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Freitag, 30. April 2010
SDF

“Le vieux Paris n‘est plus (la forme d‘une ville
change plus vite, hélas! que le cœur d‘un mortel)”

(Baudelaire: “Le Cygne”)

150 Jahre ist der Nahezu-Komplettumbau von Paris her, aber so lange hat die Öffnung und Lüftung der Stadtareale nicht angehalten. Und Barrikaden wurden durch die Pariser Kommunarden schon im Jahr nach Haussmanns Absetzung wieder errichtet, höher und solider als die alten. Vor allem aber ist die Stadt schon längst wieder viel zu knapp an (bezahlbarem) Wohnraum. In seinem Buch Die Erfindung von Paris (L‘invention de Paris, 2002), das uns ein bißchen als Führer dient, beschreibt Eric Hazan, wie Paris seit dem Mittelalter immer wieder seine Grenzen gesprengt hat. Insgesamt sechs Mauerringe haben es nacheinander umschlossen wie Zwiebelringe, und mehrfach wurden die alten, zu eng gewordenen Mauern geschleift und die dadurch entstandene Fläche anschließend zum innerstädtischen Verkehrsring ausgebaut, wie es beispielsweise Haussmann mit seinen Boulevards an Stelle der alten Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert tat. Draußen wurde dann in gehöriger Entfernung vom alten jeweils ein neuer Mauerring gebaut, der neu zu erschließende Wohnflächen einschloß. So hatte erst kurz bevor Haussmann seinen radikalen Stadtumbau begann, der damalige Premierminister Thier 1840 eine komplett neue Stadtbefestigung mit nicht weniger als 17 Forts weit draußen im Glacis errichten lassen. Als auch das Haussmannsche Paris wieder aus allen Nähten zu platzen drohte, mußte auch diese bisher letzte Mauer um Paris weichen.
Vor fünfzig Jahren, 1960, ernannte die damalige französische Regierung einen Beauftragten für eine neuerliche Modernisierung und Erweiterung der Stadt und ließ entsprechende Pläne ausarbeiten. Um diese Zeit mußte Paris Jahr für Jahr 200.000 Zuwanderer aufnehmen. Dabei fehlten schon Hunderttausende von Wohnungen und an die 800.000 bestehende waren kaum mehr zu sanieren und abbruchreif. “Gas- und Elektrizitätsnetz sind überlastet, die Trinkwasserzufuhr ist an heißen Sommertagen gefährdet. Jährlich müssen 50 000 Anträge auf Telephonanschlüsse zurückgestellt werden”, schrieb der Spiegel damals in einem Report. Zu dieser Zeit war die eigentlich von Anfang an überholte Thier-Stadtmauer von 1840 schon längst abgerissen, und ihrem Verlauf folgend baute man bis 1973 den achtspurigen Boulevard Périphérique, den heute jeder, der mit dem Auto nach Paris fährt, hassen gelernt hat. Urbanistisch funktioniert er nach wie vor als Stadtmauer, denn er markiert nach wie vor die offizielle Stadtgrenze, und wer jenseits, in den Trabantenvorstädten der Banlieue, lebt, darf sich zumindest im östlichen Halbrund auch wirklich ziemlich effektiv ausgesperrt fühlen. Hazan nennt die Périphérique dort zutreffend “an unbridgeable barrage of concrete and noise... where the only human beings on foot are natives of Lviv or Tiraspol trying to survive by begging at the traffic lights. The gulf between Paris and the banlieue remains a yawning one in this sector, for reasons that are political in the strong sense. The present population of the former Paris ‘red belt‘ is now for the greater part of ‘immigrant origin‘, i.e. made up of Blacks and Arabs; the very people, or their relatives, who had been driven out of the city by renovation and rising rents... The combined action of town planners, property speculators and police has never stopped pressing the poor, the ‘dangerous classes‘, further from the centre of the city.”

In der Stadt lebt relativ konstant eine Bevölkerung von zwei bis drei Millionen Bürgern, draußen ist die Zahl der Umwohner inzwischen auf gut zehn Millionen angewachsen. “Eine koordinierte städtebauliche Planung der Region wurde dadurch nicht erleichtert, die Stadt franste meist einfach nur aus, die "Banlieue", war bald kein Ort mehr, sondern "bloß eine Entfernung". Dass sie existiert, nehmen manche Bewohner der Innenstadt nur wahr, wenn die perspektivlose Jugend, die dort wohnt, randaliert.” (Sascha Lehnartz am 19.7.2009 in der Welt)
Der Druck von draußen nach drinnen ist immens, denn natürlich möchte jeder aus den No-future-Ghettos der Banlieue dahin, wo die Arbeitsplätze und Aufstiegsmöglichkeiten liegen, in die Stadt, und dort rückt man so eng zusammen, wie es nur eben geht. Das 11. Arrondissement östlich von Bastille und Place de la Republique, durch das wir gerade liefen, wies schon bei der Volkszählung vor fast zwanzig Jahren eine Bevölkerungsdichte von 40.627 Einwohnern/km² auf. Das sind zehnmal so viele wie in München und immerhin noch dreimal so viele wie in Kreuzberg. Die Zahl der innerstädtischen Einwohner explodiert nur darum nicht vollends, weil einfach der verfügbare Wohnraum viel zu begrenzt und kaum mehr erweiterbar ist. Der sichtbarsten Folge davon begegnen wir auf unserem Spaziergang auf Schritt und Tritt: SDF‘s. Früher hießen sie einmal Clochards und sahen alle aus und sangen wie Georges Moustaki, le métèque. Doch ihr Nimbus wurde dann irgendwann genauso fadenscheinig und verschlissen wie ihre Kleider und müffelte auch ein wenig, weshalb die Verwalter menschlichen Elends sie in ihrer Beamtensprache mit einer aseptisch-technisch klingenden Abkürzung bedachten: SDF = sans domicile fixe = ohne festen Wohnsitz.
Im vergangenen Winter sind allein in Paris mehr als 300 solcher Obdachloser auf offener Straße erfroren. Wie viele es von ihnen gibt, weiß keiner ganz genau, weil sich unter ihnen natürlich eine Dunkelziffer von Illegalen ohne Papiere aufhält. Die der Hilfsorganisation Emmaüs angeschlossene Fondation Abbé Pierre hat letztes Jahr wieder eine Sozialerhebung zur Obdachlosigkeit in Frankreich durchgeführt. Sie kam zu dem Ergebnis, daß es landesweit mindestens 100.000 SDF‘s gibt, rechnet aber noch einmal mehr als 500.000 Menschen hinzu, die ebenfalls kein festes Heim haben. 50.000 Franzosen etwa leben dauerhaft in Hotelzimmern und Pensionen, 40.000 in provisorischen Unterkünften wie Wohncontainern und Baracken, 100.000 in Wohnwagen und auf Campingplätzen usw. Insgesamt rechnet die Stiftung vor, daß mehr als 3,5 Millionen Franzosen in prekären Umständen hausen. Am größten ist die Wohnungsnot in Paris. Da ist das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt so verheerend, daß schon Menschen in fester Anstellung auf der Straße in Zelten leben, weil sie einfach keine Wohnung bekommen. Zelte kann man überall in der Stadt finden, selbst auf den Mittelstreifen der Boulevards. Eins sah ich zum Beispiel direkt am Fahrbahnrand des Boulevards des Invalides zwischen Musée Rodin und Invalidendom.

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