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Sonntag, 21. Februar 2010
Mädchen mit Turkmenenaugen
Der Wunsch nach Frühling war natürlich verfrüht. Heute ist der Haag bei feuchtkaltem Frost in dichtesten, vom Meer in Schwaden heranwehenden Nebel gehüllt, die berüchtigte zeevlam. Statt eines ausgedehnten Dünen- und Strandspaziergangs habe ich daher endlich ein Buch gelesen, das schon seit langem auf meiner Liste stand, einen kurzen, aber verstörenden Roman von nicht mehr als 150 Seiten.
Verstörend vor allem wegen seines selbstquälerischen und selbstzerstörerischen Erzählers, verstörend wegen der endlosen Spiegelungen und Widerspiegelungen der immergleichen Elemente in scheinbar ewig wiederkehrenden und doch leicht variierten Konstellationen eines andauernd in sein Gegenteil umklappenden Vexierbilds, und verstörend natürlich auch, weil ich mir so leicht keinen Reim auf dieses Buch machen kann. Es wurde in den Dreißiger Jahren im Iran geschrieben, doch sein Autor ging mit dem Manuskript nach Indien und veröffentlichte dort 1936 in Bombay nicht mehr als 50 hektographierte Exemplare mit dem Eindruck:
“Druck und Vertrieb im Iran verboten.”

Der Ich-Erzähler ist ein völlig zurückgezogen lebender Mensch, seine einzige Tätigkeit das Bemalen von Federkästen mit dem immergleichen Motiv: einem Mädchen mit “schräggeschnittenen Turkmenenaugen”, das einem buckligen Alten eine blaue Winde überreicht. Ob er diese Szene jemals wirklich beobachtet hat oder ob sie nur seiner Einbildung entspringt, ob er sie geträumt hat, ob sie ein visionäres Bild von prägender Eindringlichkeit war, das er fortan obsessiv auf seine unbedeutenden Federkästen malen mußte, oder ob er schon immer diesem “lächerlichen Beruf” nachgegangen ist - all das bleibt mehr oder weniger im Ungewissen, weil die Gesetze von Raum und Zeit in dieser Erzählung aufgehoben sind wie im Traum.

“Als ich sie [gemeint ist das Mädchen] verlor, zog ich mich aus dem Bund der Menschen, der Dämonen, der Glücklichen zurück... Mein ganzes Leben spielte sich zwischen den vier Wänden meines Zimmers ab... Schon immer habe ich mein Leben zwischen diesen vier Wänden zugebracht.” Hat er, obwohl längst erwachsen und bereits älter und kränkelnd, noch immer versorgt von seiner Amme und verheiratet mit deren Tochter, die ihn aber niemals in seinem Zimmer, das er nicht verläßt, aufsucht, sondern zumindest in seiner Vorstellung mit jedem Vorbeikommenden herumhurt, sogar mit dem zahnlosen, verlotterten Alten, den er auf seine Federkästen malt, hat er also sein Zimmer wirklich nie verlassen, ist seine Suche nach dem Mädchen lediglich phantasiert, ebenso wie möglicherweise seine Frau? Oder sind das Mädchen und die Frau ein und dieselbe Person, ebenso wie er einmal in dem zahnlosen Alten sich selbst zu sehen glaubt? Wird er von seiner Frau tatsächlich ständig gedemütigt, und flieht er darum, unfähig sich gegen sie zur Wehr oder von ihr abzusetzen, in seine Tag- und Nachtträume? Oder geht er tatsächlich eines Nachts zu ihr, läßt sich in ihre Umarmung ziehen und versinkt in ihr bis zur Selbstauflösung, bis er sie in einem bestialischen Akt mit dem Fleischermesser zerstückelt? Oder ist auch das nur eine orgiastische Gewaltphantasie?

“Es gibt im Leben Wunden, die wie die Lepra, langsam, in der Einsamkeit an der Seele zehren. Diese Qualen kann man niemandem mitteilen. Denn die andern glauben an solche Leiden nicht”, heißt es ganz zu Anfang, und darum schreibt er vorsätzlich auch nicht für andere. “Ob mir nun die andern glauben oder nicht, ist mir völlig gleichgültig. Ich habe nur eine Angst: daß ich morgen sterben könnte, ohne mich selbst erkannt zu haben. Denn im Lauf meines Lebens habe ich erfahren müssen, daß ein verheerender Graben mich von den andern trennt. - Ich bin neugierig, ich möchte den Versuch wagen: Ich möchte sehen, ob wir uns besser kennenlernen können. Denn seitdem ich jede Verbindung zu den andern Menschen abgebrochen habe, möchte ich wissen, wer ich bin.”
Und so tritt er denn seine Reise in das eigene Innere an, die dem aufklärerischen Vorsatz des nosce te ipsum zum Trotz immer mehr eine phantasmagorische Reise ans Ende der (inneren) Nacht wird, rücksichtslos ebenso gegen alles, was sie aufhält, wie gegen sich selbst.
“[Mich] konnten weder die Moscheen mit der Stimme des Vorbeters noch die rituellen Waschungen, bei denen man immer mehr Auswurf herausspuckt, geschweige denn das Buckeln vor dem Allmächtigen, mit dem man sich noch dazu auf Arabisch unterhalten muß, in irgendeiner Weise beeindrucken.”
Nachdem das Hindernis des (Aber-)glaubens erst aus dem Weg geräumt ist, wird auch die heimliche Lust am eigenen Leiden und Gedemütigtwerden ebenso offen eingestanden wie ihr sadistisches Gegenteil.

“Ich kam zu einer Schlächterei, und dort sah ich einen alten Mann, der dem alten Trödler vor unserem Haus ähnlich war. Er hatte einen Schal um den Hals gebunden; in der Hand hielt er ein Messer. Mit geröteten Augen, so rot, als habe man ihm die Lider zerschnitten, starrte er mich an. Ich wollte ihm das Messer aus der Hand nehmen, da fiel sein Kopf ab und rollte auf den Boden. Von furchtbarer Angst überwältigt, ergriff ich die Flucht. Ich rannte durch die Gassen. Alle Menschen, die ich sah, waren so, wie sie dastanden, verdorrt. Ich fürchtete mich, zurückzublicken. Als ich zu dem Haus meines Schwiegervaters gelangte, sah ich den Bruder meiner Frau, den kleinen Bruder der Dirne, vor dem Haus auf der Treppe sitzen. Ich griff in die Tasche, holte zwei Fladen heraus und wollte sie ihm in die Hand legen. Doch kaum hatte ich ihn berührt, da fiel sein Kopf ab und rollte auf den Boden...
Am Ufer des Himmel standen dichte, gelbe Wolken, vermischt mit dem Tod. Sie lasteten mit ihrem Gewicht auf der ganzen Stadt.
Am Tod gemessen, scheinen mir Religion, Glaube, Überzeugung schwach und kindisch. - Nur der Tod lügt nicht! Seine Gegenwart vernichtet jeden Aberglauben.
Ich wünschte inständig, mir meine Kindheit in Erinnerung zu rufen. Aber sobald dieser Wunsch in Erfüllung ging, empfand ich dieselben Qualen, die ich schon damals ertragen mußte... die fortwährende Bedrohung durch den Tod, der alle Gedanken mit seinen Füßen zertritt, ohne auch nur die leiseste Hoffnung auf eine Rückkehr zu dulden! Es war schauderhaft.”

Der Roman heißt Buf-e Kur, “Die blinde Eule” und stammt von dem Teheraner Bankangestellten Sadeq Hedayat, der sich 1951 in Paris das Leben nahm. Er soll den Beginn der modernen iranischen Literatur markieren.

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