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Donnerstag, 1. Oktober 2009
Nachsommer in Estland
Pärnu soll die “Sommerhauptstadt” Estlands sein. Sie ist es. Und wie!
Es ist aber längst Nachsommer und dementsprechend noch schöner. Vor dem Schlafengehen am Vorabend waren bereits die ersten Sterne am Himmel angeknipst worden, am Morgen erleuchtete warm die Sonne das Zelt. Es hat schon etliche Jahre in verschiedensten Weltgegenden auf dem Buckel, aber ich schätze es immer noch sehr. Die Kombination aus windstabilem Tunnel außen und geräumig wirkender Kuppel innen, samt viel Vorzelt, die gut kalkulierte Farbgebung, mit der es sich außen in jede Landschaft einpaßt und im Innern immer ein mild gedämpftes, warmes Licht verbreitet, finde ich bis jetzt unübertroffen. Aber leider ist keines dieser ultraleichten Kunstfasergewebe bis heute auf Dauer UV-beständig, und auch die Reißverschlüsse zicken neuerdings manchmal rum. Einem tagelang niederrauschenden Dauerregen dürfte die gute alte Haut nicht mehr überall standhalten.



In Pärnu aber scheint die Sonne. Ein paar letzte, tief gestaffelt am Skandinavienhimmel dahinsegelnde Wölkchen lösen sich bald in reines Wohlgefallen auf. Vor dem breiten, feinsandigen Strand gluckst ein wenig nachsaisonhaft die Ostsee. Sehr gemächlich fließt auch der Pärnu-Jogi der Pernauer Bucht zu. Die alten Stadtteile liegen auf einer Halbinsel zwischen Fluß und Meer. Wasser zu beiden Seiten. Das letzte erhaltene Tor in der ehemaligen Stadtumwallung stammt aus der Zeit, als große Teile des Baltikums zu Schweden gehörten. Entworfen hat es der “Vauban Schwedens”, Erik Dahlberg. Vom einfachen Buchhalter in Schwedisch-Pommern über eine Pionier- und Festungsbauerkarriere in der Armee (er war es, der im Januar 1658 den Schweden die Route über das Eis des Kleinen und des Großen Belts absteckte, auf der zur grenzenlosen Verblüffung des dänischen Feinds die komplette Armee geradewegs auf Kopenhagen marschierte) stieg er zum Feldmarschall auf, wurde geadelt und zum Generalgouverneur von Bremen-Verden ernannt, 1696 mit 70 Jahren Generalgouverneur von Livland. Aus Protest gegen die Kriegspläne Karls des Verrückten, den Voltaire so bewunderte, daß er seine Biographie verfaßte, bat Dahlberg 1702 um seine Entlassung und kehrte nach Schweden zurück.
Sehr martialisch wirkt das alte Tor von Pärnu mit seinem geschwungenen Giebelaufsatz nicht, eher wie das Torhaus eines holländischen Barockschlößchens. Und ein bißchen abseits liegt es inzwischen auch, denn für Autos ist sein Doppeltor viel zu eng, und so mußten der Fortschritt und die Stadtentwicklung einen Bogen darum machen.
Wir schlendern aus der Altstadt durchs Tor ins sogenannte Kurviertel. Es ist so grün, daß es mehr wie eine Fortsetzung des lichten Küstenwalds denn nach Wohngegend aussieht. Ist es nicht wieder die enge Verbundenheit der Baltenvölker mit dem Wald, die hier sichtbar wird? Andererseits waren es wohlhabende Russen, die Pärnu seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Sommerfrische entdeckten, zum Kurort ausbauten und ihre Sommervillen zwischen die hohen Kiefern bauten. (Heute stehen einige von ihnen, frisch renoviert, für je eine Viertelmillion Euro zum Verkauf.) In den ausgedehnten Parks und Gärten, die bis unmittelbar an den breiten Strand heranreichen, ragen auch viele alte Kastanien und Eichen mit breiten Kronen in den blauen Himmel. Spontan beschließen wir, den ganzen Tag hier zu verbringen und die Seele heute bis in diesen Himmel baumeln zu lassen.

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Mittwoch, 30. September 2009
"There is no common Baltic identity."
Jaunpils Ein Stück Deutschland in vier Jahren?
Durchaus möglich. Aber noch kommen solche Zustandsaufnahmen aus Lettland, wo die Häßlichkeit durch ihre Einbettung in die umgebende Natur gemildert wird und manchmal fast etwas Malerisches erhält.


Estland ist anders. An weniger Orten so tiefgehend marode, wie wir es in Lettland zum Abschluß noch einmal in seiner ganzen deprimierenden Trostlosigkeit in der ehemaligen Hansestadt Lemsal (lett. Limbaži) mitansehen mußten. Zunächst einmal ist Estland vor allem leerer, hat, bei nur geringfügig weniger Fläche, kaum mehr als die Hälfte der Einwohner Lettlands. Zieht man einmal das Drittel Russen ab, bleibt weniger als 1 Million Esten übrig. Tendenz abnehmend.
Wir reisen auf der Via Baltica entlang der flachen Küste ein und sehen höchstens Kleinstortschaften. Ansonsten zur Linken im Westen das Meer hinter offenen Wiesen, rechts lange Waldstrecken mit darin eingebetteten Einzelhöfen. Meist sind sie in recht gutem bis frisch modernisiertem Zustand. Ich kann nicht genau benennen, woran es liegen mag, aber wir haben von der ersten Stunde an den Eindruck, daß die Atmosphäre hier nicht so drückt wie im Nachbarland. Es atmet sich jedenfalls sogleich irgendwie leichter und freier. Bei den ersten Begegnungen mit Esten zeigt sich auch, daß man anders miteinander umgeht. Es wird gegrüßt, und es darf sogar gelächelt werden.
“Das Baltikum” als eine Einheit zu betrachten, ist eben eine typische Außenperspektive. In den Ländern der Region sieht und betont man viel mehr die Unterschiede. Der auch am Ostsee-Kolleg der Berliner Humboldt-Universität unterrichtende litauische Politologe Mindaugas Jurkynas hat gerade erst Einwände gegen die vom derzeit schwedischen Ratspräsidenten angekündigte neue EU-Strategie für den Ostseeraum erhoben. Diese Region sei noch eine sehr junge Einheit, erinnerte er in dem litauischen Nachrichtenportal Delfi. Ihre Länder seien immer durch historische, religiöse, kulturelle und sprachliche Unterschiede voneinander getrennt gewesen. “To this day there is no common Baltic identity. Neither the Baltic countries nor the the Nordic states nor Russia see themselves as 'states of the Baltic Region'.”

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Montag, 28. September 2009
"Schwarz-Geld gewinnt" oder Westerwelle reitet für Deutschland


Neinnein, die Schlagzeile hat sich nicht Titanic ausgedacht, sondern Hubert Burdas Internet-Pressedienst nachrichten.de, nur würde man dem so viel ungeschminkte Wahrheit in seiner Berichterstattung gar nicht zutrauen. Die Schlagzeile belegt aber auch schon etwas anderes: Satirikern und Kabarettisten dürften nach dem gestrigen Ergebnis der Bundestagswahl wieder rosigere Zeiten ins Haus stehen. Den "Upper ten thousand" geht's ja ohnehin glänzend, und bald werden sie endlich auch noch von ihren letzten Steuer- und anderen Schulden staatlich entlastet werden. Für die zu vernachlässigende Restbevölkerung wird's hingegen in den nächsten Jahren weiter... - ach, was soll's, jeder, der wirklich wissen wollte, wie es bei diesem Wahlausgang in den nächsten Jahren in D'land weitergehen dürfte, hat sich längst eine leidlich klare Vorstellung davon bilden können. Und sagt später nicht, Ihr hättet das nicht kommen sehen!

Das nebenstehende Wahlplakat habe ich dem Spiegelfechter entnommen.

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Sonntag, 27. September 2009
Stille, die bedrückend wirkt
Wie leise sich die Menschen verhalten, das war uns (zumal wir aus Holland kamen) seit dem Tag unserer Ankunft an nahezu jedem Ort in Lettland aufgefallen. Es machte den Eindruck, als würde es den Leuten schwer fallen, einmal zu lächeln oder auch nur zu grüßen. “Das ist die typisch östliche Unfreundlichkeit”, kommentierte die wojwodinische Herzogin aus ihrer profunden, jahrzehntelangen Erfahrung. “Je weiter du nach Osten kommst, umso mürrischer wird der Umgangston. Und vergiß nicht, jeder Dritte, dem du hier begegnest, ist Russe.” In der Tat hört man in Riga sehr häufig Passanten Russisch miteinander sprechen. Es scheint mancherorts gar noch die vorherrschende Verkehrssprache zu sein. Lettland ist praktisch zweisprachig. In manchen Landkreisen sind zugewanderte und angesiedelte Russen in der Mehrheit und die Letten eine Minderheit im eigenen Land. Die wirklich ziemlich verbreitete mürrische bis verstockte Grußlosigkeit geht so weit, daß man selbst in den Waschräumen auf Campingplätzen stumm und mit abgewandtem Kopf und Blick aneinander vorbeigeht.
“Vielleicht ist das Verhaltene und Geduckte den Menschen hier aber auch nicht per se eigen”, ergänzte die Herzogin nachdenklich. “Vielleicht ist es auch eine Folge von siebzig Jahren Bespitzelung, Überwachung und Unterdrückung. Wenn du damit rechnen mußt, daß alles, was du laut äußerst, der Staatssicherheit hinterbracht wird, gewöhnst du dir an, leise zu sprechen.”

Ein Drittes kommt noch hinzu: Armut. Aus der sind viele Leute hier sichtlich nie herausgekommen, und die akute Wirtschaftskrise frißt jetzt auch die kleinen Verbesserungen der letzten Jahre wieder auf. Nach dem EU-Beitritt vor fünf Jahren ging es mit der lettischen Volkswirtschaft von sehr niedrigem Niveau steil aufwärts. 2007 wuchs die Wirtschaft um 7%. Doch das Krisenjahr 2008 endete nach dem Crash schon wieder mit einem abrupten Sturz ins Negative, und in diesem Jahr steckt Lettland in einer massiven Rezession mit einer Schrumpfung der Wirtschaft um bisher 20%. Damit nicht alles zusammenbricht, mußte die Regierung beim IWF um Notkredite bitten, und der gewährte sie mit seinen üblichen, noch immer vom Neoliberalismus diktierten Auflagen, die u.a. staatliche Sparmaßnahmen verlangen, die besonders die kleinen Leute treffen. Dabei beträgt zum Beispiel in dem armen Landkreis Rezekne das durchschnittliche Einkommen schon jetzt gerade mal umgerechnet 100 Euro im Monat. Und das Preisniveau im Land ist nicht so, daß man davon leben kann. Kein Wunder, daß die Atmosphäre nicht gerade vor Fröhlichkeit strahlt. Zumal geschätzt mehr als zehn Prozent der jüngeren Leute nicht zur No-future-Generation werden wollen und bereits ausgewandert sind.

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Donnerstag, 24. September 2009
Cesis. Burg Wenden
Deutsche marschierten bekanntlich nicht erst unter dem Hakenkreuz im Baltikum ein. Böswillig könnte man es so ausdrücken, daß das deutsche Auftreten als Besatzer damals bereits seit 750 Jahren Tradition hatte. Denn nach Wikingern auf dem “Ostweg” nach Byzanz und Kaufleuten von Gotland waren zum Ende des 12. Jahrhunderts auch immer mehr Fernhändler aus dem Reich an der Dünamündung aufgetaucht, denen im Jahr 1201 der zum Missionsbischof von Livland ernannte Bremer Domherr Albrecht von Buxthoeven mit angeblich 1500 Pilgern (?) auf 23 Schiffen folgte, um eine Stadt zu gründen, die nach einem Flüßchen, das bei der Landungsstelle in die Düna mündete, Riga genannt wurde. Sein Auftrag war es, die baltischen Heiden auf die eine oder andere Art zum Christentum zu bekehren. Ehemalige Kreuzritter aus Westfalen gründeten 1204 den Orden der Fratres miliciae Christi de Livonia, im Deutschen wegen ihres Abzeichens (ein rotes Kreuz über einem auf der Spitze stehenden roten Schwert) meist verkürzt Schwertbrüderorden genannt, und stellten sich zunächst Bischof Albrecht als sein bewaffneter Schwertarm zur Verfügung. In wenigen Jahren eroberten sie Livland und Estland, ehe sie im September 1236 bei Šiaulen/Schaulen - ähnlich wie früher einmal Varus - in sumpfigem Gelände von Litauern und Schemaiten gestellt und beinahe vollständig aufgerieben wurden. Die überlebenden Ritterbrüder wurden dem inzwischen in Preußen ansässigen Deutschen Orden eingegliedert. Hauptsitz der Schwertbrüder und ihres Ordensmeisters war die 1209-24 errichtete Burg Wenden, das spätere Cesis, die im Lauf der Jahre zu einer uneinnehmbaren Feste ausgebaut und am Ende 1577 von den Ordensrittern selbst zerstört wurde, damit sie nicht in die Hände des Livland erobernden Zaren Ivan, genannt der Schreckliche, fiel.
An dem Sonntag, an dem wir Stadt und Burg besuchten, wirkten sie unter dem grauen Himmel so bedrückend ausgestorben und öde, als hätten sie sich seit damals nie wieder erholt. Bis auf einen einzigen Grillimbiß war alles geschlossen, und außer ein paar Besuchern der Burg, die auf der Suche nach Eßbarem durch die Straßen irrten, war kein Mensch unterwegs, bis sich die Türen der Kirche öffneten. Ein voll besuchter Gottesdienst am Sonntagnachmittag. Posttransitionsfrömmigkeit. Eines der unverständlichen Phänomene in allen ehemals sowjetischen Ländern.

Cesis

In der Hoffnung auf einen leckeren Nachmittagstee liefen wir Ungurmuiza an, wurden aber in dieser Hinsicht enttäuscht. Der Teepavillon war verbarrikadiert. Dafür erwartete uns eine barocke Schloßanlage in bescheiden ländlicher Manier und voll und ganz in Holz ausgeführt, inklusive der imitierten Quadersteine an den Hausecken. Alles so still, daß es den Schauplatz für eine Tschechow-Novelle abgegeben haben könnte.

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Sonntag, 20. September 2009
Schatten der Vergangenheit, nicht abzuschütteln.
Zum ehemaligen Reichskommissariat Ostland
Da hatte sie uns nach wenigen Tagen schon eingeholt, die Geschichte. Genauer gesagt, auch meine eigene, deutsche Geschichte, und zwar in ihren dunkelsten und brutalsten Ausprägungen. Hitlers Wehrmacht war hier im Zweiten Weltkrieg einmarschiert, um zu erobern, zu herrschen, und damit “Untermenschen” unterjocht und ausgerottet werden konnten. Nur einen Monat nach dem Angriff auf die Sowjetunion wurde im Juli 1941 das Reichskommisariat Ostland gebildet. Reichskommissar und damit neben Wehrmacht und SS sein ziviler Herrscher wurde - bis zu seiner Flucht im August 1944 - der NSDAP-Gauleiter von Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse. Er versah beide Ämter in Personalunion und versorgte so viele seiner norddeutschen Gesinnungsgenossen mit annähernd tausend in den besetzten Gebieten neu geschaffenen Posten (mit denen sie nebenbei auch um die Einberufung zur Front herumkamen), daß sich sagen läßt, das Baltikum sei von Schleswig-Holsteinern regiert worden. Lübecks damaliger Oberbürgermeister Otto-Heinrich Drechsler etwa wurde Generalkommissar von Riga und Lettland.


Drechsler, Lohse, Rosenberg

Die im August ‘41 erlassenen "Vorläufige Richtlinien für die Behandlung der Juden im Gebiet des Reichskommissariats Ostland" machten die “Goldfasane” der deutschen Zivilverwaltung auch dadurch, daß sie die Selektion der zur Zwangsarbeit "nicht mehr benötigten Juden" vornahmen, zu unmittelbar Beteiligten am Holocaust”, schrieb Uwe Danker, Leiter des Instituts für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte an der Universität Flensburg, 1999 in seinem Beitrag zur Wehrmachtsausstellung im Kieler Landeshaus. (Vgl. zuletzt auch die Tagungsberichte zur Konferenz über das Reichskommisariat Ostland an der Universität Flensburg Ende Mai dieses Jahres.)
“Die statistische Teilbilanz des Völkermordens in dieser Region: Von mindestens 500.000 - es gibt inzwischen genauere Schätzungen - im Gebiet des Reichskommissariats 1941 angetroffenen, rassisch definierten Juden lebten 1945 nach der Befreiung keine 10.000 mehr.” (U. Dankert, a.a.O.)

Im Januar 1948 wurde Hirnich Lohse von der Spruchkammer Bielefeld zu zehn Jahren Haft und Vermögensentzug verurteilt. Schon 1951 wurde er krankheitshalber in die Freiheit entlassen. - Drei Jahre Gefängnis für annähernd eine halbe Million Menschenleben auf dem Gewissen. Und zwar im vollen Bewußtsein der eigenen Schuld. Schon 1942 hatte Lohse seinen Stellvertreter zweimal im NS-Reichsjustizministerium nachfragen lassen, ob und inwieweit seine Verantwortung bei den “Judenvorgängen” justiziabel sei. Unrechtsbewußtsein? Fehlanzeige. Wie so viele NS-Täter beteuerte Lohse nach dem Krieg vor Gericht, er sei eigentlich dagegen und ein heimlicher Widerständler gewesen, und “im November 1951 erstritt sich Hinrich Lohse vor Gericht 25 Prozent seiner Pensionsansprüche”.

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Freitag, 18. September 2009
Der 23. August. Gedenktag zur Rehabilitierung von Nazi-Kollaborateuren?
Im Kontrast zu den überall national gebauschten Fahnen am 23. August (wir sahen in den Abendnachrichten Ausschnitte von Gedenkfeiern in allen baltischen Ländern) sollten wir wenig später den 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs als einen fröhlich unbeschwerten Tag erleben, an dem z.B. in Trakai und Vilnius allein die Einschulung der i-Dötzchen und der allgemeine Schulbeginn nach den langen Sommerferien die Menschen zu beschäftigen schien.
Selbst wenn der Tag des Hitler-Stalin-Pakts in der Rückschau tatsächlich den Anfang vom Ende der unabhängigen baltischen Republiken markiert, so kann doch dieser friedliche Wochenendtag damals nicht halb so traumatisch erlebt worden sein wie der schwarze Freitag des 1. September ‘39, an dem das alte Linienschiff Schleswig-Holstein die Danziger Westerplatte beschoß, die Luftwaffe Wielun bombardierte und die Wehrmacht mit über 50 Divisionen und dreieinhalbtausend Panzerfahrzeugen an mehreren Stellen die Grenze nach Polen überrollte. Gerade durch die kurz zuvor im Hitler-Stalin-Pakt vorgenommene Aufteilung Osteuropas wird niemand mehr behaupten können, der deutsche Überfall auf Polen sei etwa für die Balten nicht von vitalem Interesse gewesen. Warum also diese auffällige Verschiebung des öffentlichen Gedenkens vom 1. September auf den 23. August?
Wir haben in allen drei baltischen Staaten noch eine korrelierende Beobachtung gemacht: Vom kleinen Historischen Museum in der Burg Kuressaare auf der estnischen Insel Saaremaa bis zur Gedenkstätte für die Opfer von Okkupation und Gewaltherrschaft in der litauischen Hauptstadt Vilnius legt man überall im Baltikum heute Wert darauf, neben den Opfern der Nazis fast gebetsmühlenhaft immer auch im gleichen Atemzug die der sowjetischen Besatzungszeit zu erwähnen. Die nach wie vor fragwürdige und den rassistischen Vernichtungskrieg der Nazis relativierende Gleichsetzung von “braunem und rotem Terror” ist dort offiziell und flächendeckend vollzogen.

Lokalgeschichte ist ja oft aufschlußreicher als der große welthistorische Rundumschlag. Das erwähnte kleine Museum in der Burg von Kuressaare z.B. bildet nahezu minutiös die Abfolge deutscher und russischer Besetzungen der ehemaligen Insel Ösel ab: Im Oktober 1917 erstürmten deutsche Marineeinheiten die seit 1710 russische Insel, 1939 marschierte die inzwischen Rote Armee im gerade mal zwanzig Jahre unabhängigen Estland ein, 1941 eroberte die Wehrmacht die Insel, und 1944 wurde sie in heftigen Kämpfen von den Russen zurückerobert. Die Opfer der Inselbevölkerung werden in fast allen Darstellungen nur pauschal addiert: Die Zahl der Einwohner fiel von 1939-45 von 56.000 auf 38.000, um mehr als 30%. Wie viele Esten und Deutschbalten wurden von den Sowjets nach Sibirien deportiert? Wie viele Juden haben SS und SD abtransportiert und vernichtet? Ebensowenig wird gesagt, daß sich Saaremaa und Estland in einer Art Bürgerkrieg zwischen “roten” und “weißen” bzw. braunen Esten befunden haben müssen, von denen die einen die Sowjets, die anderen die Nazis als Befreier begrüßten und jeweils mit ihnen zusammenarbeiteten.
Wie vielerorts fachte der 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs auch in Großbritannien und im britischen Guardian die Diskussion über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs heftig wieder an. Eingeleitet wurde sie mit einem einschlägigen Artikel des Harvard-Historikers Niall Ferguson: Why did the second world war begin?
Aus einem betont weltgeschichtlichen Blickwinkel stellt er darin den Überfall Nazideutschlands auf Polen als einen lediglich zweitrangigen Mosaikstein in einem Fünfzigjährigen Krieg von 1904-1953 um die Vorherrschaft im gesamten eurasischen Raum dar. “The key was the sustainability of western imperial power over the rest of the world, and most importantly over Asia [...] But with Japan's victory over Russia in the war over Manchuria that broke out in 1904, the historic tide at last began to turn. From then until the 1950s the leitmotif of history was conflict between and against the western empires over the central question of who should rule the great Eurasian landmass [...] Reflect for a moment on the sheer scale of the second world war. The best available figures indicate that around 60 million people died as a direct result of the conflict – close to 3% of the world's entire pre-war population [...] How could a German invasion of Poland lead to carnage on such a vast scale? Poland was strategically insignificant and relatively poor. The allies often claimed to be fighting for democracy, but as far as political freedom and civil rights for minorities went, Poland was little better than Germany in 1939.” - Der Satz hatte eine wütende Demarche des polnischen Botschafters in London zur Folge. Doch Ferguson relativiert die mindestens fünfzig Jahre lang festzementierte Doktrin von der Einzigartigkeit der deutschen Verbrechen im zwanzigsten Jahrhundert noch weiter. In seiner aggressiven Expansionspolitik sei das Deutsche Reich zunächst nur Japan und Italien gefolgt, und im Inneren seien Gewalt und Terror im revolutionären Rußland ungleich größer gewesen als in Deutschland. “Unlike in Hitler's Germany, where the targets for persecution were identifiable minorities, in Stalin's Soviet Union no one could feel safe [...] when war broke out in 1939 he was the dictator with by far the bloodiest hands. And he was as much an aggressor as Hitler. It was not just Germany that invaded Poland, after all. It was the Red Army from the east too.”
Solche Thesen passen einfach zu gut in einen (in Deutschland altbekannten) Geschichtsrevisionismus, als daß sie nicht sofort vehementen Widerspruch herausgefordert hätten. Der russische Präsident Medwedjew hatte sich schon Ende August vehement gegen eine Erklärung von OSZE-Parlamentariern gewandt, in der diese im Juli vorgeschlagen hatte, den 23. August zukünftig als einen europäischen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus zu begehen, und beschuldigte vor allem die Führer der Baltischen Staaten, ehemalige Nazi-Komplizen heute als Nationalhelden auszugeben. Im Guardian antwortete u.a. Kolumnist Seumas Milne auf Ferguson und wies dabei auf ein Motiv der heutigen baltischen Republiken hin, sich vor allen anderen an diesem Revisionismus zu beteiligen. Es gehe ihnen besonders darum, die eigenen Kollaborateure mit den Nazis zu rehabilitieren. Unsere punktuellen Eindrücke in Kuressaare und andernorts können diese Deutung nur bestätigen. Wo immer die Kollaboration mit den Nazis erwähnt wird, geschieht das nie, ohne die zuvor von den Sowjets begangenen Greuel zu schildern, sodaß die Zusammenarbeit mit den Nazischergen sogleich als verständliche und berechtigte Rache an den grausamen Besatzern dasteht. Milne legt den Finger auf die richtigen Stellen:
“The real meaning of the attempt to equate Nazi genocide with Soviet repression is clearest in the Baltic republics, where collaboration with SS death squads and direct participation in the mass murder of Jews was at its most extreme, and politicians are at pains to turn perpetrators into victims. Veterans of the Latvian Legion of the Waffen-SS now parade through Riga, Vilnius's Museum of Genocide Victims barely mentions the 200,000 Lithuanian Jews murdered in the Holocaust and Estonian parliamentarians honour those who served the Third Reich as "fighters for independence".
Most repulsively of all, while rehabilitating convicted Nazi war criminals, the state prosecutor in Lithuania – a member of the EU and Nato – last year opened a war crimes investigation into four Lithuanian Jewish resistance veterans who fought with Soviet partisans: a case only abandoned for lack of evidence.”

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