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Mittwoch, 28. April 2010
Misère de Paris und Haussmannisierung
Am nächsten Morgen brachen wir zu einem ausgedehnteren Spaziergang Richtung Innenstadt auf. Ich wußte noch nicht, daß er zehn Stunden dauern würde. Aber ich habe den Verdacht, die Duracelldame an meiner Seite führte von Anfang an nichts anderes im Schilde.
“Come in and find out!” (Nachdem die Parfümeriekette Douglas durch eine Umfrage entdeckte, daß die meisten Kunden ihren Slogan als “Komm rein und find wieder raus!” verstanden, ließ sie ihn rasch fallen.) Ich hingegen fand als erstes heraus, daß der berühmte Schlager (ich kenne die Fassung von Jacques Dutronc, und die von Vanessa Hachloum finde ich auch schlimm) "Il est cinq heures, Paris s‘éveille" eine glatte Lüge ist. Paris schlief, tief und fest. Die Boulangerie an der Ecke hatte geöffnet, wo man diesen in die Länge gezogenen Weißmehlteig bekommt, der nach dem Backen maximal zwei Stunden frisch und genießbar bleibt, ehe man ihn nur noch an die Tauben verfüttern kann, die sich darum natürlich zu einer allgegenwärtigen und nur vorzeitig an Herzverfettung sterbenden Pariser Plage entwickelt haben.
Die einzige, die in Paris niemals schläft, ist die Müllabfuhr. Doch selbst durch ihren unermüdlichen Einsatz schafft sie es lediglich, die Straßen der Stadt oberflächlich von groben Verunreinigungen zu befreien. Und auch wenn ständig irgendwo reichlich Wasser durch die Rinnsteine gespült wurde, drängte sich zumindest in den östlichen Stadtteilen bald unweigerlich das Bild auf, Paris sei zwar nicht die große Hure Babylon, aber doch eine von langer, nächtlicher Schicht flügelmüde heimkehrende Bordsteinschwalbe. Ihre Wimperntusche lief in schwarzen Rinnsalen das Gesicht hinab, der Stuck auf den Wangen bröckelte, der Lippenstift auf der Fassade war verwischt, die Haare hingen ihr in fettigen Strähnen auf die mit Graffiti tätowierten Schultern, und an dem einstmals imposanten Vorbau war einiges in Schräglage geraten. Wer sich mit ihr einließ, wurde das Gefühl nicht mehr los, daß sich die eigene Haut mit einem Schmutzfilm aus rußigem Staub und Fett überzog.
Es war die gleiche dunkle Tönung, die auch die Menschen an Kleidung, Gesicht und Händen aufwiesen, die an den Straßenrändern aus Zelten oder notdürftig mit Bindfaden zusammengehaltenen Kartons und Plastikplanen krochen oder sich in der Kühle des Aprilmorgens benommen und fröstelnd von Parkbänken aufrappelten.
Benjamin daher weiter: “Die Breite der Straßen soll ihre [der Barrikaden] Errichtung unmöglich machen und neue Straßen sollen den kürzesten Weg zwischen den Kasernen und Arbeitervierteln herstellen.” 32.000 neu aufgestellte Gaskandelaber und 15.000 sonstige Straßenlaternen sorgten dafür, daß etwaige Aufrührer auch nicht im Schutz der Nacht ihren Umtrieben nachgehen konnten.
“J‘ai le culte du Beau, du Bien, des grandes choses, / De la belle nature inspirant le grand art”, schrieb Haussmann fast zynisch in seinen eitlen Memoiren mit dem Titel Bekenntnisse eines alt gewordenen Löwen: “Ich pflege den Kult des Schönen, Guten, der großen Dinge, / der schönen Natur, die große Kunst inspiriert.”
“Haussmanns urbanistisches Ideal waren die perspektivischen Durchblicke durch lange Straßenfluchten. Es entspricht der im XIX. Jahrhundert immer wieder bemerkbaren Neigung, technische Notwendigkeiten durch künstlerische Zielsetzungen zu veredeln”, merkte Benjamin dazu an. “Die Institute der weltlichen und geistlichen Herrschaft des Bürgertums sollten... ihre Apotheose finden, Straßenzüge wurden vor ihrer Fertigstellung mit einem Zelttuch verhangen und wie Denkmäler enthüllt.”
Einen Teil der Stadtzerstörung, Stadtsanierung und Zurichtung für den Bürgerkrieg im großen Maßstab durch den Artiste démolisseur, wie sich Haussmann selbst nannte, haben wir am Vorabend gesehen: Der Canal Saint-Martin hatte den Revolutionären von 1848 als Wassergraben zur Verteidigung gegen das anrückende Militär gedient. Haussmann ließ ihn in seinem unteren Verlauf um sechs Meter tiefer graben und anschließend mit dem breiten Boulevard Richard Lenoir zudeckeln, um Schußfeld und eine weitere Aufmarschstraße gegen die Arbeiter im roten Osten der Stadt zu schaffen.
Die breiten Boulevards, das Netz der Kanalisation unter der Oberfläche, die einheitliche Traufhöhe, Geschoßzahl und Fassadengestaltung der großen Bürgerhäuser, alles, was das unverwechselbare Gesicht von Paris bis heute prägt, existiert erst seit 150 Jahren und trägt die persönliche Handschrift von Georges-Eugène Baron Haussmann, der das in römischer Zeit gegründete alte Paris weitgehend ausradiert hat. Bei seiner Absetzung im März 1870 saß die Stadt auf einem Schuldenberg von 1.518.799.082 Francs, der erst 1929 vollständig abgetragen war.
“Come in and find out!” (Nachdem die Parfümeriekette Douglas durch eine Umfrage entdeckte, daß die meisten Kunden ihren Slogan als “Komm rein und find wieder raus!” verstanden, ließ sie ihn rasch fallen.) Ich hingegen fand als erstes heraus, daß der berühmte Schlager (ich kenne die Fassung von Jacques Dutronc, und die von Vanessa Hachloum finde ich auch schlimm) "Il est cinq heures, Paris s‘éveille" eine glatte Lüge ist. Paris schlief, tief und fest. Die Boulangerie an der Ecke hatte geöffnet, wo man diesen in die Länge gezogenen Weißmehlteig bekommt, der nach dem Backen maximal zwei Stunden frisch und genießbar bleibt, ehe man ihn nur noch an die Tauben verfüttern kann, die sich darum natürlich zu einer allgegenwärtigen und nur vorzeitig an Herzverfettung sterbenden Pariser Plage entwickelt haben.
Die einzige, die in Paris niemals schläft, ist die Müllabfuhr. Doch selbst durch ihren unermüdlichen Einsatz schafft sie es lediglich, die Straßen der Stadt oberflächlich von groben Verunreinigungen zu befreien. Und auch wenn ständig irgendwo reichlich Wasser durch die Rinnsteine gespült wurde, drängte sich zumindest in den östlichen Stadtteilen bald unweigerlich das Bild auf, Paris sei zwar nicht die große Hure Babylon, aber doch eine von langer, nächtlicher Schicht flügelmüde heimkehrende Bordsteinschwalbe. Ihre Wimperntusche lief in schwarzen Rinnsalen das Gesicht hinab, der Stuck auf den Wangen bröckelte, der Lippenstift auf der Fassade war verwischt, die Haare hingen ihr in fettigen Strähnen auf die mit Graffiti tätowierten Schultern, und an dem einstmals imposanten Vorbau war einiges in Schräglage geraten. Wer sich mit ihr einließ, wurde das Gefühl nicht mehr los, daß sich die eigene Haut mit einem Schmutzfilm aus rußigem Staub und Fett überzog.
Es war die gleiche dunkle Tönung, die auch die Menschen an Kleidung, Gesicht und Händen aufwiesen, die an den Straßenrändern aus Zelten oder notdürftig mit Bindfaden zusammengehaltenen Kartons und Plastikplanen krochen oder sich in der Kühle des Aprilmorgens benommen und fröstelnd von Parkbänken aufrappelten.
“The Place St. Sulpice, so quiet and deserted, where toward midnight there came every night the woman with the busted umbrella and the crazy veil; every night she slept there on a bench under her torn umbrella, the ribs hanging down, her dress turning green, her bony fingers and the odor of decay oozing from her body; and in the morning I‘d be sitting there myself, taking a quiet snooze in the sunshine, cursing the goddamned pigeons gathering up the crumbs everywhere.”
(Henry Miller, Tropic of Cancer)
Benjamin daher weiter: “Die Breite der Straßen soll ihre [der Barrikaden] Errichtung unmöglich machen und neue Straßen sollen den kürzesten Weg zwischen den Kasernen und Arbeitervierteln herstellen.” 32.000 neu aufgestellte Gaskandelaber und 15.000 sonstige Straßenlaternen sorgten dafür, daß etwaige Aufrührer auch nicht im Schutz der Nacht ihren Umtrieben nachgehen konnten.
“J‘ai le culte du Beau, du Bien, des grandes choses, / De la belle nature inspirant le grand art”, schrieb Haussmann fast zynisch in seinen eitlen Memoiren mit dem Titel Bekenntnisse eines alt gewordenen Löwen: “Ich pflege den Kult des Schönen, Guten, der großen Dinge, / der schönen Natur, die große Kunst inspiriert.”
“Haussmanns urbanistisches Ideal waren die perspektivischen Durchblicke durch lange Straßenfluchten. Es entspricht der im XIX. Jahrhundert immer wieder bemerkbaren Neigung, technische Notwendigkeiten durch künstlerische Zielsetzungen zu veredeln”, merkte Benjamin dazu an. “Die Institute der weltlichen und geistlichen Herrschaft des Bürgertums sollten... ihre Apotheose finden, Straßenzüge wurden vor ihrer Fertigstellung mit einem Zelttuch verhangen und wie Denkmäler enthüllt.”
Einen Teil der Stadtzerstörung, Stadtsanierung und Zurichtung für den Bürgerkrieg im großen Maßstab durch den Artiste démolisseur, wie sich Haussmann selbst nannte, haben wir am Vorabend gesehen: Der Canal Saint-Martin hatte den Revolutionären von 1848 als Wassergraben zur Verteidigung gegen das anrückende Militär gedient. Haussmann ließ ihn in seinem unteren Verlauf um sechs Meter tiefer graben und anschließend mit dem breiten Boulevard Richard Lenoir zudeckeln, um Schußfeld und eine weitere Aufmarschstraße gegen die Arbeiter im roten Osten der Stadt zu schaffen.
Die breiten Boulevards, das Netz der Kanalisation unter der Oberfläche, die einheitliche Traufhöhe, Geschoßzahl und Fassadengestaltung der großen Bürgerhäuser, alles, was das unverwechselbare Gesicht von Paris bis heute prägt, existiert erst seit 150 Jahren und trägt die persönliche Handschrift von Georges-Eugène Baron Haussmann, der das in römischer Zeit gegründete alte Paris weitgehend ausradiert hat. Bei seiner Absetzung im März 1870 saß die Stadt auf einem Schuldenberg von 1.518.799.082 Francs, der erst 1929 vollständig abgetragen war.
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