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Donnerstag, 1. Juli 2010
Der Entomologe
“Ich spreche natürlich von der Welt der großen Städte”, hielt Miller über sein Schreiben im Wendekreis des Krebses fest, “von der Welt der Männer und Frauen, denen die Maschine den letzten Tropfen Saft ausgepreßt hat.” Und wenig später, wir befinden uns im Jahr 1933, überfällt ihn die Vision einer neu heraufdämmernden Ära:
"The earth is moving out of its orbit, the axis has shifted; from the north the snow blows down in huge knife-blue drifts... A new day is dawning, a metallurgical day, when the earth shall clink with showers of bright yellow ore... at the periphery the light waves bend and the sun bleeds like a broken rectum. – More and more the world resembles an entomologist‘s dream.”
Nur wenige Jahre später sollte wirklich ein Entomologe, ein Käferbetrachter, seinen Einzug oder, genauer, seinen Einmarsch in Paris halten.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen Anfang September 1939 hatten, wie bekannt, die Westmächte England und Frankreich Hitlers Deutschem Reich den Krieg erklärt, ohne allerdings ernsthafte Kampfhandlungen aufzunehmen. Erst ein halbes Jahr später kam es zu einem militärischen Wettlauf zwischen Engländern und Deutschen um die Besetzung Norwegens, das die Wehrmacht binnen eines Monats zu ihren Gunsten entschied. Daraufhin befahl Hitler am 10. Mai 1940 den Angriff auf die Beneluxländer und Frankreich. Bei dem auf alliierter Seite für unmöglich gehaltenen deutschen Vorstoß durch die Ardennen („Les Ardennes sont impérmeables aux chars!“) führte auch ein schon im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Hauptmann seine Kompanie hinter den schnellen Panzerspitzen nach Westen. Am 23. Mai 1940 überschritt seine Infanterieeinheit die Grenze nach Luxemburg, zwei Tage später kampierten sie im belgischen Ardennenstädtchen Neufchâteau. “Die Stadt macht einen anarchischen Eindruck. Der größte Teil der Einwohner ist geflüchtet... Ich teilte Nachtstreifen zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein und unterrichtete die Mannschaft nochmals darüber, daß kein Grad der Zerstörung Übergriffe in Dingen des Eigentums rechtfertigen kann”, trug er in das Tagebuch ein, das er führte, so oft ihm der Vormarsch Zeit dazu ließ.
Einer seiner Offiziere hat später ergänzt, der Kompaniechef habe ihm damals eingeschärft: “Betreten Sie stets jedes Haus, als sei es Ihr eigenes, und denken Sie an die Möglichkeit, daß Sie in die gleiche Lage wie diese Unglücklichen kommen können.”
Am nächsten Tag passierten sie die Grenze zu Frankreich und erreichten Sedan, wo zwei Wochen vorher 60.000 Mann eines deutschen Armeekorps unter General Guderian auf einer Pontonbrücke die Maas überschritten hatten.
Das Ganze ist ein ungeheures Foyer des Todes, dessen Durchschreitung mich gewaltig erschütterte. In einem früheren Abschnitt meiner geistigen Entwicklung versenkte ich mich oftmals in Visionen einer völlig ausgestorbenen und menschenleeren Welt, und ich will nicht bestreiten, daß diese dunklen Träumereien mir Genuß bereiteten. Hier sehe ich die Idee verwirklicht und möchte glauben, daß, wenn auch die Soldaten fehlten, der Geist sehr bald gestört sein würde –
ich fühlte schon in diesen beiden Tagen, wie der Anblick der Vernichtung an seinen Angeln hob.”
cc) Wikipedia Mitte Juni, Paris war gerade von deutschen Truppen eingenommen worden, erreichte das Regiment des Hauptmanns das Dorf Montmirail in der Champagne, cirka hundert Kilometer östlich von Paris. “Montmirail ist das Schloß von Larochefoucauld, und es bedeutet für mich, zu dessen eiserner Ration seit langem auch die ‘Maximen‘ zählen, einen Akt der geistigen Dankbarkeit, zu erhalten, was zu erhalten ist. Daher ließ ich es gleich unter Bewachung stellen und begann mit der Aufräumung”, notierte der literarisch interessierte Infanteriehauptmann. Als der Abschluß des Waffenstillstands zwischen der Regierung Pétain und dem Deutschen Reich bekannt wurde, lag seine Kompanie in der geographischen Mitte Frankreichs, in Bourges.
“Das Haus, das ich bezogen habe, ist insofern angenehm, als es nur eine Gartenfront besitzt und schwer zu finden ist. Es liegt am Ufer der Yèvre, eines stillen und reich verzweigten Flüßchens, von dessen Grunde die Wasserpflanzen leuchten und das von überhängenden Bäumen beschattet ist. Vor der Veranda grünt ein Rasenplatz; er ist von dichten Büschen eingefaßt und gegen das Wasser durch eine Rampe von Schwertlilien geschirmt... In diesem stillen, wie von einer Wildnis eingerahmten Garten nehme ich mittags lesend ein Sonnenbad, und abends nach dem Essen befahre ich das Flüßchen, in dem Forellen spielen, mit dem Kanu.”
In dieser Idylle der Etappe kam er auch endlich dazu, seine unterwegs aufgesammelten Funde zu sortieren, die ihn vielleicht mehr als vieles andere erkennen ließen, daß er sich in einem fremden Land befand.
“Was mich betrifft, so lese ich manches davon auch an den Insekten ab, an ihren neuen Formen und an der Art, in der sich das Verhältnis der Gattungen verschiebt. Übrigens ordnete ich heute einige Prisen ein, die ich auf dem Vormarsch aufgriff.”
Moment! Da kämpfen auf einem riesigen Schlachtfeld, das von Rhein, Maas und Mosel bis an den Atlantik reicht, mehr als 5 Millionen Soldaten mit dem damals modernsten Vernichtungsgerät in einem verheerenden, bis dahin unvorstellbar rasant voranschreitenden Krieg, in dem in nur fünf Wochen mehr als 500.000 Soldaten fallen oder verwundet werden, da werden ganze Städte, wie Rotterdam, in Schutt und Asche gebombt mit Tausenden von zivilen Opfern, überall entlang der Vormarschstraßen herrschen Chaos und Vernichtung, stehen rauchende Trümmer, liegen verwesende tote Menschen und Tiere; und mittendrin sammelt ein Offizier auf dem Vormarsch Käfer und Schmetterlinge. Kann man sich das vorstellen? Ist das nicht zu grotesk und absurd, um wahr zu sein?
“Das Paradoxe solcher Geschäfte inmitten der Katastrophen ist mir nicht entgangen, doch fand ich es zugleich beruhigend – es verrät sich darin ein Vorrat an Stabilität, selbst der zivilisatorischen Verhältnisse. Außerdem habe ich seit 1914 im gefährlichen Raum zu arbeiten gelernt.” – Arbeiten. Meint er damit das “Handwerk des Krieges” oder das Käfersammeln? Leidet da jemand an einer posttraumatischen Belastungsstörung, oder ist er ein kaltschnäuziger Hund? Oder ist er tatsächlich so kaltblütig?
Persönlicher Mut bis zur Verwegenheit ist tatsächlich das Letzte, was man diesem Mann absprechen kann. Am Mittag seines 45. Geburtstags Ende März 1940 waren im Bereich seiner Kompanie, die noch am Westwall in Stellung lag, zwei Frontneulinge leichtsinnig aus der Deckung zum Rheinufer hinabgegangen und unter Feuer genommen worden. “Die beiden Artilleristen blieben auf der grünen Böschung liegen, die weithin sichtbar ist. Nachdem ich den Ort besichtigt hatte, beschloß ich, die beiden zu bergen... ich fühlte mich dazu aufgelegt.” Trotz heftigen Dauerbeschusses durch ein überschweres Maschinengewehr gelang es ihm, den einen von den beiden verletzt, aber noch lebend zu bergen. (Wenig später erhielt er zu seinen Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg für diesen mutigen Einsatz noch das Eiserne Kreuz verliehen. Auf seine Handlungen und Haltungen, die vielleicht noch sehr viel mehr Mut verlangten, komme ich später zu sprechen.) Immer wieder gab er in seinen Schriften der Überzeugung, die er nicht zuletzt in den Menschenmassen verschlingenden Materialschlachten des I. Weltkriegs gewonnen hatte, Ausdruck, daß auch der Einzelne nicht nur Erleidender eines Schicksals ist, sondern durch seine Haltung, seine Handlungen und vor allem durch seine geistige Einstellung die Verhältnisse um sich selbst mitgestaltet. Verwundet wurde er oft genug, allein im I. Weltkrieg elfmal, aber trotzdem (oder gerade deswegen) glaubte er offenbar an so etwas wie seine Aura persönlicher Unbesiegbarkeit, so lange er die entsprechende Haltung bewahrte. “Lehrreich” fand er den Vorfall, als ein französischer Soldat “im Priesterwalde, 1917 im Morgennebel, die Handgranate nach mir warf. Das bestärkte mich in dem Entschluß, mich niemals zu ergeben, dem ich bereits im Weltkrieg treu geblieben bin. In jeder Waffenstreckung liegt auch ein unverbesserlicher Akt, von dem die Urkraft des Kämpfers betroffen wird.”
Und noch im Frieden hielt er im Tagebuch für sich fest, es sei “sehr wichtig, daß man bei verdächtigen Renkontres, etwa wenn man im Wald angesprochen wird, die Sicherheit bewahrt. In unserer Eigenschaft als Menschen verfügen wir über Hoheitssiegel, die schwer zu brechen sind, wenn wir sie nicht selbst beschädigen... Man muß nur wissen, wie Marius, daß man unverletzlich ist.”
Der Zwischenfall am Rhein (und die anschließende Auszeichnung) machte ihm “übrigens die Spanne besonders deutlich, die für mich zwischen dem Ersten und diesem Zweiten Weltkrieg liegt. Damals die hohen Orden für die Erlegung von Gegnern, heute das Bändchen für einen Rettungsgang”, schrieb er am 23.6.40 ins Tagebuch. “Das Geheimnisvolle an solchem Wechsel liegt darin, daß er Veränderungen in unserem Innern entspricht - wir bilden uns die Welt, und was wir erleben, ist nicht dem Zufall untertan. Die Dinge werden durch unseren Zustand angezogen und ausgewählt: die Welt ist so, wie wir beschaffen sind. Jeder von uns vermag also die Welt zu ändern – das ist die ungeheure Bedeutung, die den Menschen verliehen ist. Und daher ist es auch so wichtig, daß wir an uns arbeiten.”
Der Appell klingt wie eine fast magische Beschwörung, vor allem wenn man weiß, daß der gleiche Mann eine Studie vorgelegt hat, in der er, wie Henry Miller oder die Futuristen, das 20. Jahrhundert als eine Epoche der Maschinisierung des gesamten Lebens zeichnete, die den Menschen weitgehend entindividualisiere. (Der Völkische Beobachter geiferte in seiner Rezension vom 23.10.1932, der Autor gerate allmählich in die “Sphäre der Kopfschüsse”.) Nichtsdestotrotz hat er den Appell, an sich zu arbeiten, immer wieder auch an sich selbst gerichtet, und in wesentlichen Dingen war er längst nicht mehr derselbe Mann, der wie Millionen andere voller Abenteuerlust freiwillig in den Ersten Weltkrieg gezogen war. Den Zweiten hat er niedergedrückt und voller Befürchtungen kommen gesehen. “Alle Zeichen deuten auf Krieg in kurzer Zeit”, notierte er ein halbes Jahr vor dem Überfall auf Polen und hielt danach oft genug Träume (von seiner eigenen Hinrichtung etwa) und Stimmungen in seinem Tagebuch fest, die deutlich genug von Sorge und Gedrücktheit bis hin zur Depression künden. Sein Tagebuch bleibt ihm “im totalen Staat das letzte mögliche Gespräch”, wie er später im Vorwort festhielt. “Das sind Notizen auf der Fahrt durch Meere, in denen der Sog des Malstroms fühlbar wird und Ungeheuer auftauchen.” Ausgerechnet die Wehrmacht scheint ihm fast als so etwas wie eine Zuflucht vor den Ungeheuern vorgekommen zu sein, und er mag sie für sich paradoxerweise als so etwas wie das ruhige Auge im Sturm empfunden haben. Jedenfalls solange der “Sitzkrieg” am Westwall noch nicht in Bewegung geraten war. “Mein Ehrgeiz, soweit er sich auf militärische Dinge richtet, ist heute erloschen; und damit lebe ich in einem Zustand der Selbstgenügsamkeit”, schrieb er im März 1940 einem Freund aus dem Gefechtsstand, seiner “Auwaldhütte” am Altrhein bei Iffezheim. Und ohne Rücksicht auf die Zensur der Feldpost fuhr er fort:
“Ich fechte aus einem Bedürfnis nach Sauberkeit. Wo gefochten wird, darf man noch hoffen, am wenigsten jenen Menschen zu begegnen, deren Nähe so widrig ist. Ich habe schon das Wort ‘deutsch‘ aus allen meinen Büchern gestrichen, damit ich es nicht mit jenen teilen muß.”

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Da Sie Namen
nicht nennen, muß ich annehmen, Sie möchten Ihre Leser ein wenig rätseln lassen. So denn – um Ernst Jünger dürfte es sich in Ihrer Beschreibung handeln.

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Ende März
Nebenbei, Ende März 1940, als dieser Mann 45 wurde, wurde ich geboren. Trotzdem eine sehr interessante Geschichte! Mich interessiert ob dieser Hauptmann je etwas geschrieben hat über eine "Rechtfertigung" des Angriffes auf die neutralen Benelux-Staaten am 10. Mai 1940.
Ich warte gespannt auf den nächsten Beitrag in dieser Serie!
Gruß, T.

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@M. Stubenzweig: Den Namen hatte ich vorläufig nicht mit Quizzabsichten unterschlagen, sondern weil ich Lesern, die von Jünger kaum mehr als den Namen und die lange gängigen Aburteilungen kennen, zunächst Gelegenheit geben wollte, sich aus den Tagebuchauszügen selbst ein nicht vorbelastetes Bild ihres Verfassers zu machen.

@terra40: Freut mich, daß die Geschichte Ihr Interesse gefunden hat und Sie gern eine Fortsetzung läsen. Dem will ich, sobald ich Zeit dazu finde, gern nachkommen.
Um Ihre Frage zu beantworten, kann ich nur sagen, daß ich in den Tagebüchern bislang keine expliziten Gedanken gefunden habe, die sich als "Rechtfertigung" des Einmarsches lesen ließen. Es würde mich auch eher überraschen, wenn ich noch eine finden sollte.
Unter dem Datum des 10. Mai 1940 heißt es: "In der Nacht Träume von Geschwadern, die über das Haus hinwegzogen. Am Morgen, auf dem Schießstand erfuhr ich dann, daß es wirklich in der Luft so rege gewesen war. Es handelte sich um die Transporte nach Holland und Belgien. Damit tritt wohl der Krieg in seine Krisis ein, ohne daß sich indessen seine Dauer schon schätzen läßt." Eine politische Bewertung erfolgt auch hier nicht. Das Medizinerwort Krisis, abgesetzt von Krise, faßt den Krieg vielmehr im Bild einer schweren Krankheit.
Dann muß er sich von seiner Einquartierung verabschieden, weil der Einsatzbefehl ergangen ist. "Nur ungern scheiden wir von Friedrichstal, mit dessen Bewohnern wir uns recht befreundeteten. Ihre Herkunft führt sich auf Hugenotten von Wallonenblut zurück... Sie brachten um 1720 die Kenntnis des Tabakanbaues mit... Freilich erfordert dieser Anbau auch viel Sorgfalt und Mühe, und wie ein Sprichwort dieser Gegend sagt, kommen die Friedrichstaler nur kniend und einzig mit dem Kopf im Bett zum Schlaf."
Zwei Wochen später, in Belgien, schildert er einmal sein Quartier: "Besitzer war ein dicker, gemütlicher Mann, etwa dreißigjährig, von flämischem Typ. Wenn es nur solche gäbe, hätte man keine Kriege, doch ununterbrochene Zechgelage auf dieser Welt."
Sie sehen, von Feindseligkeit gegen die Menschen, durch deren Länder ihn der Krieg führte, keine Spur. Vielmehr Sympathie und Anerkennung, wie Jünger um diese Zeit überhaupt längst nicht mehr in nationalen Kategorien als Gegensätzen oder gar Feindbildern dachte. Das sieht man wenig später an den Aufzeichnungen aus der Zeit seiner Stationierung in Paris noch viel deutlicher.

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Und ich freue mich,
daß Sie dieser wohl nach wie vor gültigen Charakterisierung In Stahlgewittern entgegenwirken. Zumal ich immer Zweifel daran hatte, daß die meisten (Be-)Urteiler das Buch je gelesen haben, geschweige denn ein anderes von ihm. Manch einen Strauß hatte ich früher deswegen auszufechten ...

Siind Sie auch außerhalb Ihres Blogs erreichbar? Ich kann leider keine eMail-Adresse finden.

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Wenn Sie mir schreiben möchten,
können Sie das sehr gern an die folgende Adresse tun: ulfur.grai [Klammeraffe] gmx [Punkt] net.

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