Das Licht kommt, das Grün kommt, und die Wärme des Frühlings kommt auch endlich; Mitte April.
Vaison-la-Romaine ist um diese Zeit noch besonders schön, ehe die Besucherströme die römische Brücke überschwemmen. Zeit, durch die steinigen, schmalen Gassen zu schlendern, oder man setzt sich in den Garten und genießt einfach die Sonne.
Darum heute einmal keine langatmigen Exkurse; sich vielmehr bequem zurücklehnen und einfach unter blühenden Pfirsichbäumen ein bißchen ruhige, entspannte Musik hören; zum Beispiel diese akustische Tapete hier.
(With special thanks to Ana Pina who introduced me to Grooveshark)
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“Aber ja”, es sieht natürlich ganz schnuckelig aus: kleine Häuser in Toskanafarben oder mit Fensterläden in Lavendel, Lindgrün, Zarttürkis und anderen Provencetönen ziehen sich den Hang hinauf, unten schäumt ein Wildbach, oben ragt ein Kampanile mit einem sinnigen Spruch im örtlichen Patois auf: “Lou tems passo, passo lou ben, die Zeit vergeht, verbringe sie gut”. Dazwischen reihen sich an der gepflasterten Dorfstraße kleine (teure) Boutiquen, Galerien, Ateliers und vor allem Töpferstuben, aber das Ganze wirkt auf mich eben artifiziell nicht im Sinn von künstlerisch, sondern in der Bedeutung von gekünstelt; ein künstliches Paradieschen, ein Krähwinkel mit dem wie vom Stadtmarketing erdachten Namen “Gottgemacht”, Dieulefit.
Ich dachte, die Zeiten, in denen “Ein Amerikaner in Paris” gelebt haben muß, um sich zuhause in den Staaten als Künstler ausgeben zu können, wären seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich verebbt, doch als wir mit Suzanna & Bernhard am Ostersamstag zum Einkaufen in den Ort gingen, wurden die beiden gleich am Anfang der Dorfstraße von einer Frau begrüßt und beküßt, die Englisch mit einem unverkennbar amerikanischen Zungenschlag sprach. “Eine Amerikanerin, sie hat hier ein kleines Keramikatelier.”
Eine Ecke weiter der nächste Grüßer und Küsser: “Architekt aus England, retired.”
Und noch einer: “Amerikaner, lebt aber schon lange hier und hatte eine kleine Kunstgalerie, ist aber neulich leider pleite gegangen.” Und so geht es in einem fort.
Natürlich kennen die beiden jeden im Ort. So zieht sich der Einkauf ein wenig in die Länge, aber in Gottgemacht kann man es ja nicht eilig haben. Haben wir es auch nicht. Man wäre andererseits sonst auch zu schnell durch. Für die paar Meter von der katholischen Kirche am einen Ende der Hauptstraße zur kalvinistischen am anderen bräuchte man lediglich ein paar Minuten.
Ja, kalvinistisch. Bis im 18. und 19. Jahrhundert Schießpulver und schließlich Dynamit beim Straßenbau zum Einsatz kamen, lag Dieulefit derart unzugänglich hinter einer Bergbarriere, daß es in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts zum Zufluchtsort für verfolgte Hugenotten geworden war. In Erinnerung an das Schicksal der eigenen Vorfahren boten die Einwohner von Dieulefit auch später Flüchtlingen Asyl. Während der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg fanden an die 1500 von den Deutschen Verfolgte, vor allem Juden, Aufnahme in dem kleinen Ort von heute gerade einmal 3000 Einwohnern. Unter ihnen auch etliche Künstler und Intellektuelle wie der Kommunist Louis Aragon, der ebenfalls in der Résistance aktive René Char oder der 1933 aus Nazideutschland geflohene Antifaschist und Maler Wols (Wolfgang Schulze). 2010 wurde Dieulefit für diese außergewöhnliche Hilfsbereitschaft der Titel einer “Village des justes” verliehen, und Anfang dieses Jahres gab es dazu eine Ausstellung in der deutschen Partnergemeinde Lich. Hier ein Bericht des hr dazu, und hier der Link zu einer französischen Dokumentation über das “Wunder von Dieulefit”.
Es wäre schön, wenn es viel mehr Orte gäbe, die sich in eine solche Tradition stellen könnten.
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Diesen und 20 weitere (Ab-)gesänge auf eine der verheerendsten Politikerinnen des 20. Jahrhunderts hat der serbische Radiosender B 92 zusammengestellt.
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Natürlich kamen wir erst viel zu spät aus Reims weg. Eine schwach zu ahnende Sonne hinter milchigem Dunst zeigte uns den Weg. Südlich der Stadt, Richtung Troyes, wellte sich die flache Schüssel der Champagne unter einem sehr akkuraten Façonschnitt, die dunklen Rebstöcke, auf denen einmal Champagner wachsen sollte, standen höchstens kniehoch gestutzt und ordentlich in Reih und Glied wie die Grabsteine auf den Soldatenfriedhöfen der Marne-Schlachten, auf den LPG-großen Getreidefeldern war die Saat noch kaum aufgegangen, nackt schimmerte die gelbe Kopfhaut der Erde durch, und hinter langen Mauern lagen überall die im Chateaux-Stil gebauten Kellereien der Schaumweinfabrikanten.
Die Sonne verschwand wieder hinter einer dichten Bewölkung, und die Überreste der einst größten Kirche der Christenheit besichtigten wir unter tief hängenden, tropfenschweren Wolken. Es trieben fast mehr Nebelschwaden durch die schmalen Gassen von Cluny als Touristen. Dörfliche Stille, Pferdegeruch vom nahen Gestüt.
Weiter die Saône entlang nach Süden, noch einmal dichter Verkehr um Lyon, von Kernkraftwerken umzingelt wie keine andere europäische Großstadt. Dann das an sich schöne Flußtal der Rhône hinab, allmählich schon in Dämmerung sinkend, durchs Dauphiné, vorbei an Valence und bei Montélimar (noch ein AKW) ab von der Autobahn und hinein in die Ausläufer der Voralpen. Die Straße windet sich das Tal des Jabron hinauf, wird bald nach jedem Kreisverkehr löcheriger; hurra, hier gibt es noch Dunkelheit! Richtige, tiefe Dunkelheit, in die die Scheinwerfer zwei schmale Lichtlanzen bohren. Ein paar scharfe Kehren noch, die letzten Häuser bleiben dunkel im Dunkel zurück, der Asphalt auch, als holpriger Waldweg verschwindet die Straße hinter knorzigen Baumstämmen. Sind wir hier noch richtig? Da kommt eine dunkle Gestalt mit einer Taschenlampe den Weg herauf, Bernhard hat unsere Scheinwerfer gesehen. Wir sind angekommen.
Am nächsten Morgen sehen wir von der Terrasse zwischen den noch unbelaubten Bäumen hindurch auf den letzten, südlichsten Höhenzug der Drôme. Dahinter liegt die Provence.
Die Nacht war noch frostig, aber als die Sonne immer stärker durchdringt und ein kräftiger Mistral die Wolken wegbläst, können wir zu viert ein ausgedehntes zweites Frühstück auf der Terrasse einnehmen. Schon haben sich die 1000 Kilometer Anreise gelohnt.
Siehe da, Monsieur le chat kommt auch aus der Höhle.
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Am nächsten Morgen lag kalter Rauch über der Stadt. Dennoch machte Reims atmosphärisch einen warmen und zugleich aufgeräumten Eindruck auf uns. Dazu trug vor allem der helle, gelbliche Sandstein der Champagne an den älteren Häusern in der Innenstadt bei. Im Ersten Weltkrieg ist sie durch Artilleriegranaten zu mehr als der Hälfte zerstört worden. Dazu wurde die Zivilbevölkerung im März 1918 fast vollständig evakuiert, als das Deutsche Heer seine letzte erfolglose Frühjahrsoffensive an der Westfront begann. Bei Kriegsende war Reims eine weitgehend zerstörte und menschenleere Ruinenstadt. Selbst die Kathedrale war weder von deutschem noch von französischem Beschuß verschont worden. Doch nach dem Krieg bauten die Reimser ihre “Märtyrerstadt” (Poincaré) über zehn Jahre hinweg teils neu (mit Elementen von Art déco), teils rekonstruierend wieder auf. Die Erinnerung an diesen großen Einsatz (überall an Plaketten an den Hauswänden) hat bis heute die Errichtung größerer moderner und postmoderner Bausünden in der Innenstadt verhindern können.
Reims und seine Kathedrale sind für Frankreich mindestens so symbolträchtig wie Aachen und sein Kaiserdom für Deutschland. Schon die Römer haben die Civitas Remorum (eines belgischen Keltenstamms) nach ihrer Einnahme durch Caesar zum Hauptort ihrer Provinz Gallia Belgica secunda erhoben, und früh, im 4. Jahrhundert, wurde sie Bischofssitz, was ihr im zerfallenden römischen Imperium der Spätantike Kontinuität, Wohlstand und wachsende Bedeutung bescherte. 451 fiel Attila mit seinen Hunnen in die Stadt ein, und 486 eroberten salische Franken unter ihrem merowingischen König Chlodwig das gallorömische Restreich des Syagrius mit Reims. Vielleicht durch das Vorbild Kaiser Konstantins inspiriert, berichtete der fränkische Chronist Gregor von Tours fast hundert Jahre später, der Heide Chlodwig, der mit einer sehr katholischen Prinzessin der Burgunder verheiratet war, habe vor einer Schlacht gegen die Alemannen gelobt, zum Gott seiner Frau überzutreten, wenn dieser ihm den Sieg verleihe. Um 497 ließ sich Chlodwig in den behaglich temperierten römischen Badeanlagen von Reims vom amtierenden Bischof Remigius taufen.
Ende des 9. Jahrhunderts erfand dann Erzbischof Hinkmar von Reims die Legende, der zufolge Remigius das Öl für die christliche Weihe und Salbung des Frankenkönigs nach biblischem Vorbild durch eine Taube geradewegs vom Himmel zugetragen worden sei. Die Ampulle mit dem Salböl wird bis heute im Reimser Kirchenschatz aufbewahrt, denn sie war das Unterpfand für den maßgeblichen Einfluß der katholischen Kirche auf das französische Königtum. 816 ließ sich Kaiser Karls Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme nach seiner Krönung in Aachen in Reims vom Papst ein zweites Mal salben, und seit den ersten Kapetingern ist jeder König Frankreichs in der Kathedrale von Reims gekrönt und gesalbt worden. Entsprechend prachtvoll ist sie im Lauf ihrer langen Geschichte aus- und umgebaut worden. Nach einem Brand im Jahr 1210 erfolgte ihre grundlegende Umgestaltung zu einer der berühmtesten gotischen Kathedralen Frankreichs.
Eine Kirche von solch überragender symbolischer Bedeutung für ein ganzes Land darf sie meinetwegen gern auch in ihrem Erscheinungsbild zum Ausdruck bringen, aber ich persönlich kann zum einen generell selten Gefallen an Gotik finden. Man darf mir vorwerfen, daß ich die theologischen Grundlagen gotischer Kathedralen sträflich reduziere und mißachte: der Bau als “Abbild des Himmels” bzw. eines eschatologischen himmlischen Jerusalems und einer ecclesia spiritualis, deren Fundament Christus, deren Säulen die Apostel und deren Bausteine die Gläubigen sein sollen, seine Geometrie und seine in Zahlen ausgedrückte Harmonie als Hinweis auf die vollkommene göttliche Ordnung des Kosmos, das Ganze als dem Irdischen weitgehend entrücktes Gehäuse der darin vollzogenen Liturgie, mit der es zusammenwirkend die Gläubigen geistig zum Reich Gottes hinführen soll – geschenkt. Sedlmayer (Die Entstehung der Kathedralen) nennt die gotischen Kirchen, ausgehend von ihrer Konstruktion, “Illusionsarchitektur”, doch in der übersteigerten Form, in der ihre Elemente und Formen in und an der Reimser Kathedrale vor einem aufragen, empfinde ich sie mehr noch als ein Stück Überwältigungsarchitektur.
Das geht schon allein von der Größe und Masse des Baukörpers und der schieren Wucht seiner achtzig Meter hohen Türme über dem Haupteingang im Westwerk aus, auch wenn sie durch hohe Maßwerklanzetten geöffnet wurden und Kunsthistorikern zufolge angeblich leicht und schwebend wirken sollen. Bei mir levitiert da wenig, schon gar nicht die großkopferten Skulpturen der Königsgalerie aus dem 14. Jahrhundert, die aus über vierzig Metern Höhe auf ihr Fußvolk herabblicken.
Ursprünglich sollten die Türme noch einmal vierzig Meter hohe Spitzen erhalten, doch hat man schließlich auf sie verzichtet, um ihnen bei allem filigranen Maßwerk in der Fassade ihre fast trotzige Klotzigkeit zu belassen. (Na ja, es gab gewiß auch pekuniäre Gründe dafür, denn die oberen Geschosse der Türme wurden dem Architekturhistoriker Binding zufolge in der Regel als letztes aufgesetzt, und nachdem eine Kirche erst einmal geweiht und in Betrieb genommen war, ließ die Spendenbereitschaft meist spürbar nach.)
Nein, ich kann mich auch nicht am schließlich hier in Reims erfundenen Maßwerk delektieren oder an der Zuckerbäckerei der zahllosen Tabernakel, Baldachine und Fialen mit ihren Krabben und Kreuzblumen. Ein bißchen mehr Schlichtheit hätte es auch getan und einer christlichen Idealen noch irgendwie verpflichteten Kirche besser zu Gesicht gestanden. (Anachronistisch ist eine solche moralische Meßlatte keineswegs, denn die ersten gotischen Kathedralen entstanden schließlich genau zu der Zeit, in der ein Franz von Assisi lebte, in der die Bettelorden gegründet wurden und in Frankreich die mächtige Gegenbewegung der Katharer von der Kirche verketzert und verfolgt und ihre Anhänger massenweise verbrannt wurden.)
Mein Eindruck von gotischen Kathedralen deckt sich eher mit dem Urteil Giorgio Vasaris, und der hat den Terminus Gotik schließlich erfunden. In seinen Lebensbeschreibungen heißt es über die gotischen Kirchen:
“In diesen Gebäuden, deren so viele sind, daß sie die ganze Welt verpestet haben, schmückt man die Portale mit dünnen, nach Art der Rebe gewundenen Säulen, welche keine Kraft haben, ein Gewicht zu tragen. Und so machte man über alle diese Fassaden und andere ornamentalen Teile hin von jenen verfluchten Tabernakelchen eins aufs andere, mit so vielen Pyramiden, Spitzen und Laub, daß sie... eher wie aus Papier als wie aus Stein oder Marmor gemacht aussehen. Auch wurden in diesen Bauten so viele Vorsprünge, Durchbrüche, Kragsteinchen und Reblinge gemacht, daß sie jede Proportion verloren.”
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In den Niederen Landen will und will der Winter in diesem Jahr kein Ende nehmen. Obwohl sogar der Himmel klar ist und tags die Sonne scheint, weißt jeden Morgen Rauhreif die Dächer, rauchen noch immer unentwegt die Schornsteine und die Münder der Menschen. Sie wollten wie in jedem Jahr den ersten Vollmond des Frühjahrs feiern, doch anstatt daß die Eier in den Hennen sich rundeten, die Rammler rammelten, was das Kurzwildpret hergab, und die zarten Osterlämmer auf frisch ergrünenden Wiesen böckchenbeinig umherstaksten, lag das verdorrte Vorjahrsgras fahlgelb und erfroren flach auf frostiger Erde. Mit dem unaufhörlichen Ostwind aus der Tundra Sibiriens nahte ein unwirtliches, frostklirrendes Osterfest. Doch wo die Not am größten, ist der Wolf (wie man in Island sagt), nein, die Rettung am nächsten (wie Hölderlin es ja ähnlich gesagt hat), und uns ereilte gerade noch rechtzeitig eine Einladung, die Ostertage mit Freunden in ihrem Haus im Süden des freundlichen Frankreichs zu verbringen.
Noch am Gründonnerstag – der Name spottete dem, was er beschrieb – sprangen wir ins Auto und fuhren los, und 15 Millionen Niederländer taten es uns gleich. Schon die Auffahrt auf die Autobahn gelang nur Stück für Stück im Rahmen einer zäh sich vorwärts wälzenden Kolonne. Der Ring um Rotterdam war rundum verstopft, die Annäherung an Antwerpen geschah wie an einem Expandergummi in eine Gummiwand. In den Staus rund um Brüssel verfuhren wir uns wie jedesmal, die Beschilderung führt einfach in die Irre. Erst als wir hinter den kalten Schloten von Charleroi auf Landstraßen in die Dunkelheit der Ardennen kurvten, verlief sich der Verkehr. Sehr spät am Abend erreichten wir die hell beleuchtete Kathedrale von Reims. Die Kapelle über dem Taufbecken des berechnend brutalen Barbarenkönigs Chlodwig in dem ehemaligen römischen Wellnessbad war mächtig gewachsen. Die Stadt schlief schon weitgehend, nur vor den Bars auf der Place Drouet d’Erlon drängelten sich noch Grüppchen frierender Jugendlicher rauchend aneinander. Nach dem überfälligen Abendessen zogen wir uns bald in die gemütliche kleine Pension in einer ruhigen Seitenstraße der Altstadt zurück.
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Befeuert durch seine panslawistische Ideologie suchte das zaristische Rußland immer wieder nach Gelegenheiten zu einer Revanche für den verlorenen Krimkrieg. Nachdem das Osmanische Reich in Folge von Dürren und anschließenden Überflutungen 1875 den Staatsbankrott hatte erklären müssen, unterstützte der Kreml Erhebungen gegen die Türken überall auf dem Balkan und erklärte der Türkei 1877 den Krieg.
Die russischen Offensivarmeen überschritten zügig die Donau und das Balkangebirge und marschierten, begünstigt durch erstaunlich falsche Lagebeurteilungen und eine noch erstaunlichere Passivität im osmanischen Generalstab, bald auf Istanbul zu, da schickte England demonstrativ eine Kriegsflotte an den Bosporus, um den Türken den Rücken zu stärken. Das bewog den Zaren, einem von der Pforte angebotenen Waffenstillstand zuzustimmen. Im März 1878 diktierten seine Vertreter dem Osmanischen Reich im Istanbuler Vorort Yesilköy den Vorfriedensvertrag von San Stefano, der u.a. die Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros und Rumäniens sowie die Bildung eines autonomen großbulgarischen Fürstentums vorsah. Unter Einschluß von Makedonien sollte es bis an die Ägäis reichen. Einen solchen Satelliten, der Rußland Zugang zum Mittelmeer eröffnet hätte, wollten die übrigen europäischen Mächte nicht akzeptieren. Bismarck schlug eine Konferenz zur Revision des Vertrags von San Stefano in Berlin vor, und Großbritannien schloß im Juni 1878 einen Vertrag zur Bildung einer Verteidigungsallianz mit dem Osmanischen Reich gegen Rußland, die Zypern-Konvention. In ihrem Artikel 1 stand: “In order to enable England to make necessary provision for executing her engagement, His Imperial Majesty the Sultan further consents to assign the Island of Cyprus to be occupied and administered by England.”
Schon im folgenden Monat landeten die Engländer auf der Insel. Als ersten Gouverneur ihres neuen Protektorats schickten sie an der Spitze einer 10.000 Mann starken Besatzungsarmee einen Militär, den altbewährten und hoch dekorierten Haudegen Generalleutnant Garnet Wolseley, der zuvor in Burma und bei der Niederschlagung des Indischen Aufstands 1857 gekämpft, den dritten Krieg des Empires gegen die Aschanti an der afrikanischen Goldküste siegreich beendet und im Krimkrieg vor Sewastopol ein Auge verloren hatte. Wolseley kam zu der Einschätzung, Famagusta wäre “a good coaling station for a fleet watching the northern end of the Suez Canal”, und der Kommandeur der britischen Mittelmeerflotte, Admiral Hornby, war derselben Meinung. Allerdings setzte die Sommerhitze in Famagusta den Briten derart zu, daß nicht wenige Soldaten an Fieber starben, ein Großteil der Truppe bald wieder abgezogen wurde und der Gouverneur rasch die Insel auf der Suche nach einem klimatisch kühleren Hauptquartier in den Bergen rekognoszieren ließ.
Für die Beaufsichtigung der Arbeiten bei der Errichtung einer Sommerresidenz im Troodos-Gebirge wurde im März 1880 übrigens der 24-jährige Arthur Rimbaud verpflichtet, der zuvor schon einmal in einem Steinbruch auf Zypern gearbeitet hatte und sich zum zweiten Mal auf der Insel aufhielt. Im Juni desselben Jahres aber empfahl sich Rimbaud sehr plötzlich auf Französisch und verschwand über Nacht mit einem Frachter nach Ägypten.
Von den Griechen auf der Insel, die drei Viertel der Bevölkerung ausmachten, wurden die Briten anfangs freudig empfangen, denn sie erhofften sich von ihnen, daß sie Zypern wie 1862 den Ionischen Inseln einen Anschluß (enosis) an Griechenland gestatten würden. Doch die Engländer dachten überhaupt nicht daran. Sie schlossen die Zyprioten gleich welcher Abkunft von jeglicher Mitregierung aus wie jedes unterworfene Kolonialvolk und erlegten ihnen hohe Steuern auf, aus denen die Pachtzahlungen und Subsidien an den Sultan beglichen wurden.
Als das Osmanische Reich 1914 an der Seite des Deutschen Reichs in den Ersten Weltkrieg eintrat, erklärte Großbritannien Zypern kurzerhand für annektiert und ließ sich diese Annexion nach dem Krieg 1923 im Vertrag von Lausanne von der jungen türkischen Republik rechtskräftig bestätigen. Türkischstämmige Zyprioten hatten die britische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder die Insel zu verlassen. 1925 wurde Zypern britische Kronkolonie.
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