Mittwoch, 4. Februar 2015
Warum wir eine Landschaft auf Anhieb mögen oder nicht
Es handelt sich um das erste öffentliche Kunstwerk der beiden Moskauer Konzeptkünstler Vitaly Komar und Alexander Melamid, die 1978 aus der Sowjetunion in die Vereinigten Staaten emigrierten. Dort beauftragten sie Mitte der Neunziger Jahre ein Marktforschungsinstitut mit einer Umfrage nach den bevorzugten Gemäldesujets der Amerikaner. Die Ergebnisse setzten sie getreu in ein Ölgemälde um: America’s Most Wanted.
Später wiederholten sie das Experiment in weiteren Ländern, darunter Rußland, Island, Deutschland, die Türkei, Kenia und China. Die Einförmigkeit des durchschnittlichen Kunstgeschmacks weltweit, die dabei zutage trat, ist verblüffend: Abstraktes stand nirgendwo hoch im Kurs, gefragt war Gegenständliches bis Realistisches: Landschaft mit Tieren und (glücklichen) Menschen. Das Wunschgelände bestand fast überall aus einer parkähnlich offenen Graslandschaft mit einer größeren Wasserfläche, einigen Felsen und leicht zu erkletternden Einzelbäumen. Mit anderen Worten, so Orians, gefragt war die Savanne unserer Urahnen.
Gestützt auf solche und andere, wissenschaftlichere Untersuchungen unterstellt er in seiner Savannen-Theorie, daß unsere Vorliebe für bestimmte Landschaftsformen seit Urzeiten relativ unverändert geblieben ist und wir noch immer besonders positiv auf die Bestandteile und Eigenschaften einer Savannenlandschaft ansprechen, die unseren Vorfahren ein günstiges Habitat boten. Denn einmal entwickelte und in unserem Verhalten fest verwurzelte Muster können auch dann noch lange beibehalten und weitergegeben werden, wenn sie für die natürliche Auslese kaum mehr eine Rolle mehr spielen. Für unsere Art günstige Lebensräume und Umweltbedingungen erkennen wir noch immer intuitiv und blitzschnell.
Wenn ein umherwanderndes Tier eine neue Umgebung erreicht, muß es ziemlich schnell einschätzen, ob ihm diese neue Umgebung für das Überleben und Fortpflanzen eher günstig oder ungünstig ist, und sich auf der Grundlage dieser Einschätzung entscheiden, ob es bleibt oder weiterzieht. Für Orians besteht dieser Prozeß der Entscheidungsfindung aus drei Phasen. Gleich beim ersten Augenschein bilden wir Menschen uns blitzschnell und unbewußt eine Meinung darüber, ob uns ein Ort günstig erscheint oder nicht, ob wir ihn ‟mögen”. Grundlage für diese gefühlsmäßige Einschätzung sind Anzeichen und Signale, die wir aus der Umgebung aufnehmen oder ihr ablesen. Zu ihnen gehören die Verteilung von Dingen im Raum, Entfernungsverhältnisse, Vorhandensein von Wasser und Bäumen.
Für die zweite Phase, die nähere Erkundung der neuen Umgebung, glaubt der britische Geograph Jay Appleton (The experience of landscape, 1975) ein Raster von drei Kriterien gefunden zu haben, anhand dessen wir entscheiden, ob wir eine Umgebung sicher und umfassend erkunden können: Unter Prospect versteht er die Möglichkeiten, die Umgebung mehr oder weniger gut überblicken und einsehen zu können. Refuge meint einen sicheren Beobachtungspunkt, von dem aus wir sehen können, möglichst ohne selbst gesehen zu werden. Hazard schließlich definiert die Risiken, denen wir uns bei einer Erkundung des Terrains aussetzen müssen. In der abschließenden dritten Phase schließlich entscheiden wir, ob wir bleiben oder weiterziehen.
‟All over the world, in parks large and small, we find this to be so. Parks feature scattered trees and shrubs with a grassy understory.”
In Japan kommen 22 verschiedene Ahorn-Arten vor, doch nur drei von ihnen werden von japanischen Gärtnern mit Vorliebe gepflanzt, alle drei sind Arten, die von Natur aus eher in die Breite als in die Höhe wachsen. Der auf den japanischen Inseln dominierende Nadelbaum, die japanische Rotkiefer (Pinus densiflora), wird von japanischen Gärtnern entgegen ihrem natürlichen Wuchs durch Schnitt und Formung oft zu einem Solitär mit breit ausladender Schirmkrone kultiviert, der sich bereits relativ nah am Boden gabelt, so erinnert er, man kann es kaum leugnen, von fern an Akazien in der afrikanischen Savanne.
Orians testete an Hunderten Versuchspersonen in den Vereinigten Staaten, ob sie an Bäumen bestimmte Formen und Wuchsmerkmale bevorzugten und wenn ja, welche. Die Ergebnisse wiesen klar in eine Richtung: Besonders geschätzt wurden Bäume mit relativ niedriger Stammhöhe im Vergleich zu einer breit ausladenden, in Schichten gegliederten Krone. Medizinische und psychologische Studien haben sogar gemessen, daß sich unser Herzschlag beruhigt und verlangsamt, wenn wir weite, offene Landschaften mit losem Baumbestand betrachten...
‟Dein Herzschlag hat jedenfalls schon einen ganz ausgeprägten Ruhepuls erreicht”, sagte die Frau am Campingherd. ‟Vielen Dank für das begleitende Vorlesen, aber könntest Du wenigstens mal den Tisch decken, wenn Du schon kein Känguru erlegt hast, mein edler Jäger und Sammler?”
‟Na klar.”
‟Du hast aber schon davon gehört, daß die Savannen-Theorie mittlerweile als überholt gilt”, warf sie mir noch nach.
‟Nur weil man sie inzwischen um ein paar hunderttausend Jahre und an den Waldrand verlegt, würde ich sie noch nicht als widerlegt, sondern allenfalls als modifiziert ansehen. Darf ich dich im übrigen darauf aufmerksam machen, daß wir uns hier einen nach Appletons Raster geradezu idealtypischen Ort für die Geländebeurteilung ausgesucht haben?”
‟Hm, der Prospect könnte nicht besser sein”, stimmte sie zu.
‟Und im Schatten der großen Akazie auf der flachen Anhöhe, das Wäldchen im Rücken, können wir bestens beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.”
‟Und das Risiko, dem wir uns dabei aussetzen müssen, scheint einigermaßen gering zu sein, da wir sofort in den Wagen springen können, falls eine Büffelherde auftauchen sollte.”
‟Muh”, brüllte ich und hielt mir die Zeigefinger aufgereckt an die Schläfen wie Lieutenant Dunbar in Der mit dem Wolf tanzt.
‟Soll ich jetzt vor dem animalisch wilden Stier erzittern”, fragte sie sehr unbeeindruckt. ‟Mach lieber mal die Weinflasche auf. Mit dieser Leistung würde selbst aus dem Stier von Uruk noch ein Kulturheros.”
‟Ich Gilgamesch, Du Ischtar.”
‟Aber heute gibst du mir keinen Korb.”
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