Gegen die rissige, blättrige Borke der Bäume steht auch hier die Betonglätte der Stadt, mit einem Unterschied: Überall, selbst mitten im Zentrum öffnen sich immer wieder Sichtachsen, die den Blick freigeben auf eine völlig ungezähmte Natur, auf den eisig grünblau anrollenden Nordatlantik, auf grobstollig zerklüftete Lavafelder, kaum mehr als 1000 Jahre alt, auf schnee- und eisgepanzerte Berge, auf nicht von Menschenhand Geschaffenes. Das Andere von uns, die Natur, ist allgegenwärtig und nah. Besonders unter diesen winterlichen Verhältnissen läßt sie die ausgesetzte kleine Stadt am Sund trotz emsiger menschlicher Bautätigkeit noch viel kleiner und verletzlicher aussehen. Die Natur in Reichweite da draußen läßt dich immer wieder unterschwellig spüren, daß ihre Kräfte jederzeit ausreichen würden, das Leben hier zum Erliegen zu bringen.
‟Es ist höchst wahrscheinlich, daß der Rest demnächst noch von sich hören läßt”, erklärte der führende isländische Vulkanologe neulich in einem Vortrag. Ein in seiner Art vergleichbarer kleinerer Ausbruch in der jüngeren Vergangenheit sei zehn Jahre lang nicht zur Ruhe gekommen. Der ‟Muttervulkan” Bárðarbunga liegt ein paar Hundert Kilometer von Reykjavík entfernt unter dem Eis des Vatnajökull, aber was heißt das schon? Alle Berge, alles Land hier ist vulkanischen Ursprungs. Die Esja ist alt und erloschen, Vífilsfell erhob sich in der letzten Eiszeit, auf der Hellisheiði gleich vor der Stadt überzeugte ein Vulkanausbruch die Menschen erst vor 1000 Jahren davon, daß es vielleicht doch besser sei, sich christlich taufen zu lassen, und an ebendieser Stelle zapft man bis heute geothermische Energie aus der Lava. Ebenso gilt das Vulkansystem in Krísuvík auf der Halbinsel Reykjanes südwestlich der Stadt als noch aktiv. An der Oberfläche ist heute alles ruhig, aber diese Berge sind noch nicht von Jahrmillionen der Erosion abgeschliffen worden, sie sind noch rauh, kantig, schroff; man sieht ihnen die Kraft noch an, die in ihnen schlummert. Sie strahlt bis in die Stadt hinein.
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Ohzora ni / nobi katamukeru / fuyugi kana
Under the wide open sky
A winter tree is spreading
And leaning to one side
(Takahama Kyoshi, 1874-1959)
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Im lieblichen Holland hatte ich doch vergessen, was wirkliches Sauwetter bedeutet. Island hat es mir schnell wieder gezeigt. Wind aus Südost fiel heute übers Meer in das stille Frostwetter ein und schob schwere Wolken vor sich her, aus denen erst Schnee fiel, dann Schneeregen, dann Hagel, dann Regen, die Temperatur sprang auf +5°, das Eis auf den Straßen verflüssigte sich so schnell, daß man dabei zusehen und nasse Füße bekommen konnte, der Wind wuchs zu Sturm an und schüttelte den Bäumen Eis und Schnee von den gepeitschten Ästen, die bogen sich, knarrten, ächzten, der Sturm jaulte um die Hausecken, Wasser fiel von oben, flog von der Seite an, floß in breiten Bächen die Straßen hinab, auf denen das Eis längst zu einem braunen Brei geschmolzen war.
Jemanden mit offenen Armen zu empfangen, sieht irgendwie anders aus.
‟Der Sand kriecht nicht durchs Stundenglas, Feuchtigkeit ist eingedrungen,
das Glas beschlagen. Den Gedanken ist die Atmosphäre zu schwer,
die Zeit steht still, der Himmel ist violett und es schneit, schneit auf heißen Sand.
Es schien mir, ich hörte Raben, schwarze Federn mit Nachricht aus den Bergen,
schwarze Schwingen mit leichtem Schlag, wirbeln den Sturm auf.”
(Gabriela Friðriksdóttir: Crepusculum, 2011)
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Aufwachen: Im Rechteck des Fensterrahmens unvertraute Schattenrisse dünner, grotesk gewinkelter Äste, schwarz auf weiß wie in einem japanischen Holzschnitt. Weiße Punkte fallen langsam durchs Bild: Schneeflocken. Sie holen ein Erinnerungsbild herauf: Wie das Flugzeug gestern abend lange so dicht über einer grauen Wolkensteppdecke in die heraufziehende Dämmerung schwebte, daß die Flügelspitzen manchmal durch die Wattebäusche schlitzten. Schweben, das richtige Wort für den trügenden Eindruck. Im Bad dann der fast vergessene, aber gleich wieder vertraute Schwefelgeruch aus der Warmwasserleitung.
Auch draußen hat sich äußerlich so gut wie nichts verändert: die blasse, tiefstehende Wintersonne, die ein zaghaftes, aprikosenfarbenes Licht auf Zweige und Äste legt (es gibt also Hoffnung), noch immer die dicken Eispanzer auf den Gehsteigen, über die man halsbrecherisch rutscht, tastet, schlindert, die Innenstadt noch immer so winterlich leise und schön verschlafen (auch wenn ein paar Touristen mehr herumirren als früher, besonders Asiaten auf der Suche nach Nordlicht), am alten Hafen tatsächlich immer noch derselbe, unverwechselbare Geruch, und natürlich immer noch so unfaßbar nah und klar der Bergstock jenseits des Sunds. – ‟How many years can a mountain exist, before it is washed in the sea?”
Die isländische Künstlerin Gabriela Friðriksdóttir steht am Ufer des Ozeans uns sieht schon weiter:
‟Bei Flut wirft die Welle flüchtig eine alte Skizze hin vom Berg, / der der Sand einmal war, Erinnerung an eine lange vergangene Landschaft.”
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Warum nicht gleich heute? Es war ein sehr schön sonniger Wintersonntag, der gerade in einem spektakulären Sonnenuntergang über der Nordsee ausglüht. Die Luft draußen riecht leicht angeräuchert, wie nach Kaminfeuer.
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Unorthodoxe Dickschädel, das müssen ja schon die ersten Menschen gewesen sein, die sich unter den harten Bedingungen des frühen Mittelalters entschlossen, ausgerechnet ins kalte Island auszuwandern. Die Isländersagas erzählen bekanntlich mit Vorliebe von solchen Dickschädeln. Und Eigensinnigkeit wird in Island mit einem nachsichtigen bis spitzbübischen Grinsen bis heute als nationale Charaktereigenschaft angesehen. Sie hat die Isländer immer wieder befähigt und bewogen, Dinge ganz anders anzugehen, als man von ihnen erwartete oder es ihnen vorschreiben wollte.
Jüngstes Beispiel war der Zusammenbruch der isländischen Banken in der Finanzkrise 2008. Damals lag das ganze Land am Boden, die Volkswirtschaft drohte zu kollabieren, und wie immer in solchen günstigen Lagen traten die Neoliberalen von IWF, Weltbank und EU, die notorisch bekannte Troika, in Köln auch bekannt unter dem Namen “Närrisches Dreigestirn” oder “Die Drei von der Bankstelle” (sorry), sogleich mit ihren selbstlosen gutgemeinten Ratschlägen auf den Plan und verschrieben mit der gleichen nicht lernfähigen Dummheit wie Ärzte in früheren Jahrhunderten, der Patient müsse erst einmal kräftig zur Ader gelassen werden.
Der isländische Patient aber war eben ein Sturkopf und tat so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was das international erfahrene Ärzteteam verordnen wollte. Mit dem bekannten Resultat, daß sich die isländische Volkswirtschaft sehr viel schneller erholt hat, als ihr je ein Experte damals zugetraut hätte. Sie wuchs im letzten Jahr um 3%, die Arbeitslosigkeit liegt bei vergleichsweise moderaten 5%.
Eine, wenn nicht die wichtigste Maßnahme der Isländer bestand darin, ihre zuvor privatisierten und durch Spekulationsgeschäfte marode gewordenen Banken eben nicht zu retten, sondern sie allesamt bankrott gehen zu lassen. Und heute? Heute geht sogar ein erzkonservativer und -marktliberaler Sender wie Fox News hin und befragt den Präsidenten Islands auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, wie, um alles in der Welt, diese erstaunlichen Isländer denn dieses exzeptionelle Wunder hinbekommen hätten.
Das Erste, was Ólafur Ragnar den Amerikanern erklärt, ist, daß er nie verstanden habe, warum Banken die heiligen Kühe (eigtl. Kirchen) der modernen Wirtschaft seien. “Wir schafften eine ziemlich bemerkenswerte Erholung, indem wir entgegen den etablierten orthodoxen Ansichten vorgingen, die in den USA und Europa vorherrschen.” Peng! Satte präsidiale Ohrfeige von einem Zwergstaat für die führenden ökonomischen Weltmächte.
Und gleich noch eine hinterher an die Adresse ihrer doktrinären “Wirtschaftsweisen” und zweier europäischer Nachbarländer Islands, an Großbritannien und die Niederlande: “Diese Banken waren Privatunternehmen, die ihre Vorstände und Aktienbesitzer belohnten. Warum sollte, als sie scheiterten, der Steuerzahler den Preis dafür bezahlen und die Lasten tragen?”
Das war natürlich ein Statement in Sachen Icesave, der kollabierten isländischen Bank mit Ablegern in den beiden Ländern. Die Isländer weigerten sich eben mit Ólafur Ragnars Argument seit 2008 und bis heute, einen Rechtsanspruch der ausländischen Anleger, die beim Zusammenbruch der Bank ihr Vermögen verloren hätten, wenn ihre eigenen Regierungen nicht eingesprungen wären, auf Entschädigung anzuerkennen.
Die englische und die niederländische Regierung versuchten nahezu alles, um sich das Geld von den isländischen Steuerzahlern zurückzuholen, doch die stimmten in Referenden, die übrigens Ólafur Ragnar Grímsson auf Druck der Straße initiiert hat, zweimal entschieden dagegen.
Holland und England drohten und erpreßten vereint, ihr Veto gegen einen damals gewünschten Beitritt Islands zur EU einzulegen. “Wir werden die Isländer so oder so wissen lassen, daß wir unser Geld zurückwollen, und wir werden es auch kriegen”, schäumte der niederländische Finanzminister Wouter Bos öffentlich im Fernsehen, und der damalige englische Premier Gordon Brown brachte sogar Antiterrorgesetze gegen Island in Anschlag. Die isländischen Dickköpfe blieben stur. Daraufhin verklagten Großbritannien und die Niederlande Island schließlich vor dem EFTA-Gerichtshof in Luxemburg. Der hat nun vorgestern in seinem Urteil Island von allen Anklagepunkten freigesprochen. Wie titelte die taz: “Reykjavíks Sturheit zahlt sich aus”. “London und Den Haag müssen nun die Gelder abschreiben [und] erleiden darüber hinaus einen schweren Prestigeverlust.” Nach etlichen verlorenen Kabeljaukriegen kann sich das stolze Albion (noch dazu im Bündnis mit der Wirtschaftsmacht der Vereinigten Niederlande) einmal mehr nicht gegen das kleine Island durchsetzen.
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Das Unwetter konnte die Isländer aber nicht davon abhalten, ihre Wahllokale aufzusuchen, denn ihr Präsident hatte ihnen durch sein Veto gegen einen Regierungsbeschluß zum zweiten Mal die Gelegenheit eröffnet, in einem Referendum über die von Großbritannien und den Niederlanden geforderte Rückzahlung von annähernd 4 Milliarden Euro Schulden abzustimmen, die die 2008 zusammengebrochenen isländischen Banken im Ausland hinterlassen haben. Es war den Isländern offenbar sehr wichtig, zu dieser Frage ihre Stimme abzugeben; die Wahlbeteiligung lag bei über 75%. Auch wenn die inzwischen ausgehandelten Bedingungen für eine Rückzahlung erheblich günstiger waren als zu Beginn, stimmten fast 60% des Wahlvolks erneut mit einem glasklaren Nein.
Der kundige Nordeuropa-Korrespondent der Frankfurter Rundschau, Hans Gamillschegg, kommentiert das heute so:
“Ein mutiges Volk, diese Isländer! Zum zweiten Mal schon haben sie nun allen Sturmwarnungen getrotzt und ein Abkommen zur Schuldentilgung verworfen, das sie für ungerecht halten – ungeachtet der Unkenrufe, dass sie dies eine lange Periode der Ungewissheit, möglicherweise viel Geld und letztlich die EU-Mitgliedschaft kosten werde. Das ist demokratisch erfrischend.
Dass nicht die Steuerzahler für das Versagen der Banken und die Gier der von hohen Zinsen gelockten Kunden aufkommen sollen, sehen sicher viele Menschen in anderen Ländern ebenso. Doch sie werden nicht gefragt. Es ist das Verdienst des isländischen Präsidenten Grimsson, das Referendum erzwungen zu haben.”
"Bei dem Icesave-Streit geht es nicht primär um einen Streit zwischen Niederlande und Großbritannien einerseits und Island andererseits. Es geht um einen Konflikt zwischen öffentlichen Haushalten und privaten Gläubigerbanken. Das europaweit verbreitete Prinzip 'Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste' muss endlich durchbrochen werden.
Die meisten europäischen Staaten haben die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die öffentlichen Haushalte abgewälzt. Diese stehen nun unter massivem Konsolidierungsdruck, meist auf Kosten sozialer Errungenschaften. Es ist gut, dass die älteste kontinuierliche Demokratie Europas diese Frage per Volksabstimmung geklärt hat. Dem sollten die anderen europäischen Länder folgen."
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Ob man die Finanzkrisen in Griechenland und Island miteinander vergleichen kann, weiß ich nicht; aber während derzeit alle Welt auf Griechenland blickt, sieht es in Island, das momentan mehr durch echte Asche von sich reden macht, so aus, als wollten Eva Joly und Sonderermittler Ólafur Hauksson Ernst machen mit ihrer Ankündigung, die wahren Schuldigen am Zusammenbruch der isländischen Banken dingfest zu machen und ihrer Verurteilung zuzuführen.
Vor kurzem nahm die isländische Polizei “zwei ehemalige Direktoren der pleitegegangenen Kaupthing-Bank fest, denen Unterschlagung, Dokumentenfälschung und die Manipulation von Aktienkursen durch Scheingeschäfte vorgeworfen wird. Ihnen drohen Gefängnisstrafen von bis zu acht Jahren. Den ersten Verhaftungen werden wohl noch andere folgen: Sowohl weitere Kaupthing-Chefs, die Leiter der beiden anderen Pleitebanken Landsbanki und Glitnir und mehrere Großindustrielle stehen auf Haukssons schwarzer Liste... Drei Minister, drei Zentralbankchefs und der Leiter der Finanzaufsicht riskieren, vor ein Sondergericht gestellt zu werden”, berichtete Hannes Gamillschegg letzen Samstag in der Stuttgarter Zeitung.
Gestern reichten die Konkursverwalter der Glitnir-Bank beim New York State Supreme Court offiziell Klage wegen Betrugs im großen Stil gegen den Mitbegründer und ehemaligen Hauptanteilseigner Jón Ásgeir Jóhannesson, seine Frau Ingibjörg Pálmadóttir, seinen ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Lárus Welding und weitere leitende Köpfe der Bank ein. Ihnen wird vorgeworfen, mittels ungedeckter Kredite nicht weniger als 2 Milliarden Dollar durch die Bank in die eigenen Taschen geschleust zu haben. Gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers wurde wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht, Verschleierung und Fahrlässigkeit ebenfalls Klage erhoben. (Das New Yorker Gericht ist zuständig, weil Glitnir das Geld damals teilweise durch den Verkauf von Schuldverschreibungen in den USA beschafft hatte.) Am gleichen Tag erwirkten die Konkursverwalter vor einem Gericht in London, wo Jón Ásgeir und etliche weitere der isländischen Wirtschaftskriminellen nach wie vor ein recht komfortables Leben führen, eine Anordnung, daß sein weltweit verstreutes Vermögen überall eingefroren werden soll.
Und ebenfalls gestern schrieb Interpol auf Antrag des isländischen Sonderermittlers mit internationalem Haftbefehl den ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden der Kaupþing-Bank, Sigurður Einarsson, wegen Aktenfälschung und Betrugs zur Fahndung und Festnahme aus. Der erklärte an seinem Londoner Wohnsitz, er denke nicht daran, der Vorladung nach Island Folge zu leisten, und vertraue auf die Respektierung seiner Menschenrechte in Großbritannien. - Of all places. Man sollte doch meinen, daß die wegen des Icesave-Skandals auf Isländer so wütenden Briten ihn als erste hoppsnehmen.
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Einige sehr plastische Aufnahmen von dem ganzen Spektakel der letzten Wochen sind wieder einmal bei boston.com zusammengetragen.
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