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Samstag, 16. Juli 2011
MM, eine Bildbetrachtung
Das zwiespältige Verhältnis der allein seligmachenden Kirche zu Frauen ist in Grundzügen ja allgemein bekannt; aber wenn man wieder einmal etwas genauer hinsieht, welche Bocksprünge und Kopfstände die Kirche in einzelnen Fällen veranstaltet hat, kommt man aus dem Kopfschütteln nicht heraus.
Was ist aus den zu kanonischen erklärten Texten der christlichen Überlieferung im Neuen Testament zum Beispiel über Maria Magdalena zu erfahren?
Nicht viel. Aber auch nicht ganz wenig.
• Etwa, dass diese Mariam aus Magdala am See Genezareth zu Jesu Jüngern gehört haben soll, denn – von den auserwählten Zwölf und der Kirche nicht unbedingt an die große Glocke gehängt – ihm folgten mehr als die glorreichen Zwölf nach und darunter befanden sich, horribile dictu, viele Frauen, von Mönch Luther “Weiber” genannt:

“Und es begab sich darnach, daß er reiste durch Städte und Dörfer und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes; und die zwölf mit ihm, dazu etliche Weiber, die er gesund hatte gemacht von den bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, die da Magdalena heißt, von welcher waren sieben Teufel ausgefahren”
(Lukas 8,1-2)

• Vom Teufel besessen war diese Maria Magdalena (ab hier: MM) also, und nicht bloß von einem, sondern gleich von 7 (magische Zahl). Arme Frau! Oder, seitdem man aufgrund der zahlenmäßigen Übereinstimmung später dazu überging, die sieben Teufel als symbolische Vertreter von sieben Todsünden anzusehen, ein ganz schlimmes Weib! Bevor sie sich Jesus von Nazareth anschloß, bis zu seinem bitteren Ende. Denn der Apostel Matthäus erwähnt sie in seiner Schilderung der Kreuzigung ausdrücklich:

“Und es waren viele Weiber da, die von ferne zusahen, die da Jesus waren nachgefolgt aus Galiläa und hatten ihm gedient; unter welchen war Maria Magdalena”
(Matthäus 27,55f.).

• Viele Frauen folgten Jesus und dienten ihm, sagt die Bibel. Und nicht seinen namentlich bekannten männlichen Jüngern des engeren Kreises, sondern ausgerechnet seinen “Weibern” erschien der Wiederauferstandene, denn die hatten sich nach seiner Beerdigung durch Joseph von Arimathia trauernd an seinem Grab niedergelassen.

“Jesus aber, da er auferstanden war früh am ersten Tag der Woche, erschien er am ersten der Maria Magdalena, von welcher er sieben Teufel ausgetrieben hatte.”
(Markus 16,9)

Die Sache mit den sieben Teufeln soll offenbar nicht in Vergessenheit geraten. Geschenkt. Ansonsten aber mußte der Apostel Markus Maria Magdalena, dem (ehemaligen) Teufelsweib, eine ganz besondere Auszeichnung zuerkennen: Unter seinen vielen Jüngern (Männlein wie Weiblein) wählt der auferstandene Christus nicht Petrus, nicht Paulus, nicht Bartholomäus, Jakobus Zebedäus, Simon, Philippus, Thaddäus oder Judas Ischariot aus, sondern: MM, um die wichtigste und folgenreichste Nachricht an die übrigen Jünger und durch sie in der Welt zu verbreiten, die von seiner Auferstehung.
Das wird kein Zufall gewesen sein. Zufall kommt doch in der Bibel an keiner Stelle vor, kann doch gar nicht, alles ist doch stets Gottes Wille: “Es fällt kein Spatz vom Himmel...” Mit anderen Worten, MM hat für Gottes Sohnemann anscheinend eine besondere Rolle gespielt.

Welche?, möchte man natürlich fragen, doch darüber hüllen sich die vier Apostel erst recht in beredtes Schweigen. Der Apostel Johannes gibt immerhin das kurze Gespräch zwischen MM und Jesus nach dessen Auferstehung wieder. Und zwar so:

“Maria aber stand vor dem Grabe und weinte draußen. Als sie nun weinte, guckte sie ins Grab und sieht zwei Engel in weißen Kleidern sitzen... und spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hin gelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich zurück und sieht Jesus stehen und weiß nicht, daß es Jesus ist.
Spricht er zu ihr: Weib, was weinest du? Wen suchest du?
Sie meint es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo hast du ihn hin gelegt, so will ich ihn holen.
Spricht Jesus zu ihr: Maria!
Da wandte sie sich um und spricht zu ihm: Meister!
Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater.”

(Johannes 20, 11-18)


• Das berühmte “Noli me tangere” oder “Faß mich nicht an!” – Warum ist es das erste, was er sagt, nachdem sie ihn erkannt hat? Weil sie ihn sonst immer angefaßt hat? Auch dazu schweigt der Apostel Höflichkeit.
Nicht so die der führenden frühen Bibelinterpreten. Nach Auskunft des Ökumenischen Heiligenlexikons soll der im 4. Jahrhundert als Leiter der Schule von Nisibis lehrende Ephraim der Syrer erstmals die Meinung vertreten haben, MM sei die im Lukas-Evangelium erwähnte Sünderin im Haus des Pharisäers Simon:

“Siehe, ein Weib war in der Stadt, die war eine Sünderin. Da die vernahm, daß er zu Tische saß in des Pharisäers Hause, brachte sie ein Glas mit Salbe und trat hinten zu seinen Füßen und weinte und fing an, seine Füße zu netzen mit Tränen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küßte seine Füße und salbte sie mit Salbe.”
(Lukas 7,37)

Mehr als pure Vermutung ist diese Gleichsetzung nicht, denn Lukas nennt nirgends den Namen der Sünderin. Ephraim hat aber wie so viele Theologen einen großen Teil seiner Zeit und seiner öffentlichen Äußerungen darauf verwandt, Menschen zu bekämpfen, die anderer Meinung waren als er selbst. In jener frühkirchlichen Epoche stand das Dogmengebäude der christlichen Kirchen ja längst nicht fertiggezimmert, und so erklärten sich Anhänger verschiedenster Glaubenssätze gegenseitig zu Abweichlern, Irrgläubigen und Ketzern. Im Lauf ihrer institutionellen und dogmatischen Verfestigung hat die Kirche sogar ursprünglich biblische Schriften wie ganze Evangelien rundweg für unglaubwürdig erklärt und als häretisch ausgesondert. Die Bibel, wie wir sie (mehr oder weniger gut) kennen, ist eine gekürzte, eine zensierte Schrift.

• Ende 1945 fanden Bauern im ägyptischen Nag Hammadi einen versiegelten Tonkrug, der nicht weniger als 13 in Leder gebundene Bücher enthielt: eine im Zeitalter Ephraims des Syrers niedergeschriebene Sammlung älterer biblischer Schriften, die allesamt von der Orthodoxie als unkanonisch ausgesondert worden waren. Unter ihnen befanden sich mehrere Evangelien, darunter eines des Thomas und eines des Philippus. Im letzteren heißt es in Vers 55 ausdrücklich:

Die Gefährtin von [Christus] ist Maria Madgalena. Der [Herr liebte] sie mehr als [alle] (anderen) Jünger, und er küßte sie [oftmals] auf ihren [Mund]. Die übrigen [Jünger], sie sagten zu ihm: ,Weshalb liebst du sie mehr als uns alle?’ Es antwortete der Erlöser, er sprach zu ihnen: ,Weshalb liebe ich euch nicht (so) wie sie?’

Welche Reichweite hat hier das Wort “Gefährtin”? Was bedeutet hier “lieben”, und welcher Art waren die Küsse, die Jesus MM auf den Mund gab? Das läßt sich nicht klären. Deutlich ist jedenfalls, daß die anderen Jünger auf MM eifersüchtig waren.
Das Thomasevangelium wird in dieser Hinsicht noch eindeutiger. Sein 114. und letzter Vers lautet:

“Simon Petrus sprach zu ihnen: „Mariham soll von uns fortgehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig.“
Jesus sprach: „Seht, ich werde sie führen, um sie männlich zu machen, daß auch sie ein lebendiger Geist wird, der euch Männern gleicht. Denn jede Frau, die sich männlich macht, wird in das Königreich des Himmels eingehen.“

Starker Tobak, nicht wahr? Petrus, der Fels, auf den Jesus seine Kirche bauen wollte, ist dermaßen eifersüchtig auf MM, daß er Frauen für lebensunwürdig erklärt. Vielleicht ganz gut, daß diese apokryphe Schrift für lange Zeit im ägyptischen Wüstensand verbuddelt wurde.

• Aber die Leiche, die man vor der Zeit vergräbt, kann ein langes Nachleben als Wiedergängerin führen. Und so ist es ja auch mit der Legende von MM als der Geliebten Jesu. Von Nikos Kazantzakis (Die letzte Versuchung Christi), über Luise Rinser (Mirjam) und weniger bedeutende Schriftsteller wie Marianne Fredriksson (Maria Magdalena) bis hinab zu Dan Brown reicht allein die Kette jüngerer literarischer Bearbeitungen. In der Malerei waren Darstellungen der MM natürlich ein noch lockenderes Sujet, dem von früh an ein Parfüm des Verruchten anhing und mit dem man ungestraft gegen das christliche Nacktheitsverbot auf der Leinwand verstoßen durfte.

• Endgültig hat nämlich der erste Mönch und erste und letzte “Kirchenvater” auf dem Papstthron, Gregor der Große, MM’s Ruf vorsätzlich zerstört. Vermutlich weil er die bevorzugte Stellung der MM bei Jesus zugunsten des Apostels Petrus abbauen wollte, auf dessen persönliche Nachfolge er ja seinen eigenen Anspruch auf den Primat seiner römischen Kirche vor anderen stützte. Im Jahr 591, ein Jahr, nachdem der Patriziersohn (natürlich höchst demütig-widerwillig) den Stuhl Petri bestiegen hatte, hielt er in der Clemens-Basilika in Rom eine Predigt über die Sünderin im Lukas-Evangelium und ging darin über die Meinung des Syrers noch hinaus:

"Hanc vero quam Lucas peccatricem mulierem, Joannes Mariam nominat, illam esse Mariam credimus de qua Marcus septem dæmonia ejecta fuisse testatur" (“Wir glauben, daß die sündige Frau bei Lukas, die Johannes Maria nennt, die gleiche Maria ist, der laut Markus die sieben Teufel ausgetrieben wurden.”
(SS Gregorius I Magnus: Homiliarum In Evangelia Libri Duo (Nr. XXXIII), in: Migne, Patrologia Latina, Bd. 76)

Dann fuhr er in einer beachtlichen Männerphantasie für einen keusch lebenden Mönchspapst fort: Die Salbe, mit der diese Frau (sc. MM) die Füße des Herrn eingerieben habe, habe sie vorher benutzt, “illicitis actibus sibi pro odore suae carnis adhibuit”, “um bei verbotenen Handlungen ihr Fleisch zu parfümieren.”
Der selbsternannte Nachfolger des eifersüchtigen Petrus stempelte also Jesu liebste Gefährtin zur Hure.

• Diesen mehr als zweifelhaften Ruf ist MM seitdem nicht mehr losgeworden. Mit offenen Haaren und roten Kleidern, den Attributen der Prostituierten, hat man sie wieder und wieder gemalt, bei Leonardo trägt sie das rote Gewand sogar schamlos offen und nichts darunter. Jules Lefebvre malte sie im 19. Jahrhundert völlig nackt sich räkelnd in einer Grotte wie Leda, die den Schwan erwartet.
Daneben gab es zu allen Zeiten auch Darstellungen ihrer Rolle bei der Grablegung und Auferstehung Christi. Seit dem großen Gregor steht Maria Magdalena in dem altbekannten paradoxen patriarchalischen Spannungsfeld, daß man sie zugleich als Heilige verehrt und als Hure verachtet.

• Nach meinem Eindruck ist diese Doppelheit der Frau nirgends besser in einem Gesicht und in einem Blick vereint als in der Maria Magdalena des Venezianers Carlo Crivelli von 1487.
Vielleicht gelang sie ihm aufgrund eigenen Erlebens so überzeugend. Genau dreißig Jahre vorher war er nämlich in seiner Heimatstadt ins Gefängnis geworfen worden, weil er ein leidenschaftliches Verhältnis mit Tarsia Cortese, einer verheirateten Frau, unterhalten und sie am Ende sogar entführt und monatelang versteckt gehalten hatte.
“But essentially, he was a loner”, schrieb das Time Magazine anläßlich einer Werkausstellung im Dogenpalast 1961. “Though he had lived in Venice, he spent most of his life in the hilly region called The Marches on the Adriatic. There he worked alone, perfecting a style that has intrigued and puzzled critics ever since. Wild Gentleness. On the surface, his Mary Magdalene seductive though she may be, seems an excessive display of virtuosity, as stilted and brittle as a piece of porcelain.”
Zur Zeit ist das fragile Porzellangesicht mit dem vieldeutigen Blick in Erasmus’ Rotterdam zu besichtigen.


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Erst dieser Tage
begegnete mir die von Ihnen Portraitierte im Rahmen eines Gespräches über die unterschiedlichen Auslegungen religiöser Schriften vor allem durch Männer (wer sonst?). Und nun wieder — bei Ihnen. Dank dafür!

À propos Luther — am Rand sei etwas über dessen Leistung erwähnt.

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