Mit der beeindruckend gelehrten historischen Abhandlung dieses Titels war er 1919 mit einem Schlag unter allen europäischen Geisteswissenschaftlern bekannt und eine Berühmtheit geworden. Doch war Huizinga wohl ein eher pessimistisch gestimmter Mensch. Als den auslösenden Gedanken zu seinem historiographischen Meisterwerk hat er selbst die Einsicht benannt, die ihm 1907 auf einem Spaziergang über die grünen Wiesen Frieslands aufging: “Das späte Mittelalter ist nicht die Ankündigung eines Kommenden, sondern ein Absterben dessen, was dahingeht.”
Da war er gerade 35 und frisch berufener Professor. Doch skeptisch bis pessimistisch beurteilte Huizinga auch seine eigene Zeit und ganz besonders den Aufstieg des Nationalsozialismus in der Mitte Europas, den er von Anfang an als “Barbarei” erkannte und benannte. Gegen dessen Antisemitismus setzte er gleich zu Beginn ein deutliches Zeichen. 1933 eröffnete er als Rektor an der Universität Leiden eine Tagung des International Student Service und wies einen der führenden deutschen Antisemiten, Goebbels-Mitarbeiter und Hitler-Biograph Johann von Leers, kraft seines Amts aus der Universität. Der Vorfall führte zu einem offiziellen Protest der Reichsregierung Hitler in Den Haag. Doch Huizinga ließ sich nicht einschüchtern und in seiner Zeitanalyse nicht beirren. 1935 veröffentlichte er Im Schatten von morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit. Das Buch und überhaupt sämtliche Schriften Huizingas landeten in Hitlerdeutschland prompt auf dem Index “schädlichen und unerwünschten Schrifttums”.
Er selbst stand nach der deutschen Besetzung der Niederlande auf einer Liste potentieller Geiseln. Eine Einladung zur Emigration in die USA lehnte er ab. Aus Protest gegen die Einmischung der Besatzer in Universitätsangelegenheiten bat er 1942 um seine Emeritierung. Die Nazis schlossen die ganze Uni. Huizinga wurde verhaftet und im August ‘42 mit siebzig Jahren im niederländischen Geisellager Sint-Michielsgestel interniert. Doch war er international zu bekannt, als daß die Nazis seinen Tod in ihrer Haft riskieren wollten. Unter der Auflage, nicht nach Leiden zurückzukehren, wurde er entlassen und erhielt einen Wohnsitz in der Nähe von Arnheim zugewiesen. Dort starb er, als die Alliierten nach der verlorenen Schlacht um die Brücke von Arnheim gerade ein zweites Mal zum Angriff auf den Niederrhein antraten, am 1. Februar 1945. Der unmittelbar bevorstehende totale Zusammenbruch der Nazidiktatur war ihm sicher längst klar. Bei der Arbeit an seinem letzten Werk, Geschändete Welt. Eine Betrachtung über die Aussichten auf Genesung unserer Kultur, geschrieben im Sommer ‘43, konnte er wohl wieder Hoffnung schöpfen.
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Was ist aus den zu kanonischen erklärten Texten der christlichen Überlieferung im Neuen Testament zum Beispiel über Maria Magdalena zu erfahren?
Nicht viel. Aber auch nicht ganz wenig.
• Etwa, dass diese Mariam aus Magdala am See Genezareth zu Jesu Jüngern gehört haben soll, denn – von den auserwählten Zwölf und der Kirche nicht unbedingt an die große Glocke gehängt – ihm folgten mehr als die glorreichen Zwölf nach und darunter befanden sich, horribile dictu, viele Frauen, von Mönch Luther “Weiber” genannt:
“Und es begab sich darnach, daß er reiste durch Städte und Dörfer und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes; und die zwölf mit ihm, dazu etliche Weiber, die er gesund hatte gemacht von den bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, die da Magdalena heißt, von welcher waren sieben Teufel ausgefahren”
(Lukas 8,1-2)
“Und es waren viele Weiber da, die von ferne zusahen, die da Jesus waren nachgefolgt aus Galiläa und hatten ihm gedient; unter welchen war Maria Magdalena”
(Matthäus 27,55f.).
“Jesus aber, da er auferstanden war früh am ersten Tag der Woche, erschien er am ersten der Maria Magdalena, von welcher er sieben Teufel ausgetrieben hatte.”
(Markus 16,9)
Das wird kein Zufall gewesen sein. Zufall kommt doch in der Bibel an keiner Stelle vor, kann doch gar nicht, alles ist doch stets Gottes Wille: “Es fällt kein Spatz vom Himmel...” Mit anderen Worten, MM hat für Gottes Sohnemann anscheinend eine besondere Rolle gespielt.
Welche?, möchte man natürlich fragen, doch darüber hüllen sich die vier Apostel erst recht in beredtes Schweigen. Der Apostel Johannes gibt immerhin das kurze Gespräch zwischen MM und Jesus nach dessen Auferstehung wieder. Und zwar so:
“Maria aber stand vor dem Grabe und weinte draußen. Als sie nun weinte, guckte sie ins Grab und sieht zwei Engel in weißen Kleidern sitzen... und spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hin gelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich zurück und sieht Jesus stehen und weiß nicht, daß es Jesus ist.
Spricht er zu ihr: Weib, was weinest du? Wen suchest du?
Sie meint es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo hast du ihn hin gelegt, so will ich ihn holen.
Spricht Jesus zu ihr: Maria!
Da wandte sie sich um und spricht zu ihm: Meister!
Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater.”
(Johannes 20, 11-18)
• Das berühmte “Noli me tangere” oder “Faß mich nicht an!” – Warum ist es das erste, was er sagt, nachdem sie ihn erkannt hat? Weil sie ihn sonst immer angefaßt hat? Auch dazu schweigt der Apostel Höflichkeit.
Nicht so die der führenden frühen Bibelinterpreten. Nach Auskunft des Ökumenischen Heiligenlexikons soll der im 4. Jahrhundert als Leiter der Schule von Nisibis lehrende Ephraim der Syrer erstmals die Meinung vertreten haben, MM sei die im Lukas-Evangelium erwähnte Sünderin im Haus des Pharisäers Simon:
“Siehe, ein Weib war in der Stadt, die war eine Sünderin. Da die vernahm, daß er zu Tische saß in des Pharisäers Hause, brachte sie ein Glas mit Salbe und trat hinten zu seinen Füßen und weinte und fing an, seine Füße zu netzen mit Tränen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küßte seine Füße und salbte sie mit Salbe.”
(Lukas 7,37)
• Ende 1945 fanden Bauern im ägyptischen Nag Hammadi einen versiegelten Tonkrug, der nicht weniger als 13 in Leder gebundene Bücher enthielt: eine im Zeitalter Ephraims des Syrers niedergeschriebene Sammlung älterer biblischer Schriften, die allesamt von der Orthodoxie als unkanonisch ausgesondert worden waren. Unter ihnen befanden sich mehrere Evangelien, darunter eines des Thomas und eines des Philippus. Im letzteren heißt es in Vers 55 ausdrücklich:
“Die Gefährtin von [Christus] ist Maria Madgalena. Der [Herr liebte] sie mehr als [alle] (anderen) Jünger, und er küßte sie [oftmals] auf ihren [Mund]. Die übrigen [Jünger], sie sagten zu ihm: ,Weshalb liebst du sie mehr als uns alle?’ Es antwortete der Erlöser, er sprach zu ihnen: ,Weshalb liebe ich euch nicht (so) wie sie?’
Welche Reichweite hat hier das Wort “Gefährtin”? Was bedeutet hier “lieben”, und welcher Art waren die Küsse, die Jesus MM auf den Mund gab? Das läßt sich nicht klären. Deutlich ist jedenfalls, daß die anderen Jünger auf MM eifersüchtig waren.Das Thomasevangelium wird in dieser Hinsicht noch eindeutiger. Sein 114. und letzter Vers lautet:
“Simon Petrus sprach zu ihnen: „Mariham soll von uns fortgehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig.“
Jesus sprach: „Seht, ich werde sie führen, um sie männlich zu machen, daß auch sie ein lebendiger Geist wird, der euch Männern gleicht. Denn jede Frau, die sich männlich macht, wird in das Königreich des Himmels eingehen.“
• Aber die Leiche, die man vor der Zeit vergräbt, kann ein langes Nachleben als Wiedergängerin führen. Und so ist es ja auch mit der Legende von MM als der Geliebten Jesu. Von Nikos Kazantzakis (Die letzte Versuchung Christi), über Luise Rinser (Mirjam) und weniger bedeutende Schriftsteller wie Marianne Fredriksson (Maria Magdalena) bis hinab zu Dan Brown reicht allein die Kette jüngerer literarischer Bearbeitungen. In der Malerei waren Darstellungen der MM natürlich ein noch lockenderes Sujet, dem von früh an ein Parfüm des Verruchten anhing und mit dem man ungestraft gegen das christliche Nacktheitsverbot auf der Leinwand verstoßen durfte.
• Endgültig hat nämlich der erste Mönch und erste und letzte “Kirchenvater” auf dem Papstthron, Gregor der Große, MM’s Ruf vorsätzlich zerstört. Vermutlich weil er die bevorzugte Stellung der MM bei Jesus zugunsten des Apostels Petrus abbauen wollte, auf dessen persönliche Nachfolge er ja seinen eigenen Anspruch auf den Primat seiner römischen Kirche vor anderen stützte. Im Jahr 591, ein Jahr, nachdem der Patriziersohn (natürlich höchst demütig-widerwillig) den Stuhl Petri bestiegen hatte, hielt er in der Clemens-Basilika in Rom eine Predigt über die Sünderin im Lukas-Evangelium und ging darin über die Meinung des Syrers noch hinaus:
"Hanc vero quam Lucas peccatricem mulierem, Joannes Mariam nominat, illam esse Mariam credimus de qua Marcus septem dæmonia ejecta fuisse testatur" (“Wir glauben, daß die sündige Frau bei Lukas, die Johannes Maria nennt, die gleiche Maria ist, der laut Markus die sieben Teufel ausgetrieben wurden.”
(SS Gregorius I Magnus: Homiliarum In Evangelia Libri Duo (Nr. XXXIII), in: Migne, Patrologia Latina, Bd. 76)
Der selbsternannte Nachfolger des eifersüchtigen Petrus stempelte also Jesu liebste Gefährtin zur Hure.
• Diesen mehr als zweifelhaften Ruf ist MM seitdem nicht mehr losgeworden. Mit offenen Haaren und roten Kleidern, den Attributen der Prostituierten, hat man sie wieder und wieder gemalt, bei Leonardo trägt sie das rote Gewand sogar schamlos offen und nichts darunter. Jules Lefebvre malte sie im 19. Jahrhundert völlig nackt sich räkelnd in einer Grotte wie Leda, die den Schwan erwartet.
Daneben gab es zu allen Zeiten auch Darstellungen ihrer Rolle bei der Grablegung und Auferstehung Christi. Seit dem großen Gregor steht Maria Magdalena in dem altbekannten paradoxen patriarchalischen Spannungsfeld, daß man sie zugleich als Heilige verehrt und als Hure verachtet.
• Nach meinem Eindruck ist diese Doppelheit der Frau nirgends besser in einem Gesicht und in einem Blick vereint als in der Maria Magdalena des Venezianers Carlo Crivelli von 1487.
Vielleicht gelang sie ihm aufgrund eigenen Erlebens so überzeugend. Genau dreißig Jahre vorher war er nämlich in seiner Heimatstadt ins Gefängnis geworfen worden, weil er ein leidenschaftliches Verhältnis mit Tarsia Cortese, einer verheirateten Frau, unterhalten und sie am Ende sogar entführt und monatelang versteckt gehalten hatte.
“But essentially, he was a loner”, schrieb das Time Magazine anläßlich einer Werkausstellung im Dogenpalast 1961. “Though he had lived in Venice, he spent most of his life in the hilly region called The Marches on the Adriatic. There he worked alone, perfecting a style that has intrigued and puzzled critics ever since. Wild Gentleness. On the surface, his Mary Magdalene seductive though she may be, seems an excessive display of virtuosity, as stilted and brittle as a piece of porcelain.”
Zur Zeit ist das fragile Porzellangesicht mit dem vieldeutigen Blick in Erasmus’ Rotterdam zu besichtigen.
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Es gibt Blicke, denen entzieht man sich nicht. Nicht einmal, wenn sie bloß gemalt sind.
So erging es mir bei einem neuerlichen Rundgang durch die phantastische Kunstsammlung Boijmans Van Beuningen in Erasmus’ Geburtsstadt Rotterdam, deren Grundstock aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammt, inzwischen aber auf rund 140.000 Objekte angewachsen ist. Sie passen längst nicht mehr in die 12.000 qm Ausstellungsfläche des eindrucksvollen Museumsbaus von 1935 im Stil des Stockholmer Rathauses, und die Sammlung empfängt den Besucher mit einem Raum, in dem sie Bilder zeigt, die aus unterschiedlichen Gründen leider nicht in den eigentlichen Ausstellungsräumen Platz fanden. Abgesehen von den berühmtesten Werken wie einigen von Hieronymus Bosch, Pieter Bruegel d.Ä., Dürer, Rembrandt bis Kandinsky werden darum auch in der Dauerausstellung ab und zu Bilder ausgetauscht, so daß es sich lohnt, das Museum in Abständen wieder zu besuchen. Dabei findet man Lieblinge, die man immer wieder gern betrachtet. Ich glaube auch, daß keine Reproduktion einem den miniaturhaften Detailrealismus im Original von Bruegels “Turm zu Babel” wiedergeben kann, und ich gehe nun mal ab und zu gern in den unglaublich narrativen Bildern alter Meister spazieren. Diesmal war u.a. die 1,65 Meter breite “Landschaft am Anfang der Zivilisation” des Wiedertäufer-Anhängers Cornelis van Dalem aus Antwerpen an der Reihe. Der kleine Eichelhäher auf einem Felsvorsprung darin hatte am Morgen noch genauso im Baum vor meinem Fenster gesessen.
Es war aber nicht der Blick des Eichelhähers in dem Bild, der mir nachging, sondern, begreiflicher, der einer Frau. Dummerweise einer Heiligen, aber immerhin einer “Frau mit Vergangenheit”, wie Zarah Leander einmal über sich sang.
Der Text paßt vielleicht auch gut zu der Heiligen, jedenfalls nach ihrer Zurichtung durch die katholische Kirche:
"Ich bin eine Frau mit Vergangenheit
voll moralischer Unbefangenheit.
Oft träumt man von Idealen,
folgt dem wilden Herzensdrang,
und dann muss man dafür zahlen,
zahlen sein Leben lang.
Freiwild wird man für jedermann,
ohne Pardon
Und was dann folgt, verfolgt uns
bis zur Endstation."
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Es gibt aber auch noch erfreuliche Initiativen in diesem Land (natürlich gehen sie nicht von Politikern aus, daran hat man sich gewöhnt). Der Freitag berichtet, daß der kleine, aber feine Verbrecher-Verlag in Berlin (nomen non est omen) soeben auf höchst innovative Weise die Tagebücher von Erich Mühsam ediert hat. Nette Dinge kann man darin lesen. Kaum wurde das erste Blatt beschrieben ("Bei strömendem Regen war ich eben unten im Dorf, um mir dies Heft zu kaufen. Es soll mein Tagebuch sein."), geht es auch schon zur Sache:
"Château d’Oex, Montag, 22.8.1910
Johannes gab mir 3 Bände der Tagebücher Varnhagens von Ense mit, die ich gierig lese. Damals lohnte es noch Tagebücher zu schreiben! Trotz der Armseligkeit der vormärzlichen Politiker – welche bewegte Zeit! Welche Beziehung zwischen Geistigkeit und Öffentlichkeit! Welche Teilnahme der großen Geister (Varnhagen, Humboldt, Tieck, Bettina v. Arnim usw.) an den Geschehnissen des Tages! – Und heute? Unsre Zeit ist bei Gott nicht minder armselig, unsre Regierungen nicht minder jämmerlich, unsre Politik nicht minder chikanös, knechtschaffen und vormärzlich. Nur eins unterscheidet unsre Tage von Varnhagens: heut ist auch das Volk interesselos, und die Geistigkeit nimmt schon garnicht teil an allem was vorgeht!"
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Vor zehn Jahren, ich war gerade von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückgekehrt und wohnte nicht allzu weit von meiner Geburtsstadt entfernt, hatte ich mich einmal aufraffen können, ein solches Treffen meines Jahrgangs zu besuchen. Obwohl ich mich mit etlichen Befürchtungen vorab gewappnet hatte, war es ein Schock. Was war aus all den aufgeweckten, sportbegeisterten, musisch begabten, frechen, politisch aufbegehrenden, rumflippenden “Was kostet die Welt”-Oberstufenschülern geworden? Etwa dieses Gruselkabinett aus kahlköpfigen, hängebäuchigen, fischäugigen Anwälten, Notaren und Steuerberatern??
Ja.
Leute, mit denen ich hinterher versuchte, die Enttäuschung etwas zu verarbeiten, haben mir versichert, es sei so etwas wie ein Gesetz von Ehemaligentreffen, daß daran immer bloß die teilnähmen, für die man sich schon zu Schulzeiten nicht interessiert hätte. So war es auch in meinem Fall. Von weiteren Wiederbegegnungen war ich einstweilen kuriert.
Nun also ein zweiter Versuch. Ich kann im nachhinein sagen: das Erschrecken fiel milder aus. Vielleicht weil ich noch vom letzten Mal imprägniert war, oder weil der weitere Sturz in den vergangenen zehn Jahren einfach nicht noch einmal so tief hinab gehen konnte. Wenn die Haare weg sind, sind sie weg; der Sprung von 0 Bauch auf 1 Bauch ist größer als der von 1 Bauch auf anderthalb Bäuche (ist wohl wie mit dem Kinderkriegen). Und die eingeschlagenen Laufbahnen standen ja schon damals fest. Keiner der Erschienenen hatte je den Beruf gewechselt. Der Bankabteilungsleiter war vielleicht zum Bankfilialleiter aufgestiegen, der Zahnarzt war Zahnarzt geblieben, der Anwalt Anwalt; immer in der gleichen Stadt versteht sich.
“Du bist aber ganz schön rumgekommen”, meinte einer zu mir, der seinen A. nie länger aus D. wegbewegt hatte, und das Gegenteil hätte ich zur Mehrheit der Versammelten sagen können.
Der Rest des Abends verlief bis auf wenige Ausnahmen erwartungsgemäß. Höchst lokale Themen bestimmten die bierseligen Gespräche der Ewigzuhausegebliebenen, oder, wenn es weit hinaus ging, ging es um das Ferienhaus am Comer See, das man irgendwann günstig erworben und inzwischen den gestiegenen Ansprüchen entsprechend um- und ausgebaut hatte.
Ich gab mich geduldig, spielte mit, fragte, erzählte ein wenig. Nur einmal konnte ich nicht an mich halten, als ein abgewählter Oberstadtdirektor a.D. einer Kleinstadt aus dem Weichbild sich darüber ereiferte, daß man ihm per Gesetzesbeschluß neuerdings seine “Nebenverdienste” als Anwalt auf seine mit Mitte vierzig schon erreichte Beamtenpension anrechnet. Für ihn, Hausbesitzer und (neben dem Alltagsmercedes) Oldtimerfahrer grenzte es an Enteignung. Irgendwann brachte man uns (dankenswerterweise) mit dem Aufruf auseinander, wir sollten doch an einem solchen Abend die Politik lieber aus dem Spiel lassen. Daraufhin begann der Erbe des Schönheitstcrèmefabrikanten, dem jetzt folgerichtig eine Firma zur Einrichtung von Schönheitsstudios gehört, alte Anekdötchen aus der Schulzeit und seine schon damals abgeschmackten Sprüche zu klopfen. “Eh, damals kamen die Mädels zu meinem Alten, um sich bei ihm mit Selbstbräunungscrème einzuschmieren, und heute kommen sie zu mir, um sich die Runzelhaut wieder glätten und aufhellen zu lassen. Zyklisches, aber krisensicheres Geschäft, hä, hä.”
Nein, der merkte nichts mehr, aber was wundere ich mich? Der hatte nie wirklich etwas geschnallt. Außer aus Falten Geld zu machen. Genau der Schlag Leute, die mit einem gewieften Steuerberater so viel absetzen und am Fiskus vorbeipfuschen, wie sich gerade noch unauffällig tricksen läßt, aber gleichzeitig lauthals schreien, wir sollten den arbeitsfaulen Griechen doch nicht mit “unseren” Steuergeldern aus der schließlich selbstverschuldeten Misere helfen.
Da ich nun schon einmal da war, beschloß ich am nächsten Morgen, mir nun auch noch den Rest zu geben. Ich begab mich auf einen Rundgang durch das Viertel, in dem ich prägende Jahre meiner Kindheit verbracht hatte. Natürlich lag alles viel näher beieinander als mir die kürzere Schrittlänge der Kinderbeine ins Gedächtnis geschrieben hatte. Damals hatte es noch Lücken in der Zahnreihe der Häusergiebel gegeben: Trümmergrundstücke, mit ihren von Brombeerranken und Brennesseln überwucherten Häuserruinen und feuchten Kellern. Die Abenteuerspielplätze meiner Kindheit. Diese Lücken waren natürlich längst gefüllt. Die damals bereits bewohnten Vorkriegshäuser standen meist unverändert, hatten vielleicht einen Fassadenanstrich bekommen, einige auch einen Styropormantel, unter dem sie im Sommer viel Schwitzwasser ansammeln würden; in die Ladenlokale waren größtenteils neue Geschäfte eingezogen, aber die Räume und Fassaden waren noch ebenso leicht wiederzuerkennen wie all die anderen Dinge im Viertel.
Viel mehr als die Veränderungen verblüfften mich die Kontinuitäten. Ein kleines Autohaus trug noch den gleichen Schriftzug wie damals, und das Garagentor war noch in den gleichen Farben gestrichen. Aus dem “Fischmann”, der auch einen Imbiss für Bratfisch und die ersten Pommes Frites meines Lebens betrieb, war ein “Asian Finger Food to go” geworden, aber eben immer noch ein Imbiss. Die Drogerie von damals gehörte jetzt einer Drogeriekette, die damalige Stammkneipe meiner Eltern hatte sich anscheinend zum Restaurant aufgewertet, als Inhaber firmierte aber immer noch die gleiche Familie. Inzwischen vielleicht von der Tochter geführt, die ich damals verstohlen angehimmelt hatte, weil sie jederzeit hinter den Tresen durfte und sich da unbegrenzt mit Erdnüßchen versorgen konnte.
Und da, ein paar Häuser weiter, war die Toreinfahrt, das schwere, zweiflügelige Holztor stand offen wie eh und je, und es hing noch immer ein städtisches Schild daneben. Ich ging durch die dunkle Einfahrt, der Weg dahinter war noch immer von Mauern aus unverputzten, dunkelroten Ziegelsteinen eingefaßt wie damals, dann kam der erste Hof, darauf jetzt Spielgeräte, die es früher nicht gegeben hatte, und dahinter stand, wie fälschlich in einen Hinterhof gesetzt, genauso wie in meiner Erinnerung und auf den alten Fotos, das alte Schulgebäude aus Kaisers Zeiten. Drei Etagen, hohe Fenster, ein klein wenig wilhelminische Neogotik am Gesims, ansonsten der schlichte, dunkel angelaufene Backstein vom Niederrhein. Auf der Rückseite floß noch immer der kleine Bach, der auch damals den Schulhof geteilt hatte. Inzwischen war er vollständig von Geländern eingefaßt, aber er war noch da, nicht als unterirdischer Kanal zum Verschwinden gebracht, und das Wasser sah klarer aus, als ich es von früher in Erinnerung hatte. Ich hatte ihn immer gemocht, den kleinen Bach, der als etwas Lebendiges zwischen den zugepflasterten, vermauerten und asphaltierten Höfen hingluckerte. Oft hatte ich von der kleinen Brücke hineingespuckt oder weiter oberhalb ein Stück Rinde oder ein Blatt hineingeworfen und dann zugesehen, wie es unter der Brücke hindurchtanzte.
Der Spielplatz, der an den Schulhof anschloß, war auch noch da, aber doch sehr umgestaltet. Was sollten die Kinder heute auch mit einer Rollschuhbahn anfangen? Der Spielplatz, die von ihm wegführenden Straßen und der vordere Teil des Parks, zu dem sie hinliefen, das war damals mein “Revier” gewesen, oder vielmehr das meiner “Bande”. Da konnten wir uns einigermaßen sicher fühlen (denn es regierte so etwas wie das sozialdarwinistische Gesetz der Straße unter uns Kindern im Viertel), und Eindringlinge rivalisierender “Banden” wurden zuerst argwöhnisch beobachtet und dann im geeigneten Moment überfallen und verjagt. Ebenso erging es uns, wenn wir das Territorium einer feindlichen Bande durchqueren mußten. Später, als ich aufs Gymnasium kam, mußte ich das täglich, und es ging nicht immer gut aus. Eine Chance hatte man nur, wenn man schnell genug den schweren Tornister von den Schultern werfen konnte, um in der Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt zu sein. Blutig gekloppt haben wir uns nicht, aber es gab schon mal dicke Lippen und ein blaues Auge. Das fiel nicht unbedingt auf, weil wir vom Bäume Erklettern im Park (wobei uns der damals obligatorische Parkwächter nicht erwischen durfte), beim Stromern durch das Brombeergestrüpp der Trümmergrundstücke oder von Stürzen mit dem Fahrrad sowieso stets irgendwelche Kratzer, Abschürfungen oder sonstwelche Blessuren hatten. Bei meinen Eltern stand immer ein Apothekenfläschchen mit rotbrauner Jodtinktur im Badezimmerschrank, womit Abend für Abend meine frischen Schrammen beißend betupft wurden. Wimmern oder gar wehleidiges Zetern waren streng verpönt.
Später traten an die Stelle der blutenden Schürfwunden Verletzungen, die sich nicht einfach mit Jod desinfizieren ließen. In dem Haus, das unserem gegenüber stand, wohnten zwei Schwestern. Die ältere der beiden war vermutlich das erste Mädchen, das mich als Vertreterin des anderen Geschlechts interessierte und nicht als wehrlose Beute beim “Mädchenfangen” auf dem Schulhof oder als Spezies, die nicht Fußball spielen konnte. Merken lassen durfte ich sie das natürlich nicht, und bei den Versuchen, unauffällig in ihre Nähe zu kommen, hatte ich einen Konkurrenten mit einem uneinholbaren Standortvorteil: ein Junge aus meiner Klasse wohnte im gleichen Haus wie die Schwestern.
Daraus wurde also nichts. Aber das hier, vor dem ich jetzt stand, das war der Hauseingang, in dem ich zum ersten Mal ein Mädchen geküßt hatte. Offen gestanden zwei. Es waren nämlich Zwillingsschwestern, eineiig. Und sie nutzten es weidlich aus, daß sie äußerlich kaum zu unterscheiden waren. Mal blieb die eine im Abenddunkel länger vor der Tür, mal die andere, und sie knutschten wie die Weltmeister. Am nächsten Tag tat jede schnippisch abweisend so, als wäre nicht sie es gewesen, sondern die Schwester. Ich ließ ihnen den Spaß, denn er bewahrte mich davor, mit einer von ihnen “gehen” zu müssen, und tat so, als wäre ich ahnungslos wie ein Blinder. Dabei küßten sie sehr unterschiedlich, und ich wußte stets sehr genau, welche von ihnen ich vor mir hatte.
Ich stand vor dem Hauseingang und ließ den Blick über die Klingelschilder wandern; und es traf mich der Schlag: auf einem stand noch immer derselbe Name. Ein zweiter war hinzugekommen. Die Eltern konnten es also nicht sein. Das hieß, eines dieser Mädchen wohnte noch immer in derselben einfachen, dunklen Mietwohnung, in der schon seine Eltern gelebt hatten und in der sie und ihre Schwester aufgewachsen waren. Klingeln? Nein, besser nicht. Für mich war dieses Festsitzen im Immergleichen unvorstellbar. Aber ich sollte es auf diesem Rundgang durch das alte Viertel noch dreimal feststellen. Ich suchte gezielt Häuser auf, in denen früher Spielkameraden oder Jungen oder Mädchen aus der Jugendgruppe gewohnt hatten, an deren Namen ich mich noch erinnern konnte, und in drei weiteren Fällen fanden sich die Namen noch auf den Klingelschildern.
Fremdbestürzt fuhr ich davon. Der Spaziergang hatte mir wieder sehr deutlich vor Augen geführt, warum für mich seit den frühesten Überlegungen, was ich im Leben vielleicht einmal tun wollte, immer wie selbstgegeben festgestanden hatte, daß ich auf jeden Fall aus diesem Viertel und aus dieser Stadt raus und etwas anderes von der Welt sehen wollte. Und hier saßen also Menschen, die ich einmal gekannt hatte, sogar noch in denselben Wohnungen wie seit Kindertagen. Wie sich das wohl anfühlte, mochte ich mir nicht einmal vorstellen wollen.
Nur einer Sache war ich mir ziemlich sicher: daß sie von ihrem Ufer aus mich, diesen unsteten, heimatlosen Gesellen, mittlerweile mit ebensoviel Unverständnis und Befremden ansehen würden. “Da ergrimmte Kain sehr, und seine Gebärde verstellte sich.” Kehrte er denn da etwa nicht auf kleiner Flamme wieder, der uralte Gegensatz zwischen Kain und Abel, Bauer und Hirte, Seßhaftem und Nomaden?
Bevor ich losfuhr, wollte ich im Auto noch rasch etwas umpacken und stellte mich dazu kurz in die Einfahrt zu einem kleinen Parkplatz. Natürlich kam prompt eine Frau aus dem Haus und ging zu ihrem Wagen, wobei sie mich sehr mißbilligend ansah. “Sorry, bin gleich weg”, sagte ich. “Das will ich auch hoffen”, giftete sie. “Hier haben Sie nämlich nichts zu suchen.” – Der ewige unfreundliche Satz des Besitzenden an den Durchziehenden. Fremdes Revier, andere Bande.
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Die junge Frau, die mir die Haare schneidet, ist Französin. Ihr Mann hat eine Stelle an der Uni in Leiden. Ihr Englisch ist nicht so gut wie das des Fischmanns, aber es reicht. Was fragt man seinen Frisör? “Wie war der Urlaub?”
“O, nice, but not to nice.”
“Where have you been?”
“In San Francisco. But don’t tell my boss!”
“And you didn’t like it very much?”
“Yes, I liked it, but it’s not exciting, nothing very special. Bon, some nice buildings etcétera but after two or three days everything looks similar and you know it all. You ‘ave seen it on TV and in films. Everything. And the food is awful. Next time I stay in Europe, it’s more interesting, more old buildings, more history, more variety, more différences.”
Wenn man wissen will, wie es draußen in der Welt aussieht, braucht man nur seine Friseuse in Den Haag zu fragen und muß dazu nicht einmal Holländisch sprechen.
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oder was man findet, wenn man etwas über einen Garten erfahren möchte
Im Jahr 1801 gab es in der erst sechs Jahre jungen Batavischen Republik der Niederlande einen kleinen Staatsstreich, diplomatisch eingefädelt vom Ersten Konsul der Schutzmacht Frankreich, Napoleon Bonaparte, der immer mehr monarchische Bestrebungen erkennen ließ. So wurden durch eine von ihm erzwungene Verfassungsreform demokratische Errungenschaften auch in der Batavischen Republik wieder zurückgenommen, und man bezeichnete den niederländischen Satellitenstaat Frankreichs fortan offiziell lieber als Bataafs Gemenebest.
Drei Jahre nach dem Coup kam der Ratgeber des holländischen Königshauses Baron Arnold Willem van Brienen in den Besitz des schönen Barockschlößchens Clingendael beim Regierungssitz Den Haag. (Sein Stadtpalais dort war das heutige Hotel des Indes.) Clingendael blieb Eigentum derer van Brienen bis zum Tod ihrer letzten Vertreterin, der Baroneß Marguerite Marie van Brienen van de Groote Lindt, 1939. Die Baroneß besaß ausgezeichnete Verbindungen auch zu ausländischen, besonders britischen Adelskreisen und sprach angeblich mehr Englisch als Holländisch.
Seit den Weltausstellungen in Wien 1873 und Paris 1889, auf denen nach der jahrhundertelangen Isolation des Landes die ersten japanischen Gartenpavillons und -anlagen in Europa zu bestaunen waren, kam es zu einer kleinen Japanwelle in den Parks mondäner englischer Gartenbesitzer. Zu ihnen gehörte auch Frances Maynard, seit ihrer Heirat mit Francis Greville Lord Brooke, dem 5. Earl of Warwick, nicht nur Erbin der Ländereien ihres Großvaters, dem Viscount Maynard, sondern auch Herrin auf Warwick Castle (gegründet von Wilhelm dem Eroberer) mit seinem fast drei Quadratkilometer großen Park.
“It was not uncommon in the Victorian era for a married woman of social prominence to become romantically involved with a man higher on the social ladder than her husband. This was often with the husband's knowledge, as it could also assist in his advancing socially or politically, and was considered normal for the times.” (English Wikipedia)
Lady Brooke of Warwick, von vertrauten Freunden kurz Daisy genannt, unterhielt mehrere solcher Affairen, die bekannteste – sie sorgte selbst dafür, daß sie bekannt wurden, weshalb man sie in ihren Kreisen auch gern “Babbling Brooke” nannte – war eine über Jahre andauernde mit dem damals “ewigen” Prince of Wales, dem späteren König Edward VII. Sie bestand immerhin zwölf Jahre. Danach nahm sich die schöne Daisy, die selbst Rodin Modell stand, andere Liebhaber; einer ihrer Favoriten war das Vorbild für “John Bull”, Admiral Lord Beresford, ein anderer der schnauzbärtige Brigadegeneral Joseph Laycock, mit dem sie zwei Kinder hatte.
“Brookie, to whom Daisy remained married until his death in 1924, proved to be a man of surprising and devoted resilience, tolerant not only of his wife's endless affairs but of the arrival of children in whose creation he had no part”, schreibt eine ihrer Biografinnen, Sushila Anand.
“Brookies” Bruder, Louis George Grenville, war zeitweilig britischer Botschafter in Tokyo und ließ sich nach seiner Heimkehr bei seinem Landsitz Heale House einen japanischen Garten anlegen; seine Schwägerin folgte diesem Beispiel bei ihrem eigenen Lieblingslandhaus, Easton Lodge in Essex."
Baroneß van Brienen in Den Haag unterhielt beste Beziehungen zu diesen Kreisen der britischen High Society. Sie kannte auch König Edwards noch bekanntere langjährige Maitresse, Alice Keppel (deren Urenkelin rein zufällig die langjährige Geliebte des jetzigen Prince of Wales ist: Camilla Carter-Bowles). Alice Keppels Tochter Violet ging bereits mit 10 Jahren eine enge Freundschaft mit Vita Sackville-West ein, die sich über Jahre hinweg zu einer wild-bewegten lesbischen amour fou entwickeln sollte.
Mevrouw van Brienen oder “Freule Daisy” war mit Vitas Mutter Victoria Sackwell-West persönlich befreundet und ebenso mit den Schwestern Ella und Florence Du Cane, die in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende als Malerin und Schriftstellerin ausgedehnte Reisen unternahmen und anschließend illustrierte Bücher darüber veröffentlichten: Flowers and Gardens of Madeira (1909), ...of the Canary Islands (1911) und, als erstes in der Reihe: Flowers and Gardens of Japan, 1908. Ein Exemplar schenkten sie bei einem Besuch in Clingendael ihrer Gastgeberin und Freundin.
Drei Jahre später begab sich Marguerite van Brienen selbst auf eine Japanreise. Von dort brachte sie einige Dekorationsstücke für ihren eigenen Garten nach den Vorstellungen der europäischen Japonaiserie mit: einen kleinen Schrein, ein Teehäuschen, Steinlaternen, eine kleine, rot lackierte Holzbrücke. Mit der Anlage des Gartens beauftragte sie ihren Gutsverwalter Theodoor J. Dinn, der bereits in den Parks von Versailles, London und Kew gearbeitet hatte, bevor er sich 1905 von der Baroneß anwerben ließ, um in Clingendael eine Pflanzenzucht aufzubauen.
Während in Den Haag der einzige Japanische Garten in den Niederlanden anwuchs, wuchs im Haus Keppel in London Skandalträchtiges heran, und das waren nicht die mehr oder weniger diskreten Affären von Lady Alice, sondern das trotzige Beharren von Tochter Violet, ihre Liebe und ihre lesbische Beziehung zu Vita Sackville-West offen ausleben zu wollen. Vita war inzwischen mit dem Diplomaten Harold Nicholson verheiratet, doch weil der auch gern seinen eigenen homosexuellen Neigungen nachging, konnte sich das Paar bestens arrangieren. 1918 trafen sich die beiden Freundinnen wieder, ließen Vitas Kinder bei der Gouvernante zurück und brannten, unbeeindruckt vom Weltkriegsgeschehen um sie herum, zusammen nach Frankreich durch. Als sie Monate später nach England zurückkehrten, drängte Alice Keppel, um dem Skandal die Spitze zu nehmen, ihre Tochter in eine Ehe mit dem Offizier Dennis Trefusis. Doch noch im gleichen Jahr gönnten sich Vita und Violet eine erneute gemeinsame Auszeit von zwei Monaten in Paris und Monte Carlo, bis Trefusis seine frisch Angetraute auf Drängen der Schwiegermutter zurückholte. Und im Jahr 1920 mußten beide Ehemänner in einem Privatflugzeug auf die Suche nach ihren wieder einmal entwischten Frauen gehen. Sie fanden sie in Amiens und trennten sie nur dadurch, daß sie sie aufeinander eifersüchtig machten. Lady Alice reichte es jetzt mit Violets Eskapaden, zumal das Gerede in London allmählich die bevorstehende Hochzeit ihrer jüngeren Tochter zu gefährden drohte. Also mußte Violet für eine Weile aus der Öffentlichkeit verschwinden. Was konnte sich besser für einen nervenberuhigend abseits gelegenen und doch standesgemäßen “Kuraufenthalt” eignen als das ruhige Haus der befreundeten Baroneß van Brienen im Park von Clingendael?
“...It is such a heavenly night - if only you were here; there is a really lovely little Japanese garden in the middle of the wood. I have just been out to look at it. It has a little paper house in the middle, where it would be divine to sleep”, schrieb Violet im Oktober 1920 von dort an ihre Freundin Vita.
Im nächsten Frühjahr waren sie zum letzten Mal zusammen in Frankreich, bevor Nicholson, auf seinen Ruf bedacht, seine Frau vor die Alternative stellte: Ende der Affäre oder Scheidung.
Violet wurde daraufhin für viele Jahre die Geliebte von Winnaretta Singer, der Tochter und Erbin des amerikanischen Nähmaschinenproduzenten Isaac M. Singer. Vita Sackville-West wurde später bekanntlich die Geliebte von Virginia Woolf, die ihr mit ihrem Roman Orlando eine literarische Liebeserklärung schenkte.
Solche Geschichten findet man, wenn man nur etwas über einen alten Garten in Erfahrung bringen will, der nun immerhin seit bald hundert Jahren besteht. Im Anfang war er natürlich hell und licht und nach den Wünschen der Besitzerin auch voller seltener, exotischer Blumen, darunter japanische Lilien und Seerosen, Azaleen und Chrysanthemen, die Wappenblumen des Tenno. Heute sind die damals gepflanzten Bäume so hoch, daß der Garten mehr und mehr im Schatten liegt. Üppig blühende Pflanzen bekommen nicht mehr genügend Licht, und auf dem feuchtigkeitsgesättigten dunklen Boden haben sich vor allem verschiedene Moose ausgebreitet. Um die fragile Bepflanzung zu schützen ist Mvr. van Brienens japanischer Garten wieder ein hortus clausus; nur an wenigen Wochen im Frühjahr zur Blütezeit und zwei Wochen im Herbst, wenn sich das Laub der japanischen Ahorne rot färbt, wird er für Besucher geöffnet. Jetzt liegt er wieder still und verschlossen da, und Moos wächst über den Schuhabdrücken einsam liebender Frauen.
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