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Sonntag, 20. Dezember 2015
Was tun? Flüchtige Gedanken auf dem Weg
Es sieht so aus, als würde ich derzeit zweierlei praktizieren, das aufs Gleiche hinausläuft.
„Teeismus ist ein Kult, gegründet auf die Verehrung des Schönen inmitten der schmutzigen Tatsachen des Alltags [...] ein zarter Versuch, etwas Mögliches zu vollenden in diesem Unmöglichen, das wir Leben nennen.” So Kakuzo Okakura 1906 in seinem Book of Tea. Kult, Kultivierung des Teegenusses ist zweifellos das, was Roland Barthes hinsichtlich der Lust am Text noch mit einem Fragezeichen versehen hat: „Genüsse einer Kaste, Mandarinat?”
Die „Mandarinatspraxis” beschreibt er als eine nur von wenigen geübte Verhaltensweise unter der „gegenwärtigen Konstellation der Kräfte”. Massenverflachung heißt die andere.
„Die Opposition [...] besteht immer und überall zwischen der Ausnahme und der Regel.”
„Um der Entfremdung der gegenwärtigen Gesellschaft entgehen zu können, haben wir nur ein Mittel: die Flucht”. Und zwar die Flucht nach vorn, in etwas Neues, Anderes, denn „die Sprache, die unter dem Schutz der Macht entsteht und sich ausbreitet, ist ihrem Status nach eine Wiederholungssprache; alle offiziellen Sprachinstitutionen sind Wiederkäumaschinen: die Schule, der Sport, die Werbung, die Massenware, der Schlager, die Nachrichten sagen immer die gleiche Struktur, den gleichen Sinn, oft die gleichen Wörter: die Stereotypie ist ein politisches Faktum, die Hauptfigur der Ideologie.”

Um den vorgestanzten Schablonen zu entgehen, bleibt nur eine „marginale, exzentrische Gier nach dem Neuen”: immer wieder neue Wege gehen.
Dagegen läßt sich aus einer Überblicksperspektive natürlich einwenden, daß es in unserer Welt schon seit langem keine neuen Wege mehr gibt. Doch für den Einzelnen in seinem persönlichen Erleben existieren sie durchaus. Jedes Kleinkind entdeckt für sich die Welt neu; jeder, der nach zwanzig, dreißig Jahren des täglich gleichen Arbeitswegs kündigt und in eine andere Stadt, ein anderes Land zieht, geht für sich neue Wege. Wer alte, überlebte Beziehungen hinter sich läßt und damit auch seit langem eingespielte Verhaltens- und Denkmuster, hat die Chance, für sich geistiges Neuland zu betreten.
Es gibt Neues, nur sind wir „nicht fein genug, um den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen”, hat Nietzsche 1881 ausgerechnet in einem seiner Fragmente (11, 293) zur ewigen Wiederkehr des Gleichen festgehalten. „Das Bleibende ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flächen hinlegen, was so gar nicht existirt. Der Baum ist in jedem Augenblick etwas Neues: die Form wird von uns behauptet, weil wir die feinste absolute Bewegung nicht wahrnehmen können”.
Auf der Mikroebene des Individuellen entsteht immer wieder Neues. Es müßte somit möglich sein, dort den Wiederkäumaschinen und der Massenverflachung zu entkommen (so lange es keinen kollektiven Widerstand gegen sie gibt). Raus also aus deren Ballungsräumen in Einkaufszentren, Shopping Malls, Innenstädten! Flucht nach vorn! Und die führt für mich (nach dem Teegenuß) vorläufig in die Stille der Wälder. Solling, Bramwald, Reinhardswald; auf den Spuren Heinrichs des Voglers, der dort ebenfalls seine Ruhe suchte. (Man findet tief im Wald noch Spuren alter Wallburgen aus seiner Zeit. Da träumen sie seit mehr als tausend Jahren und sinken Millimeter für Millimeter zurück ins Erdreich.)

Zur Erinnerung: „Wären die großen Massen so durchsichtig, so gleichgerichtet in den Atomen, wie die Propaganda es behauptet, dann wäre nicht mehr an Polizei vonnöten, als wie ein Schäfer Hunde für eine Herde braucht. Das ist nicht der Fall, denn es verbergen sich Wölfe in der grauen Herde, das heißt Naturen, die noch wissen, was Freiheit ist.” (Jünger: Der Waldgang)

Mandarinatspraxis also auch die Waldgänge. Ja, doch klingt das exklusiver, als es ist. Grundsätzlich stehen die Wege und die Wälder jedem offen. „Und was würde aus der schönen Waldeinsamkeit, wenn das jeder täte?” – Keine Sorge, es wird nie jeder tun. Der stereotyp gegen alles aus der Reihe Tanzende wiederholte Einwand der Spießbürger geht auch hier an der Realität vorbei ins Leere. Es wird nicht einmal jeder aus Syrien fliehen oder aus Ruanda. Oder aus den Sklavenbedingungen in den Emiraten oder aus den giftverseuchten Tagebauminen in Brasilien. Aus den stickigen, vollgepferchten Hallen der Näherinnen in Bangladesh oder aus der verstrahlten Umgebung von Fukushima. Nicht einmal von dort. Geschweige denn von hier, aus dieser saturierten Gesellschaft von Käufern und Verkäufern, Konsumenten und Kopfhörerträgern, in der noch jeder irgendwo sein Schnäppchen oder seinen Deal machen kann.
Eine der perfiden Eigenschaften von Werbung besteht darin, daß sie manchmal das vorherrschende Denken in einem einzigen Slogan erfaßt und uns den Spiegel vorhält: „Ich bin doch nicht blöd!” – Doch, genau das bist du, wenn du das glaubst und damit den Schnäppchenpreisanbietern auf den Leim gehst. Dieselbe Ramschkette hat in meinen Augen auch in diesen Jahren wieder den Zeitgeist einer Generation in eine Aussage gefaßt: „Hauptsache ihr habt Spaß!”
In dem Sinne schon mal Frohe Weihnachten!
Auf dem Markt in Lahore, wo u.a. auch die von Kinderhänden genähten Adidasbälle für unsere Gabentische zu haben sind, „kann man große Puppen kaufen, die sehr naturgetreu ein dreijähriges Mädchen in schwarzer Spitzenunterwäsche darstellen. Kleine Mädchen singen und tanzen für einen, ehe man mit ihnen seine Bedürfnisse befriedigt. – Kinder sind eine geringere Last, wenn sie früh lernen, zum Unterhalt der Familie beizutragen.” Berichtete der schwedische Schriftsteller Sven Lindqvist (Myten om Wu Tao-tzu) in den Sechziger Jahren aus Pakistan. „Die Bauern werden von der Armut in die Städte getrieben. Sie stellen sich auf den Markt. Ihre Gesichter sind noch ungewohnt und von dunklen Vorhaben erfüllt. Er war völlig ernst, als er mir Geschlechtsverkehr mit seinem kleinen Mädchen anbot, das er auf dem Arm hielt.”
Schnee/Misere von gestern? Falsch. "Noch nie gab es so viele Sklaven wie heute".

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