bay
The godwits vanish towards another summer.
Everywhere in light and calm the murmuring
Shadow of departure; distance looks our way;
And none knows where he will lie down at night

(Charles Brasch, The Islands;
kann auch kein ganz schlechter gewesen sein)

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Freitag, 1. März 2013
es ist mal wieder so weit

aus: Seefahrerbuch des Piri Reis, 1521

“Comes over one an absolute necessity to move.”


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Montag, 31. Dezember 2012
2 Zeilen für das nächste Jahr

2012 – ist wahrlich ein Jahr des Reisens gewesen wie noch kein anderes. Mit über 50.000 unterwegs zurückgelegten Kilometern haben wir mehr als einmal die Erde umrundet und viel, viel gesehen. Gut so, et satis est. Schließen wir für dieses Jahr die Notizbücher.

Auf meinem Weg legst Fallen Du an hundert Stellen
Und sprichst: “Ein Fehltritt nur, und ich werde dich zerschellen.”
Von Dir ist jedes kleinste Ding der Welt bestimmt,
Du ordnest alles an – und mich nennst Du Rebellen!

(Omar Chaijam, 1048-1131)

Zwar hat mich in diesem Jahr keine Reise in ein orientalisches Land geführt, aber ich denke, ich werde mit der neuerlichen Umdrehung der “Töpferscheibe” oder des “Weltenrads” doch kursorisch einen neuerlichen Gang durch die Lyrik des persischen Mathematikers und Dichters Omar Chaijam (oder Khayyām in anderer Schreibung) beginnen, dem man auf diesen Seiten schon früher begegnen konnte. Hier als Neujahrsgruß noch zwei Zeilen dieses so verblüffend freien Geistes, der im islamischen Iran lebte, als in Deutschland die Salier regierten, ein finsterer Schlagetot wie Wilhelm der Eroberer mit dem Schwert England unterwarf, die Päpste mit Investiturstreit und Dictatus Papae ihre Universalherrschaft durchsetzen wollten und die Kreuzzüge entfachten.

Da aller Dinge Ende ist das Nichts,
So bedenke, daß du nichts bist – und sei frei!

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Sonntag, 19. August 2012
Sage vom Zittern des Schilfs


Schildbewehrt den Weg durch die Thermopylen versperrend? - So mag eine unbewegte Wand aus hohen Halmen mit scharfen Blätterschneiden wirken. Aber packt nur einmal der Wind hinein, aus dem nachgiebigsten Element überhaupt, aus Luft, dann wird das Schilf schnell zum sprichwörtlichen Rohr im Wind.

“Es müßte eine Sage über das Zittern des Schilfs geben. Es sind nicht viele Dinge in der Natur zu finden, die dem menschlichen Auge erstaunlicher scheinen. Es ist eine vielsagende Pantomime des Schreckens. Zu sehen, wie eine so große Zahl verängstigter Kreaturen in jedem Winkel des Ufers Schutz sucht, genügt, um einen dummen Menschen zu beunruhigen. Vielleicht haben sie nur Schüttelfrost, was kein Wunder wäre, da sie hüfttief im Fluss stehen. Oder sie haben sich womöglich nie an die Geschwindigkeit und Wildheit der Flussströmung gewöhnt oder an den Zauber der endlosen Fülle. Pan musizierte einst auf ihren Vorfahren, und so, durch die Hände des Flusses, spielt er immer noch... dieselbe liebliche wie schrille Melodie, um uns von der Schönheit und den Schrecken der Welt zu erzählen.
Die Schilfrohre könnten als Warnung mit ihren Köpfen nicken und mit zitternden Gesten erzählen, dass der Fluss ebenso grausam sei wie stark und kalt, dass der Tod in dem Strudel unter der Weide lauere. Doch die Schilfrohre mussten auf ihren Plätzen stehen bleiben, und jene, die stillstehen, sind immer furchtsame Ratgeber.”

[R.L. Stevenson: Das Licht der Flüsse, S. 66f.]

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Donnerstag, 16. August 2012
Im Schilf rascheln
Gestern habe ich mich strafbar gemacht. Auf der Suche nach geeignetem Bildmaterial für dieses Blog. Ich brauchte Schilf. Genauer, eine Abbildung von Schilf. Nun stehen in den Dünen zwischen Scheveningen und Wassenaar Dutzende kleiner Teiche und Tümpel, fast allesamt passend von dichten Schilfgürteln umschlossen, doch ebenso von dichten Zäunen: “Geen toegang”. Diese überall aufgepflanzten Schilder hatten wir hier schon einmal als symptomatisch angeprangert, als uns noch frisch die Aufforderung in den Botanischen Gärten von Sydney im Gedächtnis war:
“Please walk on the grass! Smell the roses, hug the trees, talk to the birds and picnic on the lawns.”
O, süße Freiheit und Humor der neuen Welt dort unten! Ach, Europa-EU-Schengenraum-Holland, dir gehen sie ab.
Damit allein nicht genug. In den Scheveninger Dünen jagt ein privater Sicherheitsdienst mit Colt im Halfter Spaziergänger, die es einmal wagen sollten, einen der Schlagbäume mit Verbotsschild zu umgehen. Außerdem beäugen und bespitzeln sich die Spaziergänger gegenseitig und pfeifen einen Übertreter des Toegangverbods selbst schon einmal rüde zurück. Da es in den Dünen zu dieser Jahreszeit von Besuchern wimmelt, bedarf es einiger, aus holländischer Sicht östlicher Verschlagenheit, um sich von Aufpassern unbemerkt in die Büsche und ins Schilf schlagen zu können.
Zitternd wie Schilf im Wind habe ich es versucht, und es ist mir geglückt. Mit nassen Hosenbeinen und von Mücken zerstochen, kehrte ich triumphierend aus dem verbotenen Land zurück, das gesuchte Bild wohlverwahrt in der Botanisiertrommel der Spiegelreflex. – See, hug and smell it and listen to the wind in the reed!



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Dienstag, 14. August 2012
Auf Flüssen und Kanälen



Nun ja, Fortführung sommerlicher Stimmung mit literarischen Mitteln:

“Die Sonne strahlte, die Flut setzte ein – vier lustige Meilen die Stunde. Der Wind blies gleichmäßig, mit gelegentlichen Sturmböen. Ich hatte noch nie zuvor in einem Kanu unter Segeln gesessen. Ich denke, es war eine ähnlich große Herausforderung, wie etwa ein erstes Buch zu veröffentlichen.”

Um beides geht es an diesem Sommermorgen auf der unteren Schelde bei Antwerpen, um die Grand Tour in einem Paddelboot und um das erste Buch. Damals, 1876, im August vor 136 Jahren; dasselbe durchwachsene Schietwetter wie heute, dieselben Überlegungen.

“Ein Mann sollte sich um nichts Wichtigeres kümmern müssen als um seinen Zeitvertreib. Als Gegenargument kann nur die Geldgier dienen [...] Es ist verlogenes Geschwätz, den Kaufmann und Bankier als selbstlosen Kämpfer im Namen der Menschlichkeit darzustellen.”

Ja, in einem Boot dann auf dem Sambre-Oise-Kanal im flachen Flandern kann man die Gedanken schweifen lassen, sofern man die eigene Haut genauso imprägniert wie die Spritzdecke über dem Süllrand des Kanus.

“Wir hatten nun in Bezug auf das Wetter einen Grad an Demut erreicht, den man außerhalb der schottischen Highlands selten erlebt.”

O ja, schöne Sommerlektüre.
Fließt still wie die Oise – “das Zentralbüro der Nerven, das wir in einer gewissen Stimmung als Ich bezeichnen, genoss seinen Urlaub” – und ist doch immer in Bewegung. Der eingeschobene Satz wurde immerhin fast fünfzig Jahre vor Freuds Das Ich und das Es unterwegs flüchtig in ein Notizbuch gekritzelt. Es folgt eine der wohl frühesten genauen Beschreibungen dessen, was man heute als Flow-Zustand bezeichnet. Resümee:

“Ich schmeichle mir, dass nicht einmal sterbende Tiere diese niedrige Form von Bewusstsein unterbieten können. Und was für ein Vergnügen das war!” – “Dieser Geisteszustand war der große Gewinn unserer Reise. Er war das entlegenste Ziel, das wir erreichten... so weit entfernt, dass ich nicht erwarte, die Sympathie des Lesers für die lächelnde, friedliche Ironie meines Zustands zu gewinnen.”

Ich sag ja: schöne Sommerlektüre. Robert Louis Stevenson: Das Licht der Flüsse, gerade sehr schön übersetzt von Alexander Pechmann.

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Montag, 13. Februar 2012
Tusitala
Zur selben Zeit, als Paul Gauguin sich und andere davon zu überzeugen versuchte, auf Tahiti ein irdisches Paradies gefunden zu haben, während sich seine (damals noch unheilbare) Krankheit immer weiter verschlimmerte, fand ein anderer Europäer auf einer nur 2400 Kilometer von Tahiti entfernten Südseeinsel tatsächlich Linderung von seinem Leiden und ein dauerhaftes Heim. Jedenfalls für die paar Jahre, die ihm noch zu leben vergönnt waren.
Von Kindesbeinen an litt er an Atemwegserkrankungen, die im naßkalten Klima seiner Heimatstadt Edinburgh nie richtig ausheilten. Lange Zeit konnte er das Bett nicht verlassen. Sein Kindermädchen erzählte ihm in dieser Zeit viele schauerliche Geschichten, und sobald er schreiben konnte, schrieb er selbst welche. Seinen ersten Roman veröffentlichte er mit 15. Sobald er das vom Vater verlangte Jurastudium abgeschlossen hatte, nutzte er jede Gelegenheit, um dem “mouth of the pit”, dem Rand der Grube, wie er Schottland seines Wetters wegen nannte, zu entkommen, und reiste mehrfach ins wärmere Frankreich, wo er auch seine spätere Frau, eine Amerikanerin, kennenlernte. Noch im Jahr der Hochzeit, 1880, kam bei ihm eine offene Tuberkulose zum Ausbruch. Teils in einem schottischen Hochlanddorf, teils in Davos schrieb er für seinen Stiefsohn eine Geschichte, die zunächst in einer Jugendzeitschrift, dann als Buch erschien und seinen Weltruhm begründete: Die Schatzinsel.
Gesundheitlich aber ging es Robert Louis Stevenson immer schlechter. Nach mehreren Blutstürzen wieder ans Bett gefesselt, schrieb er mit dem Seltsamen Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde einen weiteren weltbekannten Roman. 1887 starb Stevensons Vater. Mit seinem Erbe fühlte sich Stevenson frei, Schottland endgültig den Rücken zu kehren. Mit seiner Frau, ihren Kindern und seiner Mutter fuhr er nach Amerika, um dort einen Lungenspezialisten aufzusuchen, der schließlich zu einer ausgedehnten Seereise riet. Ende Juni 1888 charterte Stevenson in San Francisco die Schonerjacht Casco und stach für ein halbes Jahr in See. Sie fuhren zu den Marquesas-Inseln, nach Tahiti und Hawaii.

“Tag für Tag strahlte die Sonne, und Nacht für Nacht leuchtete der Mond, und die Sterne paradierten mit ihrem funkelnden Regiment. Ich wurde mir einer molekularen Wiederherstellung bewußt. Ich war in mein Klima gekommen, und voll Verachtung blickte ich zurück auf diese feuchten und winterlichen Zonen, die man fälschlicherweise die gemäßigten nennt.” (R.L.Stevenson: Der Ausschlachter)

Auf einer zweiten Südseereise kam Stevenson 1889 nach Samoa und erwarb dort ein Grundstück für ein Haus oberhalb der Inselhauptstadt Apia. Nach zwei Jahren Bauzeit zog der gesamte Stevenson-Clan in “Vailima” ein, und so lange Stevenson sich dort aufhielt, verschlimmerte sich seine Tuberkulose nicht. Schon auf einer kurzen Reise nach Sydney brach er dagegen gesundheitlich fast völlig zusammen. “Kurz nach dem Sturm traf die Lübeck ein, und mit ihr ein sehr kranker Louis und seine Mutter, die ihn pflegte. Es ist klar, daß er in der Südsee bleiben muß, er kann in keinem anderen Klima leben", trug Fanny Stevenson in ihr Tagebuch ein. Er konnte die Südsee nicht mehr verlassen, darum sammelte er alle, die ihm nahestanden, dort um sich. Im Kreis seiner Familie fand Stevenson auf Samoa tatsächlich sein Paradies. Eine Geschichte nach der anderen strömte ihm in die Feder. „So viele Eisen im Feuer hatte noch niemand“, schrieb er seinem Freund Sydney Colvin im Januar 1892, also zur gleichen Zeit, in der auch Gauguin auf Tahiti gerade sehr produktiv war. Selbst bei den Samoanern erhielt Stevenson den Beinamen Tusitala, Geschichtenschreiber. Er mischte sich auch in die Politik der Insel ein, versuchte in dem von den Kolonialmächten geschürten Bürgerkrieg zu vermitteln und schickte eine ausführliche Darlegung der Verhältnisse an die Times nach London. Und unermüdlich schrieb er oder diktierte seiner Stieftochter Belle, wenn er selbst zum Schreiben zu schwach war.
Ich kannte außer den beiden oben genannten Romanen keines von Stevensons Büchern, habe aber jetzt seine Briefe aus Vailima gelesen und die Erzählung The Beach of Falesa, die, wie er selbst meinte, “erste realistische Südseerzählung, das heißt mit echtem Südseecharakter und Details aus dem wirklichen Leben.” Wenn man von ihm nur die Schatzinsel kennt, womöglich in einer “für die Jugend bearbeiteten” deutschen Übersetzung, dann ist man sehr überrascht über die sprachliche Frische und Vielfalt in dieser Erzählung, die gar nicht nach verstaubtem 19. Jahrhundert klingt. Ich bin neugierig geworden. Die Ausrüstung ist gepackt. Morgen brechen wir auf. In vier Tagen werden wir an Stevensons Grab stehen.

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Freitag, 10. Februar 2012
Teha’amana
Das Jahr 1892, das Paul Gauguin auf Tahiti verbrachte, wird von vielen als das künstlerisch beste seines ganzen Lebens angesehen. He went native auf produktivste und kreativste Weise. Äußerlich war sein Leben alles andere als üppig, denn von den Früchten des Landes zu leben, stellte sich als viel schwieriger heraus, als er gedacht hatte, und erforderte eine Menge Geschick und Fertigkeiten, die er nicht beherrschte. Seinen Nachbarn etwas abkaufen zu wollen, ging nicht, weil sie es ihm aufgrund ihrer ungeschriebenen Verhaltensregeln aus Nachbarschaftshilfe hätten schenken müssen, und so lebte er inmitten tropischer Fülle vor allem von Dosenfleisch und Konserven.
Dabei fühlte er sich unglaublich wohl und frei. Er lief meist nur mit einem Hüfttuch bekleidet herum wie ein Eingeborener und badete jeden Tag nackt in dem Bach bei seiner Hütte – bis die weißen Missionare es ihm durch den Ortsgendarmen verbieten ließen. “Doch in meinem Schlaf konnte ich mir den Raum über dem Dach meiner Hütte vorstellen, das Gewölbe des Himmels, kein Gefängnis, das einen einsperrt. Meine Hütte war Raum, Freiheit.” Seiner Frau Mette schrieb er nach Kopenhagen: “Was für eine wunderbare Nacht! Tausende tun in dieser Nacht das gleiche wie ich, sie geben sich dem puren Leben hin. All diese Menschen bewegen sich überall frei, egal in welchem Dorf, schlafen in irgendeiner Hütte, essen, was sich dort findet, immer bereit, anderen die gleiche Gastfreundschaft zu erweisen. Und diese Menschen nennt man Wilde! Sie singen, sie stehlen niemals, meine Hütte ist nie verschlossen...” Er fantasierte sich eben das Paradies zusammen, das er sich gewünscht hatte.
Im November 1891 spuckte Gauguin plötzlich Blut. Bald ein Weinglas voll täglich. Er mußte nach Papeete ins Krankenhaus. Seine Syphilis trat ins dritte Stadium. Die Behandlungskosten waren ihm zu hoch, und nach Abklingen der stärksten Symptome entließ er sich selbst und kehrte nach Mataiea zurück, zu der jungen Frau, dem Kind würden wir heute sagen, von 13, 14 Jahren, das er als Geliebte in sein Haus genommen hatte, wie es unter den unverheirateten weißen Siedlern auf Tahiti damals üblich war. (“A practice which hardly conflicted with pre-colonial custom and which had economic advantages for the families of the vahine”, kommentiert Gauguins maßgeblicher Biograf, David Sweetman, warnt dabei wiederholt vor zu pauschaler moralischer Entrüstung auf Grundlage gewandelter heutiger Einstellungen und erinnert daran, daß u.a. auch ein Edgar Allan Poe es kaum erwarten konnte, seine eigene Kusine am Tag ihres dreizehnten Geburtstags zu heiraten. Und Novalis?)
Gauguin fand jedenfalls nichts Anstößiges dabei, die Geschichte seines Brauterwerbs in dem zur Veröffentlichung in Frankreich bestimmten Noa Noa in allen Einzelheiten zu schildern. Durch und durch kindlich war Tehamana ihrem Alter entsprechend auch nicht mehr. “Meine neue Frau war nicht sehr gesprächig, melancholisch und spöttisch. Wir beobachteten uns gegenseitig, sie war unergründlich, ich wurde schnell besiegt in diesem Kampf... und in kurzer Zeit war ich für sie ein offenes Buch.”
Ihr Name Teha’amana bedeutet auf Tahtianisch “Kraftspenderin”, und genau das wurde “Tehamana” für Gauguin in diesem ungeheuer kreativen und produktiven Jahr, das sie miteinander verbrachten.

“Ich machte mich wieder an die Arbeit, und Glück folgte auf Glück. Jeden Tag bei Sonnenaufgang erstrahlte mein Haus in hellem Licht. Das Gold in Temahanas Gesicht durchflutete alles, und wie im Paradies, auf ganz natürliche und einfache Weise, erfrischten wir uns beide in einem benachbarten Bach.
Alltagsleben. Tehamana wird immer gefügiger und liebevoller, das tahitische Noa Noa erfüllt mich ganz, ich habe kein Gefühl mehr für Tage und Stunden, für Gutes und Böses; alles ist schön: alles ist gut [...] Gespräche darüber, was in Europa vor sich geht, über Gott, die Götter. Ich unterrichte sie, sie unterrichtet mich...”

Natürlich kann ihr Verhältnis nicht so symmetrisch gewesen sein, wie Gauguin es beschreibt. Sicher kann man es ausbeuterisch und meinetwegen auch kolonialistisch nennen, aber man kann es nicht wegdiskutieren. Es war wichtig für Gauguin als Mensch und als Künstler. Für viele der Frauen auf seinen Bildern aus dieser Zeit hat ihm Temahana Modell gestanden; keineswegs nur als die verführerische Lolita auf dem berühmt-berüchtigten Manao tupapau, das von Gauguin seinem Biografen zufolge bewußt auf einen Skandalerfolg hin konzipiert wurde, um die Provokation von Manets Olympia und Lotis Rarahu möglichst noch zu überbieten und ihm endlich die Beachtung auf dem Kunstmarkt zu verschaffen, nach der er so lange vergeblich gestrebt hatte. “The painting is not the subconscious expression of otherwise suppressed desires; there can be no doubt that he intended the work to shock and thus attract attention.” (Sweetman)
Aufmerksamkeit, die Gauguin immer dringender brauchte. Im Oktober des Jahres ging ihm die Leinwand aus, und er hatte nicht einmal mehr Geld, neue zu kaufen. Er war stark abgemagert, wußte, daß er krank war und sich sein Zustand nur noch verschlimmern würde, und er wußte auch, daß die Regierung in Paris gebürtigen Franzosen nur binnen Jahr und Tag nach ihrer Ausreise eine kostenlose Rückkehr nach Frankreich ermöglichte. Danach wurden sie als dauerhaft emigriert eingestuft. Also schickte er am letztmöglichen Stichtag mit dem Postschiff einen entsprechenden Antrag nach Paris und hoffte, noch ein wenig auf Zeit spielen zu können, denn Tehamana verhieß ihm gerade um diese Zeit neue Freuden, Vaterfreuden.
Gauguin jubelte: “Bald werde ich in Ozeanien wieder Vater werden. Gott, ich scheine überall auszusäen! Aber hier richtet es nichts Schlimmes an, denn hier sind Kinder willkommen”, schrieb er seinem Freund Monfreid, und er malte Tehamana mit einer Mango der Verführung in der Hand und schwellendem Bauch unter dem züchtigen Kittelkleid, das die Missionare den eingeborenen Frauen der Südsee überall aufgenötigt hatten. Danach hat er das Kind nie wieder erwähnt. Tehamana ähnelnde Frauen auf späteren Bildern sind auffällig in weiße Gewänder gekleidet. Auf Tahiti war Weiß die Farbe der Trauer.
Auf seinem letzten Bild malte er noch einmal Tehamana. Im Vordergrund als Eva, die die verbotene Frucht in Gestalt eines Kürbis’ hält wie ihre eigene Brust, und im Hintergrund als weiß gekleidete Schattengestalt mit einem Kind auf dem Arm: E haere ia oe? “Wohin gehst du?”
Die Antwort malte er vier Jahre später, wieder auf Tahiti und dem Tod ins Auge sehend. Doch zunächst einmal mußte er von der Insel und von Temahana Abschied nehmen. Im Juni 1893 kehrte er noch ein letztes Mal nach Frankreich zurück.

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Donnerstag, 9. Februar 2012
Tahiti Noa Noa

“Tahiti... is expensive, traffic-choked, noisy, corrupt and Frenchified.”
Daß es auf der Erde kolonisierte Gebiete gibt, die nicht amerikanisiert wurden, muß für einen Amerikaner der Horror schlechthin sein; selbst wenn er Paul Theroux heißt. “Just a short trip to any French territory in the Pacific is enough to convince even the most casual observer that the French are among the most self-serving, manipulative, trivial-minded, obnoxious, cynical and corrupting nations on the face of the earth.”

Gut, Theroux war bei seiner Paddeltour zu den Happy Isles of Oceania vor zwanzig Jahren nicht gut drauf. Besserer Laune scheint der Yankee aus Massachusetts überhaupt selten zu sein, aber vor dieser Reise hatte sich gerade seine Frau von ihm getrennt, und er war besonders menschenfresserischer Stimmung. Das macht entweder blindwütig oder scharfsichtig. An den Inseln des Stillen Ozeans ließ er jedenfalls kein gutes Haar, von Japan (“a one-family island of desperate overachievers who have a fascist belief in their own racial superiority”) über Fidschi (“full of political perversity, racial fear, economic woes, and Australian tourists”) bis hinab nach Neuseeland (“this is the English death, the indescribable boredom that makes you desperate to leave”), war alles nur “down and dirty”, “dismal and littered”. “No city or town in the whole of Oceania was pleasant”. Und Tahiti gehörte zu den ganz großen Enttäuschungen. “Papeete is rather an ugly, plundered-looking town...”

Ganz ähnlich hat es hundert Jahre vor Theroux auch schon Gauguin empfunden: “ziemlich enttäuscht von der Realität... angewidert auch von dieser ganzen europäischen Trivialität, war ich wie blind”, schrieb er bald nach seiner Ankunft in sein Notizbuch.
Innerhalb von zwei Monaten machte er sich durch seine unverhohlenen Besuche auf dem “Fleischmarkt” bei den Spitzen der französischen Kolonialgesellschaft, die ihn zunächst entsprechend seinem Empfehlungsschreiben als Abgesandten in “offiziellem Auftrag” gebührend empfangen hatten, derart unmöglich, daß er von niemandem mehr eingeladen und zum sozial Geächteten wurde.
Es scherte ihn nicht, zumal er ohnehin gekommen war, um sich in anderen als den europäischen Kreisen und Konventionen zu bewegen, und inzwischen erkannt hatte, daß er die ursprüngliche Kultur der Polynesier in Papeete nicht mehr finden würde.
Also packte er seine Malutensilien und zog im Juli 1891 aufs Land; genauer nach Mataiea, den nach Papeete europäisiertesten Ort der Insel. Doch spiegelten seine Lage zwischen Berg und Meer und die verstreut liegenden Häuser in tropisch grünen Pflanzungen die Illusion einer präkolonialen Idylle vor.

“Ich fing an zu arbeiten, Notizen und Skizzen jeglicher Art. Alles in der Landschaft blendete, begeisterte mich. Von Europa kommend war ich stets unsicher in der Wahl einer Farbe, es kostete mich Stunden, dabei war es so einfach, ganz natürlich ein Rot und ein Blau auf meine Leinwand zu setzen. Goldene Formen in den Bächen entzückten mich. Weshalb zögerte ich, dieses Gold, die ganze Fröhlichkeit der Sonne auf meine Leinwand fließen zu lassen?”
“Tagtäglich geht es mir besser”, schreibt er voller Wunschdenken in sein Buch der Wohlgerüche: Noa Noa. “Mein Körper, der fast immer nackt ist, fürchtet die Sonne nicht mehr; die Zivilisation fällt nach und nach von mir ab... und ich lebe animalisch und frei – in der Gewißheit, daß das Morgen ebenso ist wie das Heute, jeden Morgen geht die Sonne am wolkenlosen Himmel für mich wie für alle anderen auf, ich werde sorglos, ruhig und liebevoll.”

Was er schreibt, erinnert an Camus’ Hymnen auf das Licht und die Sonne von Tipasa. Die Menschen in seinen Bildern sind nicht mehr bleich wie der Tod, und die Landschaften darin glühen vor Licht und Farbe.


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Sonntag, 5. Februar 2012
Nouvelle-Cythère
Der Sündenfall Tahitis läßt sich ziemlich genau auf den Mittsommertag des Jahres 1767 datieren, als der englische Kapitän Samuel Wallis als erster Europäer vor Tahiti Anker warf. An Land ging er erst Tage später, weil er und seine Mannschaft von Skorbut und anderen Krankheiten sehr geschwächt waren und von den Bewohnern der Insel auch noch feindselig empfangen wurden.

[24 June 1767] At six o’clock the next morning, we began to warp the ship up the harbor, and soon after, a great number of canoes came upon her stern. As I perceived they had hogs, fowl, and fruit on board, I ordered the gunner, and two midshipmen, to purchase them for knives, nails, beads, and other trinkets. . . . By eight o’clock, the number of canoes was greatly increased, and those that came last were double, of a very large size, with twelve or fifteen stout men in each. I observed, with some concern, that they appeared to be furnished rather for war than trade, having very little on board except round pebble stones. . . . There was a universal shout from all the canoes, which at once moved towards the ship, and a shower of stones poured into her on every side. . . When the great guns began to fire, there were not less than three hundred canoes about the ship, having on board at least two thousand men; many thousands were also upon the shore. . . . Among the canoes that were coming toward the bow, there was one which appeared to have some Chief aboard, as it was by signals made from her, that the others had been called together: it happened that a shot, fired from the guns forward, hit this canoe so full as to cut it asunder. As soon as this was observed by the rest, they dispersed with such haste that in half an hour there was not a single canoe to be seen.

So erzählt John Hawkesworth in seinem Account of the Voyages Undertaken by the Order of His Present Majesty for Making Discoveries in the Southern Hemisphere... 1773 die erste Begegnung zwischen Europäern und Tahitianern auf der Grundlage von Wallis’ Logbuch und Bericht an die Admiralität. Offenbar hielt diese Wallis’ eigenen Bericht für nicht salonfähig. Die alte Teerjacke ließ sich zwar mit einer zarten Feder in der derben Patsche am Schreibtisch porträtieren, aber lesbar schreiben konnte er wohl nicht. Es war ja auch nicht seine vordringliche Aufgabe. Hawkesworth hingegen hatte sich als Nachfolger von Samuel Johnson im Gentleman’s Magazine und Herausgeber einer Ausgabe der Werke von Swift einen Namen gemacht und wurde darum mit der literarischen Bearbeitung der Berichte von Byron, Wallis, Carteret und Cook beauftragt. Eine seiner Vorgaben besagte, daß er das lesende Publikum tunlichst mit derben und anstößigen Ereignissen verschonen sollte. Und so berichtete er getreulich, daß Wallis nach dem zurückgeschlagenen Angriff mit der um die Bucht von Matavai herrschenden Stammeskönigin Purea Frieden schloß und seiner Mannschaft anschließend einen Monat Landurlaub spendierte, damit sie sich, umsorgt von den Eingeboreninnen, von der entbehrungsreichen langen Seereise erholen und auskurieren konnte. Das “Gastgeschenk” aber, das Wallis und seine wilden Kerle den arglosen Tahitianerinnen zum Dank anhängten, brachte erst Joseph Banks zur Sprache, der zwei Jahre später mit Cook Tahiti besuchte. Er berichtet, Tahitianer gesehen zu haben, die von schwersten Verwundungen wieder genesen seien, doch “when the juices of the body are pure, and the patient is temperate, nothing more is necessary, as an aid to Nature, in the cure of the worst wound, than the keeping it clean.” Über saubere und reine Körpersäfte verfügten diese edlen Wilden also; vielmehr hatten sie darüber verfügt, bis Wallis aufgekreuzt war.

“[The natives] commerce with the inhabitants of Europe has, however, already entailed upon them that dreadful curse which avenged the inhumanities committed by the Spaniards in America, the venereal disease. As it is certain that no European vessel, besides our own, except the Dolphin, and the two that were under the command of Mons. Bougainville, ever visited this island, it must either have been brought by one of them, or by us. That it was brought by the Dolphin, Captain Wallis has demonstrated, in the account of her voyage, in the first volume, and nothing is more certain, than that when we arrived it had made most dreadful ravages in the island. One of our people contracted it within five days after we went on shore, and by the enquiries among the natives, which this occasioned, we learned, when we came to understand a little of their language, that it had been brought by the vessels which had been there about fifteen months before us, and had lain on the east side of the island. They described, in the most pathetic terms, the sufferings of the first victims to it, and told us, that it caused the hair and the nails to fall off, and the flesh to rot from the bones; that it spread an universal terror and consternation among them, so that the sick were abandoned by their nearest relations, lest the calamity should spread by contagion, and left to perish alone in such misery as till then had never been known among them.”

Ein Jahr vor Cook und kein Jahr nach Wallis richtete Louis-Antoine de Bougainville seine aristokratisch hoch getragene Nase gen Tahiti. Er hatte als Offizier aktiv an der Verteidigung Québecs und am Verlust Kanadas teilgenommen und anschließend auf eigene Faust versucht, ersatzweise die so ausgedehnten, nur von den Seemächten bis dahin unbeachteten Îles Malouines (heute Falklandinseln) für die Grande nation zu erobern, doch auf Druck Spaniens und Englands befahl ihm König Ludwig XV., sie zu räumen und an Spanien zu verkaufen. Zudem gab er Bougainville den Auftrag, von den Malwinen gleich weiterzufahren und das durch die Niederlagen im Siebenjährigen Krieg ramponierte Ansehen Frankreichs mit Hilfe einer ersten französischen Weltumsegelung wieder aufzubessern.
Bougainville war ein gebildeter Mann und ein großer Anhänger der Aufklärung. Er hatte als erster Weltumsegler einen Stab von Naturforschern an Bord (darunter übrigens, lange unerkannt als Mann verkleidet, mit Jeanne Baret die erste Frau, die die Welt umsegelte). Dank seiner umsichtigen und fortschrittlichen Maßnahmen an Bord verlor er von den 330 Mann Besatzung auf der gesamten Reise nur sieben. Ein ungeheuer günstiges Verhältnis für die damalige Zeit.

Am 4. April 1768 erreichten die Boudeuse und die Étoile Tahiti. Schon beim ersten Anblick machte die Insel einen paradiesischen Eindruck auf Bougainville. Die Bucht vor ihnen öffnete sich wie ein Amphiteater, in das sogar ein kleiner Wasserfall schäumte, und selbst die höchsten Berge dahinter wirkten nicht karg, sondern waren über und über grün bewachsen. Im Flachland an der Küste wechselten kleine Waldungen mit Weiden und Pflanzungen, dazwischen, idyllisch in das üppige Grün gebettet, die Hütten von Eingeborenen.
Die erste Annäherung verlief wie im Jahr zuvor bei Wallis. Die Inselbewohner paddelten in Auslegerbooten voller Bananen, Kokosnüssen und anderen Früchten auf die Schiffe zu, doch anders als bei Wallis unbewaffnet, und zu einem Angriff kam es nicht, dafür zu einem regen Tauschhandel. Am nächsten Tag kehrten sie zurück, “cette fois aussi, il vint dans les pirogues, quelques femmes jolies et presque nues”, diesmal also auch ein paar hübsche, fast nackte Frauen an Bord.
Bougainville war nun fest entschlossen, an Land zu gehen, und ließ von den eigenen Booten eine Passage durchs Riff ausloten.
Umgeben von zahlreichen Kanus liefen die beiden Schiffe vorsichtig in die Bucht und suchten einen geeigneten Ankerplatz, wobei die Matrosen bestimmt nicht sehr konzentriert an der Arbeit waren.

“Die Pirogen waren voller Frauen, deren schöner Körperwuchs den meisten europäischen Frauen nicht nachsteht und deren körperliche Schönheit allemal mit der von Europäerinnen mindestens wetteifern kann. Die meisten dieser Nymphen waren nackt, weil die Männer und die alten Frauen ihnen die Kleider abnahmen, in die sie sich sonst hüllen. Trotz ihrer Unschuld (naïveté) warfen sie uns von ihren Booten ein wenig verlegene Blicke zu, sei es, weil die Natur ihr Geschlecht überall mit einer angeborenen Schüchternheit ausgestattet hat, oder sei es, weil selbst in den Ländern, in denen noch die Freizügigkeit des Goldenen Zeitalters herrscht, die Frauen vorgeben, das nicht zu wollen, was sie sich am meisten wünschen (même dans les pays où règne encore la franchise de l'âge d'or, les femmes paraissent ne pas vouloir ce qu'elles désirent le plus.) Die Männer, einfacher oder freier, drückten sich eindeutiger aus: sie drängten uns, eine Frau auszusuchen und ihr an Land zu folgen, und ihre Gesten ließen keinen Zweifel daran, auf welche Weise wir dort ihre nähere Bekanntschaft machen sollten. Ich frage: Wie sollte man mitten in einem solchen Spektakel vierhundert junge, französische Seeleute wieder an die Arbeit bringen, die seit einem halben Jahr keine Frau mehr gesehen hatten? Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die wir zu treffen suchten, gelang es einem jungen Mädchen an Bord zu kommen. Sie kam aufs Achterdeck und stellte sich über eine der Luken, die wir geöffnet hatten, um den Männern unten an der Winde frische Luft zuzuleiten. Unbekümmert ließ sie das Tuch fallen, das sie bedeckte, und bot sich aller Augen so dar, wie Venus sich den phrygischen Schäfern gezeigt hatte, und sie hatte in der Tat einen himmlischen Körperbau.”

Als Bougainville am folgenden Tag an Land ging, glaubte er den Garten Eden zu betreten: “Wir schritten über Rasen, auf dem Obstbäume standen und der von mehreren kleinen Bächen durchflossen wurde, die angenehme Kühle verbreiteten. Viele Menschen saßen im Schatten von Obstbäumen und genossen die Segnungen, die die Natur so freigiebig über sie ausstreute. Überall stießen wir unter ihnen auf Gastfreundschaft, Ruhe, unschuldige Freude und alle Anzeichen des Glücks.”
Auch seinen Rousseau hatte der aufgeklärte Franzose sorgfältig gelesen:

“Obwohl die Insel in viele kleine Bezirke unter je einem unabhängigen Oberhaupt unterteilt ist, scheint es keinerlei innwärtige Kriege oder Hass zu geben. Wahrscheinlich gehen die Tahitianer stets aufrichtig und anständig miteinander um. Ob sie zu Hause sind oder nicht, ihre Hütten stehen bei Tag und Nacht immer offen. Jeder bedient sich von den Früchten des nächstbesten Baums oder in der Hütte, die er gerade betritt. Es scheint, daß sie bei allem, was zum Leben notwendig ist, kein Privateigentum kennen und daß alles allen gehört. [...] Ich vermag nicht zu sagen, ob ihre Ehen zivil geschlossen oder durch die Religion geheiligt sind, ob sie unauflöslich sind oder geschieden werden können. Wie auch immer, die Frauen unterwerfen sich ihren Männern völlig, jede Untreue ohne Zustimmung des Mannes würden sie mit ihrem Blut reinwaschen. Diese Zustimmung aber ist leicht zu erlangen. Eifersucht ist eine so unbekannte Leidenschaft bei ihnen, daß gemeinhin der Ehemann der erste ist, der seine Frau drängt, sich einem anderen hinzugeben. Auch eine unverheiratete Frau braucht sich in dieser Hinsicht keine Zurückhaltung aufzuerlegen; alles ermuntert sie, der Neigung ihres Herzens oder ihren sinnlichen Wünschen zu folgen. Öffentlicher Beifall beklatscht noch ihr Sichhingeben. Keine noch so große Zahl vorangegangener Liebhaber scheint ein Hindernis zu sein, hinterher noch einen Ehemann zu finden. Weshalb sollte sie also dem Verführerischen des Klimas, den Lockungen anderer Beispiele nicht nachgeben? Schon allein die Luft, die diese Menschen atmen, ihre Gesänge, ihre Tänze, fast immer von aufreizenden Gesten begleitet, all das erinnert jeden Augenblick an die Annehmlichkeiten der Liebe, ruft dazu auf, sich ihr hinzugeben. [...]
Jeden Tag spazierten unsere Männer allein oder in kleinen Gruppen unbewaffnet über die Insel. Man bat sie in die Häuser, dort gab man ihnen zu essen, und die Höflichkeit der Gastgeber hatte damit noch nicht ihr Bewenden, sie boten ihnen auch noch junge Frauen an. Augenblicklich füllte sich die Hütte mit neugierigen Männern und Frauen, die einen Kreis um den Gast und das junge Opfer der Gastfreundschaft bildeten. Der Boden wurde mit Blüten und Blättern bestreut, und Musiker sangen zur Begleitung von Flöten Freudenhymnen. Hier ist Venus die Göttin der Gastfreiheit, aus ihrem Kult macht man kein Geheimnis, und jede Vergnügung in ihrem Dienst ist ein Fest für das ganze Volk.”

Einen einzigen kleinen, häßlichen Makel wiesen einige der unschuldigen Naturkinder aus dem Garten Eden denn doch auf, aber wie Bougainville erfuhr, entsprang er nicht ihrem eigenen Naturzustand, sondern war von außen eingeschleppt worden:
“Von Aotourou [einem Tahitianer, der aus freien Stücken mit Bougainville nach Frankreich fahren wollte] hörte ich, daß ungefähr acht Monate vor unserer Ankunft ein englisches Schiff nach Tahiti gekommen war. Es war das unter dem Befehl von Monsieur Wallace stehende. Derselbe Zufall, der uns diese Insel entdecken ließ, hatte auch die Engländer hergeführt, während wir noch im Rio de la Plata lagen [...] Ich weiß nicht, ob die Einwohner von Tahiti, die durch die Engländer ihre erste Bekanntschaft mit Eisen machten, von ihnen nicht auch mit der venerischen Krankheit infiziert wurden, die wir bei ihnen verbreitet fanden.”
Dem Gesamtbild von Tahiti als Paradies auf Erden tat es keinen Abbruch, daß sich die Franzosen auf Tahiti die Franzosen geholt hatten. Als Bougainville 1771 in Paris seinen Reisebericht veröffentlichte, war der europäische Mythos von Tahiti geboren.

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