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Sonntag, 13. Januar 2013
Syrische Haruspizien (Fortsetzung)

Zu ihr gehört ja nicht allein die Freie Syrische Armee (FSA) des Syrischen Nationalrats in der Türkei, die sich vor allem aus Deserteuren von Assads Armee rekrutiert, sondern u.a. auch die Muslimbruderschaft und Ansar al-Islam, eine islamistische Gruppe von Kurden aus dem Irak, die von den USA selbst, aber auch von der EU und vom Weltsicherheitsrat als terroristische Vereinigung eingestuft wird. Im zweiten Halbjahr 2011 entstand als Ableger von al-Kaida im Irak eine neue Truppe, die zunehmend in Syrien mitmischt, die “Unterstützungsfront für das syrische Volk”, kurz an-Nusra genannt. CNN stufte sie mit bis zu 5000 Kämpfern gerade als “the most effective arm of the Syrian insurgency” ein. Aufschlußreich ist auch, was der österreichische Rundfunk ORF kürzlich über sie zusammengestellt hat:

“Die Al-Nusra-Front bekennt sich nachvollziehbar zu bisher weit über 500 Anschlägen. Die Schätzungen zu ihrer Größe reichen von ein paar hundert bis ein paar tausend Kämpfern, Tendenz steigend. Während die Gruppe zunächst auf Großanschläge mit Hilfe von Selbstmordattentätern setzte - beispielsweise im März auf die Geheimdienstzentrale der Luftwaffe und das Hauptquartier der Kriminalpolizei in Damaskus -, ist sie danach mehr und mehr zu Erschießungen und zum Einsatz kleinerer Sprengsätze übergegangen. Erklärtes Ziel der Terrororganisation ist laut Mitgliedern die Errichtung eines islamischen Kalifats in Anlehnung an die Zeit des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert [...] Die Al-Nusra-Front hat sich rasch regional und international mit anderen Terrororganisationen vernetzt. Sie gilt auch als Wunschziel von Dschihadisten aus Europa und von der Arabischen Halbinsel [...] Diese Aussicht alarmiert viele Syrer, von den Minderheiten der Christen, Alawiten und Schiiten bis hin zu den traditionell konservativen, aber toleranten Sunniten, die eine erzreligiöse Herrschaft im Stil der Taliban in Afghanistan befürchten. Die Kurden riegelten daher bereits ihr Viertel in Aleppo ab, und in der Grenzstadt Ras al-Ain kam es im November zu heftigen Zusammenstößen zwischen Kurden und Al-Nusra-Kämpfern.”

Mit anderen Worten rüsten (a) die internationalen Geldgeber und Unterstützer der Rebellen gegen Assads Regime, das Emirat Qatar, Saudi-Arabien, die Türkei und die USA, auch dschihadistische Terrororganisationen aus, (b) scheinen viele Syrer diese Rebellen inzwischen mehr zu fürchten als Assads Regierungstruppen und (c) scheinen sich die verschiedenen Fraktionen der Rebellen mittlerweile mancherorts gegenseitig zu bekämpfen. Alle drei Erkenntnisse (so sie denn zutreffen) passen so gar nicht zum bisherigen Tenor in unserer Berichterstattung über den Syrienkrieg.
Es kommt womöglich noch etwas hinzu, was ebenfalls dafür sorgt, daß Nachrichten aus Syrien bei uns seltener werden, und das ist die schwindende Siegeszuversicht der Aufständischen. Trotz aller materiellen Unterstützung, die sie erhalten, reichen ihre finanziellen Mittel nämlich anscheinend nicht mehr für eine lange Weiterführung des Kampfes und die Versorgung der von ihnen inzwischen eroberten und kontrollierten Gebiete aus, berichtete die Asia Times letzte Woche in einem längeren Artikel. Darin heißt es u.a.:

“A number of reports indicate that the government forces purposefully surrendered territories with little to no resistance. They would have done this in order to shorten their communication lines and to cut some expenses - but also in order to let the population taste a nightmare version of freedom which would conceivably lead many people to choose Assad's rule as the lesser evil [...] recent reports indicate that the rebels themselves may actively contribute to such an outcome. In-fighting, looting and random abductions have become the order of the day in many places.”

Augenzeugenberichte im Guardian von Ende Dezember bestätigen genau dieses Bild. Die angekündigten Befreier verhalten sich zunehmend wie Wegelagerer, Kriminelle und Besatzer, erpressen Beute mit Gewalt und gehen sich sogar gegenseitig an die Gurgel. “Even the people are fed up with us. We were liberators, but now they denounce us and demonstrate against us”, klagte etwa ein übergelaufener Oberst in Aleppo.
“The problem is us!”, sagte ein anderer. “We have battalions sitting in liberated areas who man checkpoints and detain people... They have become worse than the regime.”
Beobachter befürchten, was der UN-Sondergesandte Brahimi kürzlich gewohnt diplomatisch so ausdrückte: 2013 könnte für Syrien ein blutiges, aber nicht entscheidendes Jahr werden.

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Syrische Haruspizien

Dafür, daß es momentan wohl der brisanteste Konfliktherd weltweit ist, hört man in unseren Nachrichten in letzter Zeit verdammt wenig aus Syrien und seinen Nachbarländern. Nicht einmal der notorische Großdemagoge Achmadinedschad ist mehr zu vernehmen. Ist er ein halbes Jahr vor der Wahl eine “lame duck” wie amerikanische Präsidenten ohne Wiederwahlmöglichkeit? Was ist los im Iran? In einem Land, dem alle eine Schlüsselrolle in Syrien zumunkeln, über dessen innere Verhältnisse wir durch unsere westlichen Berichterstatter aber seit so langen Jahren schon so herzlich wenig erfahren. Ein Land, in dem nach dem Bild, das sie uns vermitteln, so gut wie alles unter der Burka oder den braunen Kaftanen der schiitischen Mullahs verdeckt oder erstickt wird. So hört man immer wieder von Greuelurteilen, nach denen Frauen und (in geringerer Zahl) Männer, die fremdgegangen sind, zum Tod verurteilt und barbarisch gesteinigt werden.
Umso mehr rieb man sich die Augen, wenn man sich letzte Woche auf arte den Film der Iranierin Sudabeh Mortezai “Im Basar der Geschlechter” ansah und daraus erfuhr, daß es in dieser atavistischen Rechtssprechung zugleich die völlig legale Institution der “Ehe auf Zeit” gibt, die beliebig oft auf jede beliebige Länge abgeschlossen werden kann, von 99 Jahren bis hinab zu einer halben Stunde. Der klingende arabische Terminus nikah al-mut’a bedeutet schlicht und klar “Genußehe”. – Wie schräg/bigott/heuchlerisch/pragmatisch ist das denn? Bedeutet das nichts anderes als die theologische Sanktionierung von Prostitution durch den schiitischen Klerus? Keineswegs, sagen die Mullahs und Ayatollahs im Film, denn eine Frau muß nach jeder Zeitehe mindestens zwei Monatsblutungen abwarten bis zur nächsten. (Damit es im Fall von Nachwuchs keine unklare Vaterschaft gibt, versteht sich. Für Männer gilt die Wartezeit nicht.) Außerdem hat der Mann jeweils den vollen Brautpreis – in Relation zur vereinbarten Dauer der Ehe – zu zahlen. Nähere Bestimmungen lassen sich auf vielen Seiten im Internet nachlesen. Vermutlich war bloß ich so ahnungslos – und deshalb auch so verblüfft über diese anscheinend völlig normale Institution im Iran, über die sich Männer und Frauen und Geistliche im Film in aller wünschenswerten Offenheit äußern. Iran, das unbekannte Wesen.

Nun aber Syrien. Seit dort vor mehr als einem Jahr der offene Bürgerkrieg ausbrach, wurden wir – anfangs fast allabendlich – mit verwackelten Filmchen aus den Handys der Aufständischen über Greueltaten der syrischen Armee, Offensiven und Eroberungen der Rebellen versorgt, denn Assad, klar, ist der Böse. Angesichts dessen, was man hier in Erfahrung bringen konnte, und bei der anfänglichen Kräfteverteilung konnte daran auch kaum Zweifel aufkommen. Wie es zunächst aussah, wurden da doch ausschließlich nahezu unbewaffnete Demonstranten von der Armee eines Diktators zusammenkartätscht. Außerdem wird das Regime Assads ja von anderen “Bösen” unterstützt: von der Volksfront zur Befreiung Palästinas, von der Hisbollah im Libanon, vom Iran und von Rußland.
Im März 2012 warf Human Rights Watch dann aber den Rebellen begründet vor, ihrerseits Gefangene zu foltern, Lösegelder zu erpressen und willkürlich Erschießungen vorzunehmen. Die Lage sei inzwischen “wesentlich unübersichtlicher”, entschuldigte gewissermaßen der Spiegel. “Zudem haben sich in den Provinzen inzwischen Dutzende kleiner, unabhängiger Milizen gegründet, deren Handeln sich jeder Kontrolle entzieht und zumindest in Teilen von Rachegelüsten und lang gehegtem Hass aufs Regime bestimmt wird.”
Die Formulierung “Dutzende kleiner, unabhängiger Milizen” klingt fast verharmlosend, wenn man sich einmal anschaut, welche “Koalition der Willigen” die USA in diesem Fall zusammengebracht haben, um wieder einmal Freiheit und Demokratie und Menschenrechte und sonst nichts in ein armes unterdrücktes Land des Nahen oder Mittleren Ostens zu bringen.

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Samstag, 15. Dezember 2012
Wenn ein Bank-Anwalt mal Klartext spricht

Wenden wir uns lieber wieder ergiebigeren Themen zu, wie etwa dem größten deutschen “Geldinstitut”.

Eine seriöser klingende Beschönigung konnte aber auch niemandem zu diesem Raubunternehmen einfallen, das in seiner braunen Geschichte viel Geld bei “Arisierungen” jüdischer Firmen verdiente und Auschwitz mitfinanzierte, das in der jüngsten amerikanischen Immobilienkrise unter Federführung seines jetzigen Vorstandsvorsitzenden Jain anderthalb Millionen Familien aus ihren Eigenheimen zwangsräumen ließ und das sich über seine Fondsgesellschaft DWS neuerdings am Landraub in Afrika beteiligt. Einen Prozeß wegen “betrügerischer Erschleichung staatlicher Garantieleistungen” in den USA hat die Deutsche Bank dieses Jahr durch Zahlung von 200.000.000 $ abwenden können. Wegen ihrer Beteiligung an der jahrelangen betrügerischen Manipulation des Libor kommt ähnliches wohl noch auf die saubere Bank zu, und in dieser Woche nun veranstaltete die Frankfurter Staatsanwaltschaft eine Großrazzia in ihrer Zentrale und einigen Filialen: “Zwei Reisebusse der Polizei und zig Mannschaftswagen an der Straße aufgereiht, Beamte mit griffbereiten Waffen im Foyer postiert, insgesamt 500 Staatsanwälte, Steuerfahnder und Polizisten in den Zwillingstürmen und anderen Bürogebäuden unterwegs”, berichtete die Welt. Wieder geht es um Steuerhinterziehung und diesmal auch um Geldwäsche in Höhe von 800.000.000 Euro. Ermittelt wird auch gegen Vorstandschef Fitschen. Der aber versicherte der Bild-Zeitung seines Vertrauens, er sei “den Prinzipien des ehrbaren Kaufmanns stets treu geblieben. Insofern fühle ich mich ungerecht behandelt”. Ach Gott, und jetzt hat die arme Deutsche Bank auch noch einen Prozeß gegen die armen Erben von Leo Kirch verloren, obwohl sie sich doch so sicher war, diesmal nicht verknackt werden zu können, daß sie in diesem Fall einen außergerichtlichen Vergleich sogar abgelehnt hatte. Was mich aber in dem Bericht der Tagesschau darüber fast aus den Pantinen gehauen hat, war das Statement des DB-Anwalts Heckel nach der Urteilsverkündung:

“Wir werden uns mit aller Energie weiterhin dafür einsetzen, daß das am Schluß rauskommt, was wir für richtig halten.”

Was für ein Rechtsverständnis spricht sich hier aus?! Ein Verfahren ist dem zufolge nicht dann zu Ende, wenn von einem Gericht ein den Gesetzen entsprechendes Urteil gefällt wurde, sondern wenn “das am Schluß rauskommt, was wir für richtig halten.”
Zu was für Dummheiten einen die Arroganz der Macht manchmal verleiten kann. Müßte die zuständige Anwaltskammer dem Kollegen nicht wegen rufschädigender Äußerungen die Zulassung entziehen?

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Donnerstag, 6. Dezember 2012
Eindrucksvolle Zahlen

“Uii, da sage nochmal jemand was gegen Putin”, entfuhr es der Herzogin gestern abend bei der Tagesschau.
Wie war das noch: “Diktaturen ist der Nachweis wichtig, daß die Freiheit, Nein zu sagen, bei ihnen nicht ausgestorben ist... Diktaturen können von der reinen Zustimmung nicht leben... Zwei Prozent weisen nach, daß zwar die Guten in ungeheurer Mehrheit, doch auch nicht gänzlich ungefährdet sind.”
98% ermittelte Jünger in seinen Überlegungen im Waldgang-Essay als gewünschtes Wahlergebnis in Diktaturen. Und mit wie vielen Stimmen wurde Frau Merkel gestern als Vorsitzende einer demokratischen Partei im Amt bestätigt? Na, so ein Zufall: 98%.

Was mich nun am meisten interessiert, ist die Frage, ob “die Märkte” ihr tatsächlich noch die Zeit lassen, um ihre Wiederwahl zur Kanzlerin ebenso glatt und geschmiert über die Bühne gehen zu lassen, oder ob sie ihr die Petersilie verhageln, indem sie entweder den richtig großen Schuldenschnitt oder den Totalzusammenbruch Griechenlands schon vor dem nächsten September herbeiführen. Wer schon einmal eine Schwangerschaft miterlebt hat, weiß, wie lang neun Monate werden können.


mal nicht im Hosenanzug

Bislang verfolgen alle Akteure ja noch die Taktik, die Katze scheibchenweise aus dem Sack zu lassen. Wie lange hat denn Finanzminister Schäuble (der – unvergessen – vor zwölf Jahren wegen seines vergeßlichen Umgangs mit Geld als Vorgänger Merkels gestürzt ist) immer wieder beteuert, die ganzen Griechische-Banken-Hilfen würden die deutschen Steuerzahler nichts kosten? Seit dem letzten Ministertreffen in Brüssel kosten sie uns nun doch etwas.
Mein Gott, 730 Millionen. Erdnüsse! Das ist ja nur geringfügig mehr als der Etat des Justizministeriums. (Das könnten wir eigentlich auch ganz einsparen, die Leutheuser-Schnarrenberger geht dem Friedrich sowieso nur auf den Senkel mit ihren Bedenken gegen seinen Überwachungsstaat.)
Die jetzt als “zumutbar” eingestufte Summe ist aber nur die Einstiegsdroge, ein erstes Appetithäppchen, damit wir uns bei folgenden größeren Brocken nicht etwa verschlucken und das große Aufstoßen kriegen, wenn die Politiker uns nach und nach die ganze dicke Wurst in den Rachen stopfen werden.
Daß es so kommt, pfeifen mittlerweile sogar schon die Wirtschaftsweisen von den Dächern. Wir werden gleich dreifach gemolken werden, stellte die FAZ in einem lesenswerten Artikel fest: “als Steuerzahler, Gläubiger der Krisenstaaten und - nicht zuletzt - als Sparer und Besitzer von Geldvermögen.
Die Banken und Versicherungen haben [dagegen] ihre Lobbyarbeit offenbar gut erledigt... Sowohl in der Bankenkrise als auch in der Staatsschuldenkrise haben die Gläubiger - das waren vor allem Banken, Versicherungen und Fonds - die Politiker davon überzeugen können, dass das Risiko, sie pleitegehen zu lassen, zu hoch sei.”
Der Bankenverband gibt an, beim ersten Schuldenschnitt für Griechenland hätten die Banken über 100 Milliarden Euro abschreiben müssen. Nach Berechnungen der Allianz, so die FAZ, seien es aber lediglich 25,5 Milliarden gewesen.
“‘Eine Gläubigerbeteiligung ist auch nach den Regeln des ESM nicht vorgesehen’, sagt Oliver Holtemöller, Wirtschaftsprofessor vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. ‘Man kann also insgesamt sagen, dass die Kosten der Krise überwiegend dem Steuerzahler aufgebürdet werden.’”

Wie hoch die Gesamtkosten am Ende ausfallen werden, darüber gibt es bislang nur ungefähre und weit auseinanderliegende Schätzungen. Am konservativsten rechnet natürlich Schäubles Finanzministerium und beziffert den schlimmsten Ausfall mit gut 70 Milliarden. Ein Bericht in den Deutschen Mittelstandsnachrichten kommt auf “mittlerweile 93,67 Milliarden Euro” mittel- und unmittelbarer deutscher Kredite für Griechenland. Der Bund der Steuerzahler beziffert in dem FAZ-Artikel das Haftungsrisiko Deutschlands insgesamt auf 509 Milliarden Euro. Das wären mehr als 83% der für dieses Jahr geschätzten Gesamteinnahmen des Bundes. M.a.W. von 100 Euro, die der deutsche Fiskus in diesem Jahr einnimmt, dürfte er bis zu 83 Euro den Gläubigern überweisen, bei denen er für Griechenland haftet. Blieben uns noch 17 von 100. Der nächste Bundeshaushalt dürfte dann erheblich anders aussehen als in Schäubles veröffentlichten Plänen.
Wird er dann wieder einmal den “eisernen Sparer” geben? (Oder wird Steinbrück ihm in der nächsten großen Koalition diese Rolle abnehmen?) Oder sind nach den gewaltigen christlich-liberalen Steuererleichterungen der letzten fetten Jahre für die nächste Legislaturperiode schon die christlich-sozialdemokratischen Steuererhöhungen vorprogrammiert?
“Kurzfristig dürfte die Politik die zusätzlichen Belastungen des Staatshaushalts über eine höhere Staatsverschuldung in Deutschland ausgleichen”, meint DIW-Ökonom Fichtner in der FAZ. “‘Langfristig wird die Politik eher die Steuern erhöhen, als die Ausgaben zu kürzen’... Ausgabenkürzen bedeutet für Politiker immer eine Einschränkung der Möglichkeit, Wohltaten zu vergeben - und das versuchen sie zu vermeiden.
‘Je nach Ausgestaltung könnte die Einkommensteuer die Reicheren stärker belasten, die Mehrwertsteuer würde die einkommensschwächeren Bevölkerungsteile überproportional belasten, da diese einen größeren Teil ihres Einkommens für den Konsum verwenden’, sagt Fichtner. Diese Abwägung wäre eine politische Entscheidung.”

Und wie die ausgehen wird, kann man schon längst deutlich erkennen, bei uns und an der Politik in den Krisenländern: “Eine Bevölkerungsgruppe, die im Prinzip auch stärker an den Lasten der Krise beteiligt werden könnte, kommt offenbar wie die Staaten-Gläubiger mit einem blauen Auge davon. Das sind die reichen Teile der Bevölkerung in den Krisenländern. Nach wie vor funktioniert beispielsweise in Griechenland die Besteuerung der Reichen nicht richtig, wie alle Untersuchungsberichte übereinstimmend attestieren. Zum Teil ist das Geld der Vermögenden auch längst im Ausland und steigert etwa in London die Preise für Wohnungen.”

Wie die Faust aufs Auge passen dazu die vielen Meldungen der vergangenen Tage, denen zufolge Griechenlands vormaliger Ministerpräsident Papandreou durch seine 89-jährige Mama unter einem Decknamen 550 Millionen Euro Familienvermögen schwarz in die Schweiz schaffen ließ. “Maria Panteli, Büroangestellte” ist nur einer der annähernd 2000 Namen von reichen Griechen auf der sogenannten Hot doc/Lagarde-Liste, die in den neun Jahren von 1998-2007 rund 13 Milliarden Euro auf Schweizer Konten verschoben haben. Das ist die Art, in der sich die Reichen an der Rettung des geliebten “Vaterlands” beteiligen, das ihnen allemal an dem Arsch vorbeigeht, dem das Hemd näher ist als der Rock.

Dazu fällt einem doch gleich Ludwig Thomas Gedicht an die “Vaterlandslosen Gesellen” ein:

Hebt wieder einer gegen euch die Hand,
Und spricht, ihr Armen habt kein Vaterland,
So steht doch auf und fragt ihn einmal frei,
Was unser Deutschland für den Reichen sei!

Ist es das Land, das er mit Arbeit schmückt...
Ist es das Land, das er im Herzen liebt,
Für das er duldet und für das er gibt?...

Und nicht das Land, in dem er Schätze rafft?
Und nicht das Volk, das mühsam für ihn schafft?
Nicht deutsch, nicht Heimat, nur ein Fetzen Welt,
So feil, wie alles, um sein schnödes Geld!

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Dienstag, 20. November 2012
"They are not simply war criminals; they are fools."

• “Der Mensch... muß die Punkte kennen, an denen er sich seine souveräne Entscheidung nicht abkaufen lassen darf."
So ist es.
• "Man kann sich nicht darauf beschränken, im oberen Stockwerk das Wahre und das Gute zu erkennen, während im Keller den Mitmenschen die Haut abgezogen wird... – Um solche Dinge schwindelt man sich nicht herum."
Yea.
• Das Vorgedachte, Vorgeschriebene (Funktionale) wird "immer wieder von Menschen durchbrochen, sei es durch ihre Güte, sei es durch ihre Freiheit oder durch ihren Mut zur unmittelbaren Verantwortung."

Stimmt. Solchen Mut zum Aufstehen und zur Gegenrede bewies der dienstälteste Labour-Abgeordnete im britischen Parlament (und Mitglied des Jewish Labour Movement), Gerald Kaufman, als er schon beim letzten Einmarsch der israelischen Armee in den Gaza-Streifen 2009 in einer Rede vor dem Parlament israelische Soldaten mit Mördern und Nazis gleichsetzte:
"My grandmother did not die to provide cover for Israeli soldiers murdering Palestinian grandmothers in Gaza... The spokeswoman for the Israeli army, Major Leibovich, was asked about the Israeli killing of, at that time, 800 Palestinians. The total is now 1,000. She replied instantly that '500 of them were militants'. That was the reply of a Nazi."
In diesen Tagen ist es angebracht, die Rede Kaufmans noch einmal zu Gehör zu bringen.



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Mittwoch, 7. November 2012
Nach der Wahl in die Wälder

1 Licht im Nebel

Nur 2.600.000.000 verpulverte Wahlkampfdollar später bleibt erwartungsgemäß alles beim Alten. Nach Berechnungen der SZ waren es sogar 6 Milliarden. Allerdings behauptet die Zeitung auch, Geld würde keine Präsidenten machen, und die "angepißten Milliardäre" wie Donald Trump würden sich nur schwarz ärgern. Ersteres darf man getrost nach wie vor bezweifeln. Wes Geistes Kind dieser Vollpfosten Trump ist, offenbarte er ganz ungeniert bei seinem Twittern zur Wahl. Hier eine Auswahl der Tweets von @realDonaldTrump am 7.11.:
"We can't let this happen. We should march on Washington and stop this travesty. – Lets fight like hell and stop this great and disgusting injustice! The world is laughing at us. – This election is a total sham and a travesty. We are not a democracy! – It's freezing and snowing in New York--we need global warming! – The concept of global warming was created by and for the Chinese in order to make U.S. manufacturing non-competitive. – Beijing had a bigger celebration than Chicago last night. The Chinese are happier with the election than we are..."

Kann man Amerika zur Wiederwahl Obamas gratulieren? Vielleicht. Man müsse eben, schreibt die Zeit, “auch diesen Präsidenten als Teil eines Systems begreifen, das eine gefährliche Nähe zwischen Geld und Macht kennzeichnet.”
Dem Rest der Welt kann der Ausgang dieser Wahl eigentlich ziemlich egal sein oder auch gerade nicht, denn die Außenpolitik der USA wird sich nicht bessern, das weltweite Morden der Amerikaner und ihrer Verbündeten wird so oder so weitergehen. In Afghanistan z.B. noch über 2014 hinaus: “auch nach einem Abzug der Kampftruppen wird die NATO in Afghanistan weiterhin mit Soldaten präsent sein [...] - auch Deutschland”, hieß es gerade erst in der Sendung “Streitkräfte & Strategien” auf NDR-Info. Und weiter: “Dazu kommt, dass die Mitgliedsstaaten der NATO, die sich an einer Nachfolgemission beteiligen, die Zusage der afghanischen Regierung verlangen, dass ihre Soldaten strafrechtlich nicht durch afghanische Behörden zur Verantwortung gezogen werden und praktisch Immunität genießen.” – Wozu, wenn nicht, um sie im Fall von Kriegsverbrechen vor einer strafgerichtlichen Verfolgung zu bewahren?
Und Obama? Hat er etwa sein ausdrückliches Wahlversprechen wahr gemacht, Guantanamo zu schließen? Ach was, im Gegenteil: “Ende 2011 hat der Präsident ein Gesetz unterzeichnet, mit dem er den Verteidigungshaushalt für 2012 absegnete. Zugleich verleiht das Gesetz der Regierung die Befugnis, wegen terroristischer Aktivitäten angeklagte US-Bürger und Ausländer zeitlich unbegrenzt zu inhaftieren [...] Die gezielte Tötung von Nicht-US-Bürgern hat Obama zudem mit dem vermehrten Einsatz von Drohnen in Pakistan, Jemen und Somalia drastisch ausgeweitet.” (Le Monde diplomatique, Okt. 2012)
In einem Pentagon-Papier für den US-Kongreß vom April dieses Jahres heißt es:
“Unmanned Aircraft Systems have become a critical component of military operations.” Anschließend zählt der Bericht insgesamt 6316 bereits einsatzbereite größere oder kleine unbemannte Flugkörper auf und gibt an, das US-Verteidigungsministerium wolle ihren Bestand in den kommenden fünf Jahren auf fast 8400 erhöhen. Inzwischen bildet die US Air Force mehr Drohnen- als Kampfjetpiloten aus.
Interessante Fußnote: Gerade unter den Tausende Kilometer vom Kampfgebiet entfernt in sicheren Bunkern sitzenden Fernsteuerpiloten der Drohnen soll es prozentual den größten Anteil von “posttraumatischen Belastungsstörungen” in der US-Armee geben. Und weiter: “Die USA haben mehr als 2.000 tote Soldaten am Hindukusch zu beklagen, die Hälfte starb während Obamas Amtszeit. Hinzu kommen die körperlich und seelisch Schwerstverletzten. Wie sehr dieser Krieg an die Substanz der Streitkräfte geht, ist daran abzulesen, dass jährlich mittlerweile mehr US-Soldaten bzw. Veteranen von eigener Hand sterben, als im Kampfeinsatz.” (Streitkräfte & Strategien, 3.11.12)
Eine weitere neue Entwicklung belegt ebenfalls das Scheitern der us-geführten westlichen Allianz in Afghanistan: immer mehr ISAF-Soldaten werden von den von ihnen selbst ausgebildeten vermeintlichen Verbündeten in der afghanischen Armee und Polizei erschossen.


Auf einem anderen Schauplatz ist nicht auszuschließen, daß es im kommenden Jahr zu dem längst angedrohten Überfall Israels (und der USA) auf Iran kommen könnte. Als Israels Regierungschef Netanjahu im März Washington besuchte, um die USA zur Unterstützung eines israelischen Erstschlags gegen das iranische Atomprogramm zu drängen, hat Obama auf der Jahrestagung des American Israel Public Affairs Committee ausdrücklich erklärt: “Die Führung Irans sollte wissen, dass ich keine Politik der Eindämmung verfolge, sondern dass meine Politik darin besteht, Iran daran zu hindern, in den Besitz von Kernwaffen zu gelangen. Und ich habe während meiner Präsidentschaft immer wieder deutlich gemacht: Ich werde nicht zögern auch Gewalt anzuwenden, wenn es notwendig ist, die USA und ihre Interessen zu verteidigen.”
(zit. nach Streitkräfte & Strategien vom 24.3.12)
Weiter wurde in der Sendung berichtet: “Nach Medienberichten sind die USA inzwischen bereit, Israel die für einen effektiven Angriff benötigten modernsten bunkerbrechenden Bomben und Tankflugzeuge zu liefern. Sozusagen als Gegenleistung für die israelische Bereitschaft, einen möglichen Angriff auf den Iran auf das kommende Jahr zu verschieben [...] sollte es nicht zu der von Washington gewünschten diplomatischen Lösung kommen, dann könnte im kommenden Jahr womöglich Israel zuschlagen – diesmal mit Rückendeckung und aktiver Unterstützung der USA sowie mit modernster Waffentechnologie. Israel verfügt nun quasi über einen Blanko-Scheck der USA. Die Schwelle für eine kriegerische Auseinandersetzung ist gesunken.”


Und in D’land sollen wir nächstes Jahr die Wahl zwischen der eiskalten Hundeschnauze Steinbrück und der Eisernen Mutti Merkel haben, die durchaus bereit zu sein scheint, die Bundeswehr nach Mali und damit in ein zweites Afghanistan zu schicken, um dafür Monsieur Hollande zu mehr Nachgiebigkeit in Euro-Fragen geneigt zu machen. Da kann man sich doch fast nur wünschen, daß dieses Europa auseinanderbrechen möge, bevor ein solches “Weiter so!” noch fortbesteht.
“Man kann überhaupt nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte”, pflegte ein alter Bekannter schon vor langer Zeit zu sagen, und er hätte heute noch immer recht. Man möchte, wann immer es geht, nur noch den Fluß hinauf und in die Wälder.

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Donnerstag, 6. September 2012
"Eine Bank lenkt die Welt"
Nach so viel Spitzwegerei im vergangenen Monat heute endlich einmal ein relevanterer Aufruf:
Wer es gestern verpaßt hat, auf arte die Dokumentation über Stellung und Bedeutung von Goldman-Sachs zu sehen, sollte das möglichst nachholen, so lange der Film noch auf arte+7 zu sehen ist.

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Freitag, 13. Juli 2012
Ein Freitag zum Schwarzsehen
Abergläubischen Seelchen reicht ja schon das Datum des Tages, um schwarzzusehen. Das allein reicht mir nicht, aber es reicht mir. Ob ich nun wie gestern nach Europa gucke oder den Blick ins Inland richte. Diese Republik hatte, wie andere auch, immer ihre Skandale. Aber hatten wir schon einmal so viele eklatante auf einmal wie nur in den letzten Wochen? Ich erinnere lediglich an:
• den wulffigen Abschied des Bundespräsidenten Wulff

• das Verfahren, wie unter verfassungsgerichtlich festgestellter Mißachtung des Parlaments und unter dem Deckmäntelchen der Stabiliserung der Finanzen in Euro-Europa (ESM) wesentliche demokratische Mitbestimmungs- und Kontrollrechte abgeschafft werden sollen

• die Änderung des Meldegesetzes in letzter Minute

• Abwesenheit bzw. Nicht-Debattier- und Abstimmungsverhalten der “Volksvertreter” im Bundestag

• Niebels “Fliegenden Teppich”, vergleichsweise eine Petitesse oder Spitze eines Eisbergs?

• die Lieferung weiterer atomar aufrüstbarer U-Boote an Israel, aber darüber regt sich ja kaum noch jemand auf

• das Gebaren der Geheimdienste u.a. bei den sogenannten “Fahndungspannen” in der rechten Szene, ganz und gar keine Petitesse, aber fragt jemand nach der politischen Verantwortlichkeit des Innenministers als oberstem Dienstherrn?

• Gestern Ermittlungen gegen Ex-Ministerpräsident Mappus wegen Verfassungsbruch und Veruntreuung von Millionen. Anscheinend ein besonders schwerer Fall von unbelehrbarer Arroganz der Macht, wie man heute seinen ersten Äußerungen nach der Razzia der Staatsanwaltschaft in der Bildzeitung entnehmen kann. (“Ich habe vom ersten bis zum letzten Tag meiner Amtszeit alles in meiner Macht stehende getan, um zum Wohle unseres Landes zu arbeiten.” – “Ich stehe selbstverständlich weiterhin zu dem, was ich auch im Untersuchungsausschuss gesagt habe: Ich halte den Erwerb der En-BW Anteile von der EdF weiterhin für politisch und ökonomisch richtig. Natürlich habe ich zu respektieren, dass der Staatsgerichtshof den Rechtsweg, den uns die Kanzlei Gleiss Lutz gewiesen hat, für verfassungswidrig erklärt hat.” – “Bild: Die Ermittlungen können Monate dauern. Wie wollen Sie da beruflich wieder auf die Beine kommen? Mappus: Gehen Sie davon aus, dass Sie sich darüber keine Sorgen machen müssen.”)
Mit seiner letzten Aussage dürfte Mappus recht haben. Das ist es ja gerade. Wer in diesem Land reich und mächtig genug ist, kann mit der Justiz immer einen Deal schließen, der mit gerechter Bestrafung für nachweisliche Vergehen nichts zu tun hat.
Und welcher Schwindel fliegt morgen auf?




Wenn man die Zeit aufwendet, auch die vielen, vielen Leserzuschriften unter den jeweiligen Meldungen in den Medien zu lesen, bekommt man rasch den Eindruck, es gibt nur noch resigniert sarkastische auf der einen und entrüstete Wutbürger auf der anderen Seite. Keiner, aber auch keiner verteidigt noch, was Berufspolitiker in und mit diesem Land derzeit verbrech anstellen. Doch weil sie sich für alternativlos halten, betreiben Politiker vor allem anderen den persönlichen Machterhalt oder lassen sich weiterhin bereitwillig vor die Karren diverser Lobbies und kleiner, aber potenter Interessengruppen spannen, wechseln im Fall eines ungünstigen Ausgangs sogenannter “Denkzettelwahlen” mal eben die Koalition und mauscheln weiter wie zuvor (oder wechseln, wenn gar nichts mehr geht, auf einen üppig dotierten Posten in der Wirtschaft). Angesichts all dessen regt sich in mir eine spontane Wunschvorstellung. Wie wäre es, wenn bei der nächsten Bundestagswahl die Mehrheit nicht den Urnen resigniert fernbliebe, sondern jede und jeder zur Wahl ginge und wirklich jede(r) einen ungültigen Wahlzettel abgeben würde? Vertreter sämtlicher Parteien: abgewählt.
Das ist natürlich keine Lösung und es würde noch nichts wirklich ändern, aber ein gehöriger Schreckschuß vor den Latz der Politikerkaste wäre so ein unisono NEIN schon. Vielleicht könnte es sogar zum Startschuß für ein gründlicheres Nachdenken darüber werden, wie wir unsere Gesellschaft denn anders und besser einrichten könnten.
Jedenfalls ist es längst an der Zeit, den guten Lichtenberg wieder in Erinnerung zu rufen:

„Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen,
es muss anders werden, wenn es besser werden soll.“

(Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, Heft K, 1793-96)

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Donnerstag, 12. Juli 2012
"Ach Europa!"
Enzensberger hat Europa in seinem Buch vor 25 Jahren schon eine interessante Diagnose gestellt und sie ausgerechnet einem fiktiven EU-Präsidenten aus dem mittlerweile zunehmend euroskeptischen Finnland in den Mund gelegt:

Wir haben jahrzehntelang eine Chimäre verfolgt: die europäische Einheit. - Die Politiker haben jahrzehntelang auf dieses Europa der Manager, der Rüstungsexperten und der Technokraten gesetzt... Nur haben sie die Rechnung ohne die Bewohner unserer schönen Halbinsel gemacht.
Die logische Folge war, daß Brüssel zu einem riesigen supranationalen Wasserkopf wurde. Die Kommissionen, die Ausschüsse und Unterausschüsse spielten in ihren Glaskästen ein absurdes Milliarden-Bridge, natürlich alles ohne demokratische Legitimation.
Ich will gar nicht bestreiten, daß auch einiges geleistet worden ist. Wir haben es zu einheitlichen Lebensmittelfarben gebracht, und die Zollformulare wurden standardisiert. Aber natürlich mußte der Brüsseler Schwachsinn in einer gigantischen Pleite enden. Wir zahlen heute noch dafür.

Manchmal lohnt es sich, frühere Utopien Jahre später noch einmal anzusehen. Viele haben sich inzwischen erledigt, zeigen, wie grotesk man im Prophezeien danebenliegen kann. Manche aber haben sich in der Zwischenzeit auf geradezu gespenstische Weise bewahrheitet, besonders die negativen; die sind fast immer eine sichere Bank.
Überlass Politikern, Ökonomen, Büro- und Technokraten eine große Idee, und sie werden sie kleinmahlen bis sie scheitert.

Gebäude der EU-Kommission, Brüssel

Enzensberger hat all dem, wofür der Name "Brüssel" in Europa steht, damals schon (oder wieder) etwas entgegengestellt, das er kurz auf die saloppe Formel brachte: "Der Mischmasch ist unsere endgültige Gestalt."
Erklärend berief er sich auf einen der großen Kulturgeschichtler des 19. Jahrhunderts, auf Jacob Burckhardt. Der Schweizer hat in seinen nachgelassenen Weltgeschichtlichen Betrachtungen 1869 geschrieben:

„Retter Europas ist vor allem, wer es vor der Gefahr der politisch-religiös-sozialen Zwangseinheit und Zwangsnivellierung rettet, die seine spezifische Eigenschaft, nämlich den vielartigen Reichtum seines Geistes, bedroht.“

(Weltgeschichtliche Betrachtungen, Historische Fragmente aus dem Nachlass, Bd. 7, S. 370)

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Mittwoch, 11. Juli 2012
... und päpstlicher Golden Shower
Satire, Karikaturen über Religion? Die sollen sich doch nicht so aufregen, denen fehlen Toleranz, Aufklärung, Humor. So in etwa lautete, gut erinnerlich, das Echo bei uns auf die wütende Reaktion in der muslimischen Welt über die Mohammed-Karikaturen in Jyllandsposten. Doch wehe die Satire zielt auf die eigene Religion! Hunderte wütender Protestbriefe an den Deutschen Presserat, und direkt aus dem Vatikan gestern Verbotsantrag bei Gericht, geschwärzte Seiten, Zensur. Wo sind jetzt Toleranz, Aufklärung, Humor? Ausgerechnet Springer-Blatt Welt hat sich etwas von letzterem bewahrt und titelt: “Papst stoppt Pipi-Spaß”. Was kommt aber als nächstes von Religionsführer Ayatollah Ratzinger? Eine päpstliche Fatwa gegen Titanic-Redakteure? Herr Mosebach wird sich jedenfalls schon mal freuen.

"Ach Europa!" - hieß ein Essayband von Hans Magnus Enzensberger mit einem damals, 1987, utopischen Epilog, der den Titel trug: "Böhmen am Meer" und mit der vollständigen Wiedergabe von Ingeborg Bachmanns Gedicht endete. Er eignet sich also bestens zu einem kleinen Nachtrag zu meinem gestrigen Eintrag hier. Wie von Enzensberger gewohnt, findet sich so mancher bissige Seitenhieb darin. Über - immer willkommen - Berlin: "Viel ist nicht übriggeblieben vom kaputten Reiz dieser Stadt... Mit der Exterritorialität ist auch der Ludergeruch verschwunden." Über Helsinki, Prag und Bukarest. Über das liebe Den Haag heißt es lapidar: "Die Mischung aus Würde und Vulgarität, die man in den Niederlanden antrifft, ist einzigartig. Der Übergang zwischen Slum und Residenz ist fließend." Nur über das Haager Wetter, womit wir wieder beim Thema der letzten Tage wären, hat der Utopist kräftig geflunkert.

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